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Lebe wohl
ESSAYS
ZU INDIVIDUUM, LEBEN UND GESELLSCHAFT

 
Tyrannei der Inklusion (Teil 2)
Tyrannei der Inklusion (Teil 1)
Altruistische Entsolidarisierung
Lob des Dilettanten
Zombies kommen ...
Anderssehen
Back to Uterus
Prometheus´ Reue
Unseren Wert gib uns heute
Das Individuum ist müde
Im Kokon
»Krise« ist ein schönes Wort
Alles Könige
»Trainergesellschaft«
Kinder des Olymps
EXIT oder Leben und Sterben ...
"Mensch, wie alt bist Du?"

 

Alles Könige
Von der Sorge der Gesellschaft: Das bekümmerte Individuum
von Jürgen Mick

Als Stichtag für das "Individuum" böte sich der 24. Februar 1500 an. Kaiser Karl V. soll der erste "Mensch" (wenn auch Monarch) gewesen sein, der just an jenem Februartag alljährlich seinen Geburt feiern ließ, woraus sich die allgemeine Sitte den Geburtstag eines Menschen als Festtag zu begehen ableitete. Zuerst glorifizierte man das auf die Welt kommen der Fürsten und Monarchen, später dann sollte jedem Erdenbürger diese Ehre zu Teil werden. Die Wirkung dieser Anmaßung, sich den Anspruch zu sichern, der einst nur Gottes Sohn zustand, ist nicht zu unterschätzen. Zuerst feierte man in den protestantischen Häusern den höchsten Ehrentag im Leben eines Individuums, während die Katholische Kirche sich noch eisern dagegen verwehrte und alternativ eine bescheidene Feier der Namenstage anbot. Auf diese Weise ließe sich wenigstens die Rückbindung auf die Heiligen als Namenspatrone erhalten. Da der Vorfall seit dem 19. Jahrhundert dennoch auch in katholischen Gegenden zur allgemeinen Sitte avancierte, lässt er sich als ein Symptom einer allgemeinen gesteigerten Ich-Bezogenheit ausweisen. "ICH habe heute Geburtstag!", lautet fortan die jährlich zu erneuernde Frohe Botschaft. (Da blieb nichts anderes, als Weihnachten zu "pimpen", sollte es nicht durch die Inflation individueller Festtage ins Hintertreffen geraten.)

Wir werden Augenzeugen einer stillen Revolution, die das Potential haben sollte das Vokabular das einhergeht mit der Erfindung des "Menschen" - nicht zu revidieren, - aber zumindest unbrauchbar zu machen; die das "Individuum" gesellschaftlich als historische Spielerei hinter sich lassen könnte. Was hier und heute vor unseren Augen verschwindet besitzt schwer vorstellbare Dimension. Es verflüssigt sich eine Welt, die man grob als analoge und technische charakterisieren kann, was vor allem die kommunikative Verfassung der Individuen derart prägend umtreibt, dass man den Vorgang auch als das von Foucault in weiser Voraussicht antizipierte "Verschwinden des Menschen" bezeichnen kann. Eine Ära, auf deren Fahnen von "Freiheit", "Unabhängigkeit", "Individualität", "Selbstbestimmung" und "Solidarität" geschrieben stand, lässt so unmerklich ihr Blut, dass wir kaum wahrnehmen, wie sie verblasst. Ihnen wird zur Last gelegt: Ihre Paradigmen sind des ideellen Charakters wegen unglaubwürdig geworden. Vielleicht haben sie eben nur ihre maximale Strapazierfähigkeit ausgereizt. Wir führen lapidar Begriffe im Mund, die eine lange Reise hinter sich haben. "Geistiges Eigentum", ein Begriff, der eine Erfindung der Aufklärung ist, "Individualität" und "Selbstbestimmung" Erfindungen der Renaissance. Nicht selten werden sie mutwillig, oft auch unfreiwillig, instrumentalisiert. Kaum jemand ist noch in der Lage ihre ursprüngliche Intention nachzuempfinden. Sie gehören leider zum "Gerede", wie Heidegger es vielleicht nennen würde. Es wäre an der Zeit neue Begriffe zu finden, ehe die alten als vollkommen entleerte Vokabeln unnötig Unruhe stiften.

So werden alsbald "Berufe" der Vergangenheit angehören, wie es bereits Gilden und Zünfte längst tun. Der Unternehmer, der Selbständige und die Freien (Berufe) sind nur noch Legende und für die kommende Generation emotional kaum mehr als Verlust nachzuempfinden. Fertigkeiten werden Resort übergreifend kompatibel und der Einzelne damit gesellschaftlich multifunktional vermittelbar. Das Ende der "Arbeitslosigkeit" (auch einer dieser Begriffe)! Wer wollte das nicht begrüßen? Nur jemand der "Individualität" als Wert an sich begreift. Nur derjenige, der sich selbst mit seinen Fähigkeiten und seinem Eigentum zur Deckung bringt und zudem die Paradoxie unsichtbar zu halten vermag, sich als "Mensch" und gleichzeitig als einzigartig zu begreifen.

Um uns den Trennungsschmerz angenehmer zu gestalten firmiert sich auf breiter Front ein "Feldzug zur progressiven Entlastung" (Sloterdijk, 33), wie Sloterdijk es nennen würde. Mit sanftem Druck - dafür umso umfassender und integrativer - schnürt sich das Paket der individuellen Fürsorge immer enger. Es reduziert unsere Beteiligung an unserem Wohl auf eine letzte wesentliche, individuelle Tätigkeit: das Auswählen. Das Prinzip Supermarkt wird quasi sukzessive unserer gesamten Lebenszeit oktroyiert. Das Kümmern wird dabei zum integrierten Bestandteil eines jeden professionellen Gewerbes. Man erkennt aller Orten zuerst an den jeweiligen vorausgehenden Menüführungen. Immer stehen Tarife und Konditionen zur Auswahl, Programme und Formulare für jeden kategorisierbaren Typ. Statistiken, Daten und Parameter sind für jede Orientierung abrufbar. Wie Suppentüten und Marmeladengläser sind Qualifikationen kategorisierbar, stehen Studienfächer und ganze Karrieren aufrufbar parat. Unsere Versicherer und Kassenwarte aller Sparten werden dafür Sorge tragen, dass alle unsere Regungen, unser Begehren und Leid, mittels Sensoren unmittelbar ihren Datenbanken in die Hände fallen, um diese Angebotspalette forciert auszubauen. Lockende Angebote der Vergünstigung machen dann, dass Sicherheit, Befriedigung und lückenlose Beschäftigung gegen Preisgabe jeder Selbstbestimmtheit über uns kommen werden. Der Preis wird von uns bereitwillig entrichtet werden. Früher hätte man dazu gesagt: Sie haben ihre "Seele" (auch so ein Begriff!) verkauft. Rundum Versorgung von der Befruchtung bis zum Urnendeckel erscheint, wenn nicht erstrebenswert, so zumindest akzeptabel. Man kann damit leben. Es nährt die Utopie, mit der die Moderne angetreten war: "sich vollständig dem Joch der Umstände zu entziehen." (Gehlen/Sloterdijk, 33) Der "Deal" scheint in greifbare Nähe zu rücken! Und er wird unter der fürsorglichen Zusprache hypnotisierender Ablenkungsmedien eingefädelt, während wir beflissen beschäftigt sind mit der Organisation eines völlig kontingenten Alltags. Schon Paul A. Valery notierte: "Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht." (Valery, 548)

Wir können davon ausgehen, dass das Konglomerat aus Wohlfühlversprechen und Ablasshandel - möglicherweise aus reiner Bequemlichkeit - stillschweigend darauf abzielt unser "Leben" in die Obhut von Organisationen zu überführen. In freundlicher Übernahme vereinnahmen sich die Wohlfahrtssysteme unsere psychisch-physische Wirklichkeit und aus dem autonomen wird unter der Hand das bekümmerte "Individuum". Weil in allem was wir taten Entlastung das Versprechen war, lässt man, quasi aus Vernunftgründen zu, Eigentätigkeit einzuschränken und zurechtzustutzen auf die Auswahl vorgefertigter "Menüs". (Nicht von ungefähr einer der zentralen Begriffe der Informatik.) Das bekümmerte "Individuum" fühlt sich mittlerweile geschmeichelt, wenn es von Optionen hofiert wird, aus denen es nur noch wählen darf! Wenn auch die Alternativen keinen Unterschied mehr machen. Die Unterscheidung macht den Unterschied! Und nicht länger der Inhalt. Es ist nicht einmal notwendig, dass die Wahl auf eine wie auch immer geartete "Realität" durchgreift. Die Wahl an sich ist dem homo selectionis entscheidend. Im Nebeneffekt verschwimmen hinter dem Wahlmodus zunehmend die Wertigkeiten der jeweiligen Entscheidungsvorgänge. Die Inhalte werden egalisiert unter dem Einfluss der Stresshormone während der Entscheidungsfindung. So kann die Suche des neuen Flatrate-Tarifs länger dauern, als die Entscheidung zur Bundestagswahl, darf die Partnersuche weniger Zeit in Anspruch nehmen, als die Wahl des nächsten Automodells.

Der Umgriff der "Sorge der Gesellschaft" für ihre Gesellschafter wird mangels Gespür für das obsolet werden der Begrifflichkeit ungehemmt voran schreiten. Man sollte nicht unterschlagen, dass an der Versorgtheit der Gesellschafter zahlreiche Gesellschaftssysteme parasitieren. Umso beunruhigender wirkt dann die Erkenntnis, dass "im System der wohlwollenden Bevormundung ein Augenblick der Emanzipation niemals vorgesehen ist." (Sloterdijk, 30f) Man male sich zudem aus, was geschieht, wenn man erst einmal derart sozialisiert sein wird, dass für jedes Übel wohlfeil "hinreichend angenehme Kompensationen" geboten werden. Es wird irgendwann niemand mehr auf die Idee kommen, dass er sich ernsthaft in Gefährdung befinden könnte. Man hätte als Selbstverständlichkeit vor Augen, ein Leben ohne Gefahren und Risiken zu generieren und die vollkommene Befreiung vom Joch des Daseins könnte gelingen. In "Frieden", könnte man sagen, dürften wir dann endlich in der Wirklichkeit leben, ohne von ihr belangt zu werden. Was einst nur dem Verschiedenen im Nachruf zu wünschen übrig blieb, könnte in greifbarer Erwartung stehen.

Man wird sich darauf verlassen dürfen, dass Organisationen, Konzerne, gesellschaftliche Institutionen verschiedenster Provenienz in unüberschaubaren Netzwerken genau dafür sorgen werden. Sie werden zumindest alles daran setzen, für uns Immunitätsschirme aufzuspannen - wie sie einst Klöster, Universitäten und Kasernen in übersichtlichem Maßstab ihren Adepten bereithielten -, von globaler Dimension, mit weitausgreifenden Tentakeln, die bereits in ihren Erprobungsphasen scheinbar mühelos bewerkstelligen, dass auf keinem Punkt unseres Planeten der Einzelne Gefahr läuft, aus dem Blick zu geraten. Die Zeit, da man unbeobachtet in "Freiheit" über unseren Planeten wanderte ist bekanntermaßen schon vorbei. Bleibt nur noch unseren Anbietern einvernehmlich zuzunicken.

Wäre es spätestens dann erleichternd ehrlich zu sein? Wir haben nicht wirklich die "Freiheit" als Wert geschätzt, und "Solidarität" als echtes Bedürfnis empfunden? Waren sie meist nur unter reichlicher Entbehrungen zu bekommen und erst recht schwierig aufrecht zu erhalten. Müssen wir uns eingestehen, niemand braucht die anstrengende und verwirrende Demokratie wirklich, um gut zu leben? Worin sonst läge die Leichtfertigkeit begründet, mit der wir ihrer Sorge tragen, während in anderen Weltgegenden für diese Errungenschaft noch immer gestorben wird? Wir führen sie respektvoll im Munde, aber eher so, als lernten wir sie rückblickend zu schätzen, als historisches Moment des Brückenbaus zu einer allumfassenden Versorgungslogistik. Demokratie wäre dann evolutionär gesehen der geeignete Baustein zum "Gemeinwohl" und ihrer wohlwollenden Bevormundung gewesen.

Die Sorge um das "Leben" werden gut gelaunt abgeben können, wenn nur das Rahmenprogramm attraktiv gestaltet ist. Wenn vor allem dafür garantiert wird, dass die Langeweile beherrschbar bleibt (Währet der Langeweile, sie kann alles gefährden!). Die Kreuzfahrtschiffe stehen unter Dampf, die Alkoholreserven in den Regalen. Die Wohnheime haben geöffnet und die Sender funken rund um die Uhr. Wenn es dann noch gelingt, dass wir regelmäßig die nötigen hormonellen Kicks empfinden dürfen … - aber wozu hat man die Pharmazeutik!?

Wir dürfen schon mal träumen. Vermeintlich Passwort geschützt, werden wir uns hinter Firewalls einhausen in der Behaglichkeit, dass sie uns zu Lebzeiten wie ein ewiges Leben anmuten wird. Der Screen bleibt unser Kontakt zu einer "realen" Welt. Die Bilder sind unsere "reale" Welt. Die Realität bleibt uns wichtig. Auf das schmerzfrei, handliche Format eines Tablets herunter gestutzt, wird es ihr erlaubt bleiben müssen, uns zu belästigen. Wir könnten nach Belieben abschalten, was aber unserer "Gesundheit" abträglich wäre, und wir es daher nur noch selten tun werden. "Kommunikation um der Kommunikation willen" (Bolz, 34) ist überlebenswichtig. Arbeit und Sex beglücken uns überdies in medikamentös verabreichter Dosis, in perfekt eingestellten Adrenalinverläufen. Der Sektor der Palliativmedizin wird in ungeahntem Ausmaße expandieren und unser Leben umfassend begleiten, um nicht zu sagen, von der Geburt bis in den Tod maßgeblich gestalten! Wir sollten nicht vergessen die Designer rechtzeitig hinzuzuziehen. (Die Sterbehilfedebatten kommen bereits in Gang.)

Wir sind schließlich alle zu Königen geworden, wir feiern alle Geburtstag und die Haus- und Hoflieferanten läuten bereits täglich an unseren Türen die Glocken der vorbestellten Überraschung. Wir werden die Stufenleiter der Göttlichkeit nicht verloren geben und keinesfalls darauf verzichten, weitere Stufen zu erklimmen. Auf dem Weg zur Unsterblichkeit überlassen wir gern auch den "Menschen", das "Individuum", die "Freiheit", die "Solidarität" und so manches verbales Inventar dem Restmüll. Wir wollen ihr Verdienst nicht mindern, aber wir Modernen können eine spezifische Erkenntnis für uns proklamieren: Jeder Nutzen unterliegt der Dauer. Wo wir uns doch schon immer darüber gestritten haben, was wir unter dem "Menschen" zu verstehen hätten, und was und wer sich darunter subsumieren lassen dürfe. Fehlen uns nur noch die Worte.

 

22. 01.14

 

 
1) Sloterdijk, Peter, Streß und Freiheit, Berlin 2011
 
2) Gehlen, Arnold, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, 1952
 
3) Valéry, Paul, Cahiers Bd.4, Frankfurt am Main 1993
 

4) Bolz, Norbert, Am Ende der Gutenberg-Galaxis, München 1993

 
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