Auf
der Suche nach urbaner Identität
Von Descartes bis Frankenstein und weiter?
von Jürgen Mick
Wie
kommt es zu dem Phänomen der "Suche nach Identität"?
Für jedes Ergebnis ist die Suche - so auch in diesem Zusammenhang
- von entscheidender Bedeutung. Die Erörterung der Fragen "Wonach"
man sucht, und "Wer" sucht, verspricht bereits entscheidende
Hinweise zu geben, auf das Gesuchte selbst.
In Bezug auf Urbanität, will ich versuchen zu zeigen, müssen
uns die Antworten zwingen Städte einer umfassenden Neuinterpretation
zu unterziehen.
1.
Identität und Selbstbewusstsein
Was ist geschehen, dass Institutionen - wie Städte, aber auch
Universitäten, Theater und sogar Staaten - heute nach ihrer Identität
fragen? Traditionell ist ihre Art, die einer Sache, eines Gegenstandes,
eines Objektes. Und die erste Regel der Identität besagt, die
grundsätzliche, vollständige Übereinstimmung eines
Gegenstandes mit sich selbst.
Wenn
ein so stark beladener Begriff, wie Identität in ein neues Umfeld
- wie in unserem Fall in Zusammenhang mit Architektur und im speziellen
mit der Stadt - gebracht wird, dann muss unsere Aufmerksamkeit auch
dem Vorgang an sich gelten. Sollte der neue Zusammenhang nicht aus
reiner Willkür geschehen sein, verweist er mit Sicherheit auf
eine semantische Verschiebung der Begriffe, die ihn neuerdings beanspruchen.
Mit anderen Worten, wenn "die Stadt" nach ihrer Identität
sucht, muss im Verständnis von Stadt etwas in Bewegung geraten
sein.
Wenn Städte nicht mehr damit zufrieden sind, dass sie per definitionem
- als Sache - mit sich selbst identisch sind, sind sie genötigt
herauszufinden worin ihre Einheit besteht; in welcher Weise sie sich
von ihrer Umwelt abheben; wie sich ihre Grenzen feststellen lassen:
Vor diesem Hintergrund artikuliert sich Identitätssuche - neuerdings
also auch bei Institutionen - als Bedürfnis nach Einheit in ein
und derselben "Person". Ausgelöst von einem Entfremdungsprozess,
der es ihnen nicht mehr erlaubt auf tradierte Selbstbestimmungen zurück
zu greifen, haben diese begonnen, über sich selbst nachzudenken.
Und man diagnostiziert, an sich selbst, einen Einheitsverlust und
begibt sich, in dem Glauben es müsse zu finden sein, was verloren
gegangen ist, auf die Suche.
Man stellt sich nur selten ganz zu Anfang die Frage, ob das Abhandengekommene
wirklich etwas Verlorenes ist, oder nur die Folge einer Veränderung
seiner selbst ist. Oft erst viel zu spät, stellt sich möglicherweise
die Erkenntnis ein, dass der Verlust durch den Gewinn anderer Vorteile,
kompensiert oder gar übertroffen wird. Die anfängliche Unzufriedenheit
hat nicht selten evolutionäre Gründe.
1.1.
Gesellschaft
Die Menschen des Mittelalters bezogen ihre Identität aus ihrer
Abstammung, ihrer territorialen oder familiären Herkunft. Zu
dieser Zeit fielen personelle Identität und soziale Identität
in eins. Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zeichnete eine Person
aus; die Merkmale ihrer Abstammung verliehen ihr Einzigartigkeit.
Erst in der Früh-Renaissance verloren nach Schichten und Ständen
organisierte Gesellschaften ihre Bedeutung. Territoriale, wie auch
die familiäre Abstammung sind für das Zusammenleben immer
weniger von Relevanz. Standeszeichen bieten seither keine Sicherheit
mehr in ihrem Gebrauch. Die meisten Komödien Moliéres
beziehen aus genau diesem Umbruch der Gesellschaft ihre Komik.
Mit der Renaissance beginnen Funktionssysteme ihre "eigenständige"
Bedeutung anzustreben. Es entwickelten sich Systeme der Geldwirtschaft,
der Erziehung, des Rechts, der Politik, der Kunst, der Religion und
andere.
Dabei nahm das Wirtschaftssystem die Vorreiterrolle ein. Es bildete
in seinem Umfeld eine selbstständige Kommunikation mittels dem
Medium "Geld" aus, und entkoppelt so die Wirtschaft vom
Rollenverständnis der Ständegesellschaft. Handel beginnt
unabhängig von den Protagonisten zu funktionieren. Nicht der
Feudalherr kontrolliert mehr die Geschäfte, sondern Entscheidungen
werden an Hand von unternehmensspezifischen Gewinn- und Verlustrechungen
getroffen. Da Geld anonym in seiner Verwendung ist, ist es nicht mehr
von Bedeutung, von wem es kommt. Die Möglichkeit des Vergleichs
unter den Menschen, über Gesellschaftsschichten hinweg, ist von
nun an durch das Medium "Geld" gegeben.
Aber auch die anderen Funktionssysteme entwickeln sich orthogonal
zu den Schichten, in die die Gesellschaft einst fest und selbstverständlich
gegliedert war, und machen so ihre Struktur porös. Die vormalige
Ungleichheit wird überbrückbar auf Grund der spezifischen
"Sprachen" der Funktionssysteme. Mit dem Verlust der Ungleichheitsstruktur
aber, sind die Individuen fortan gezwungen, bei aller Gleichheit,
Individualität entwickeln.
Als Konsequenz dieser funktionalen Differenzierung, muss man zur Kenntnis
nehmen, dass sich Individuen in Zukunft nicht auf einzelne Funktionssysteme
verteilen lassen - so wie man sie früher Familien, Haushalten,
Dörfern und Städten oder sozialen Ständen zurechnen
konnte. Das Individuum ist vom Teil der Gesellschaft zum Teil-Nehmer
an den Gesellschaftssystemen mutiert. Das heißt, es muss sich
"aufteilen" und findet sich dabei außerhalb der Gesellschaft
wieder. Für das Individuum ist es lebensnotwendig geworden, dass
es seither an allen Funktionssystemen teilnehmen können muss.
(vgl. 1) Die Gesellschaft ist zur Umwelt des Individuums geworden!
Dieser "neuen" Differenz und Problembeziehung Individuum/Gesellschaft
entspringt, im Wesentlichen, die "Identitätsfrage".
1.2.
Individuum
Das Individuum verlor, jeder "substantiellen" Versicherung
durch Abstammung oder Herkunft entledigt, quasi seinen Boden unter
den Füßen: Auf diese Weise wurde es, für sich selbst,
zum Thema. Das ICH wurde zu Beginn der Neuzeit zum thematischen, philosophischen
Problem. René Descartes ist der vorrangig zu nennende Autor,
der sich, im 17. Jh., dieses Problems angenommen hat. Sein Vorschlag
versuchte in dem Akt des Denkens die einzige verbliebene Sicherheit
zu postulieren, an die sich der entwurzelte Mensch klammern konnte.
An allen anderen Identifizierungen hatte er fortan zu zweifeln.
Damit nicht genug: als ein Mann der Tat, und nicht nur Theoretiker,
begab Descartes sich ganz konkret auf die Suche nach dem ICH, dem
Zentrum des Denkens. Dabei trieb ihn die Vorstellung, der menschliche
Körper wäre mit einem Räderwerkautomaten, also einer
Maschine, zu vergleichen. Seine Abhandlung über den Menschen
beginnt mit den Worten: "Ich stelle mir vor, dass der Körper
nichts anderes sei, als eine Statue oder Maschine aus Erde, ...(bei
der Gott) in Ihr Inneres alle jene Teile legt, die notwendig sind,
um sie laufen, essen, atmen kurz alle unsere Funktionen nachahmen
zu lassen, von denen man sich vorstellen könnte, dass sie aus
der Materie ihren Ursprung nehmen und lediglich von der Disposition
der Organe abhängen:..."(2) Descartes hat es, als einer
der ersten, gewagt, den menschlichen Körper zu sezieren und den
Körper in seine Teile zu zerlegen, die in funktionaler Abhängigkeit
zueinander stehen. Der Mensch als Körper wurde mit Descartes
zum "Objekt", zum Objekt der Wissenschaft.
Das ICH spielte für ihn die Rolle eines Konvergenzzentrums der
Maschine Mensch, und er glaubte es schließlich in der Zirbeldrüse
gefunden zu haben; in dem Teil des Gehirns, welcher rein geometrisch
nur einfach - nicht paarweise - vorhanden ist. Er glaubte das ICH
- die letztbegründende Identität des Menschen - förmlich
in Händen zu halten. Wer sucht, der findet!
Die
Zuspitzung der Selbstbezogenheit jedes Einzelnen - losgelöst
von der sozialen Identität - trieb das Individuum in seiner Reflexion
und Selbstliebe soweit, dass es sich, seiner selbst, also nur noch
im Denken gewiss sein konnte. Es war jetzt isoliert und einzigartig
und nur sich selbst sicher. In der Konsequenz galt das aber jetzt
für jedermann! So geschah was geschehen musste: Das bunte Treiben
begann; man musste seiner Identität jetzt selbst Faktizität
verleihen. Darauf war man nicht vorbereitet, man war nicht spontan
in der Lage, mit der erworbenen Freiheit umzugehen. Als erste Reaktion
auf die Entfremdung nutzte man die obsoleten Standeszeichen, die jegliche
Bedeutung verloren hatten, als Darstellungsmittel. Auf den Marktplätzen
des Barock trug man Kleidung, mit der man Theaterschauspielern Konkurrenz
machen konnte, um sich seine individuelle Identität zu verleihen.
Das öffentliche Leben war ein Theater geworden. Wenn niemand
ernsthaft über Zeichen zu identifizieren war, so konnte Identität
zum Spiel werden. Zum Mummenschanz mit Maske.
Doch
konnten immer nur Mode und schöner Schein über den Einheitsverlust
nicht hinwegtäuschen. Man konnte sich auf Dauer mit seiner Bestimmung
als Kleiderständer nicht zufrieden geben. Sich nur über
Merkmale definieren zu können, hinterlässt das schale Gefühl
einer inkonsistenten Persönlichkeit.
Jeder
von uns besitzt einen Personalausweis auf dem die Merkmale unserer
Person unsere Identität feststellbar machen sollen. Auch da wird
Identität dokumentiert mittels Eigenschaften, wie Augenfarbe,
Körpergröße, Geschlecht und in Zukunft vielleicht
auch mittels Fingerabdruck oder Augen-Scan. Doch das ändert nichts:
wir haben Probleme damit, uns in Form eines Katalogs von Körpermerkmalen
beschrieben zu sehen. Wir selbst sehen uns als Subjekt, dem wir einen
Sinn geben wollen.
Was geschieht, wenn wir von uns sprechen? Glauben wir nicht, dass
wir von uns als eindeutigem Wesen sprechen, in unserem Namen gleichsam;
und dennoch reflektieren wir im selben Moment dieses. Wir beobachten,
wie wir von uns sprechen. Wir sind uns selbst bewusst.
Die reine Versicherung meiner Einzigartigkeit stillt nicht mein innerstes
Bedürfnis, eine konsistente Einheit sein zu wollen. Bei dem Versuch
diese Einheit zu begründen, gerät das Denken aber in einen
"Hinterhalt". Es stößt an seine physiologischen
Grenzen. Wir kennen es, als Gefühl, wenn wir selbst über
unsere Identität nachdenken: Wir drohen dabei in einen Abgrund
zu stürzen, weil es sich um ein paradoxes Unterfangen handelt.
Im Prozess der Selbstbefragung, muss das Bewusstsein quasi neben sich
treten, um sich selbst bewusst zu werden. Da aber der Beobachter ein
Teil von ihm ist, kann der Abgleich seiner Beobachtung mit sich, nie
vollständig gelingen: es bleibt ein blinder Fleck: der "Beobachter-In-Mir"
(vgl. 3), der nicht sehen kann, was er nicht sieht! Das Sensationelle
daran ist, dass gerade diese andauernde Nichtübereinstimmung
das ICH als paradoxen Prozess der Suche permanent am Leben hält,
sonst würden wir aufhören, für uns zu existieren! Doch
wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, ist das nicht der Fall.
Jeden Morgen, wenn wir erwachen, glauben wir, der zu sein, der am
Abend vorher zu Bett gegangen ist. In Momenten, in denen ich also
nicht so penetrant nachdenke, unterliege ich dem Eindruck, eine Einheit
zu sein; als ICH zu reagieren, wenn ich als DU angesprochen werde!
Von Kindesalter an beginnt der Prozess der Selbstreflexion, der bei
jeder Handlung eindeutig bestimmt, was zu mir gehört und was
nicht. Diese Unterscheidung kreiert förmlich mein ICH. Einfach
ausgedrückt: Ich erzeuge dieses ICH im permanenten Prozess meiner
Selbstreflexion. Einmal dies zu tun und einmal das, zwingt uns die
Differenz laufend zu überbrücken. Die Identität liegt
in dem Prozess selbst! Als Mangel formuliert, ist es das Defizit an
Konsistenz einer pluralen Persönlichkeit. Man praktiziert als
Arzt, ist Musikliebhaber, spekuliert an der Börse und versucht
gleichzeitig ein guter Familienvater zu sein, ohne eindeutig sagen
zu können, was man nun "wirklich" ist.
Damit zeigt sich, dass die Identität eines Menschen von heute,
nichts "Festgeschriebenes", "Konstantes" sein
kann, sondern ein immerwährender, lebenslanger Prozess ist.
2. Identität der Städte
Folgt man der Auffassung, dass die "Form der Stadt" zu aller
Zeit in erster Linie geprägt ist von der Gesellschaftsform, die
sie bewohnt, und folgt man dieser Auffassung auch in die Moderne,
so prägt heute - nachdem die Gesellschaft die Individuen nicht
mehr beinhaltet - zwangsläufig das Verhältnis Individuum/Gesellschaft
die Form der Stadt. Für die Identitätssuche der Städte
heißt das, es bleibt nichts anderes übrig, als sich auf
die Grundlagen der aktualen Gesellschaftsstruktur einzulassen. Sie
kann weder die Funktionsdifferenzierung der Gesellschaft, noch die
Individuation des Subjekts leugnen, ohne dass ihre Suche fehlschlagen
muss. Sie muss sich mit deren Differenzen auseinandersetzen!
2.1.
Weder lokal noch kollektiv
Nüchtern betrachtet muss man sehen, die Stadt hat die "funktionale
Wende" der Gesellschaft "unbeschadet" mitvollzogen.
Sie ist nicht, was man sich vorstellen könnte, im Laufe der Jahrhunderte
einfach zerstört worden und in der Geschichte versunken. Die
Stadt hat sich quasi als "gesellschafts-resistent" erwiesen.
Und dies macht schließlich begründete Hoffnung, auf ihr
weiteres Fortbestehen, auch wenn parallel zum gesellschaftlichen Wandel
in städtebaulicher Sicht mittlerweile die "Sprengung"
der geschlossenen Stadt diagnostiziert wurde. Die geschlossene Stadt
hat seit dem Einsetzen des urban sprawl, für jedermann offensichtlich,
ausgedient, und die "Zentrum-Peripherie"-Semantik hat ihre
Relevanz verlor.
Territoriale Segmentierungen sind allgemein in Auflösung begriffen,
beim Nationalstaat ebenso, wie bei Städten. Heute haben räumliche
Grenzen für die Gesellschaft keine Bedeutung mehr. Die Wirtschaft,
die Bildung, die Religion und die Liebe kennen keine territorialen
Grenzen mehr. Die zwei Bereiche Politik- und Rechtssystem muss man
bisher noch davon ausnehmen, doch der Geist der Zeit zeigt bereits
andere Vorzeichen: Man betrachte sich nur die neue Verfassung der
Europäischen Union: Sie ist die erste Staatsverfassung, die auf
eine territoriale Bezugnahme verzichtet! Sie verbürgt den Menschen
Europas erstmals Rechte über ihre territorialen und nationalstaatlichen
Rechte hinaus.
Städte
sind von der geschlossenen, baulichen Einheit zu einer Einheit eines
Systems urbanen Lebens geworden! Das kann nur heißen, dass es
keinen Sinn macht, nach der lokalen Identität von Städten
zu suchen. Einmal, da sie sich von den baulichen Grenzen emanzipiert
haben, zum zweiten aber vor allem, weil Individuen sich nicht mehr
vollständig einzelnen Institutionen zuschreiben lassen. Was zudem
noch dazu führt, dass Städte für Individuen nicht zur
kollektiven Identitätsfindung dienen können. Der Zusammenhang
kollektiver und individueller Identität ist auf Grund der irreversiblen,
gesellschaftlichen Veränderungen zerrissen. (vgl. 1) Die Gesellschaft
hält keine Maßstäbe mehr bereit für die Orientierung
des Individuums, wie früher über Moral oder Religion.
2.2.
Auf Abwegen
Mancherorts führt die Suche nach Identität aber auf genau
diese "falsche Fährte". Dann befindet sich die Stadt
genauso auf Abwegen, wie einst das Individuum im Prozess der Kompensation
seiner empfundenen Entfremdung. Man versucht im Wesentlichen zwei
Mechanismen zu bemühen: Einmal will man sich mit Einzigartigkeit
abgrenzen: Historisch, baulich, wirtschaftlich und kulturell. Und
vermutlich um den gesellschaftlichen Veränderung Reminiszenz
zu erweisen, experimentiert man auch noch mit der Gleichsetzung der
Stadt mit einem der gesellschaftlichen Funktionssysteme, indem man
z.B. die Stadt einem Wirtschaftsunternehmen gleichsetzt. Was in jedem
Fall zu kurz greift: Die Stadt ist eben kein Wirtschaftsunternehmen,
kein Forschungslabor, keine kulturelle Bühne, auch wenn sie dafür
die Voraussetzungen bereitstellt. Auf diese Weise Identität aufzudrücken,
kann nicht mehr sein, als ein temporäres Logo. Deshalb will es
auch so schwer gelingen ein passendes glaubwürdig zu machen,
und macht jedes Logo, je nach Bedarf, auch wieder abziehbar.
Zum zweiten bedient man sich der Methode der Vereinnahmung. Ähnlich
der mittelalterlichen Beziehung der Individuen zur Gesellschaft, ist
man bestrebt diese als "Einwohner" zurück zu gewinnen.
Das kommt in all den Versuchen zum Ausdruck, die es darauf anlegen,
jedermann ins Boot zu holen. Die Integrationsversuche erfordern jedoch
augenscheinlich sehr große Anstrengungen und binden Ressourcen.
Die Stadt gilt es attraktiv zu machen! Dies endet in perspektivlosen
Unternehmen, wie "Eventstadt", "Innovationsstandort"
oder "Umweltstadt"; man gibt sich lustig oder potent, eine
nachhaltige Verbindlichkeit jedoch will sich nicht einstellen. Alle
Bemühungen ziehen lediglich nur die eine Forderung nach sich,
immer mehr die Schraube der Attraktion anzuziehen, da der Klientel
schnell gelangweilt ist. Wenn man wirbt, erhält man eben lediglich
Kunden, keine Einwohner. Das traurige daran: die Optionen der Stadt
verkommen dabei in ihrer Anbiederung. Derartige Unterfangen können
nie im Sinne aller gelingen, weil die Stadt zu komplex ist, als dass
alle Stimmen gehört werden könnten, und jeder zu jedem Kontakt
haben könnte; was nötig wäre, um kollektive Identität
herzustellen. Derartige Ansprüche sind intendiert von Einzelnen
und werden nicht vom "System Urbanität" angestrebt.
Es handelt sich um aufgesetzte Ersatz-Identitäten, die - ebenso
wie schicke Kleider - nur solange tragen, wie die Mode eben dauert.
Aus
verschiedensten Gründen will man leider, in der Praxis, dennoch
davon nicht ablassen: Bei aller Ratlosigkeit ist man nicht verlegen
sich Unterstützung zu suchen: bei Investoren, Generalplanern,
Marketingstrategen, Städtebauern, Architekten und Künstlern,
und zusammen durchforstet man die Vergangenheit nach historischer
Größe. Die Stadt als lebendiges Miteinander steht gleich
einem nebulösen Ideal den Unternehmungen voran, und die Helfer
sind aufgefordert ihren Beitrag abzuliefern diesem Ideal nachzukommen.
Bei all dem Streben fällt nur selten ein Blick auf die Grundbausteine
städtischen Lebens. Der Mensch, als physisch-mentales Wesen,
der bei der Bewältigung seiner alltäglichen Bedürfnisse
seine gebaute Umgebung nutzt, wird dabei den Mühlen des Wirtschaftssystems
überlassen, in der verständlicherweise kein Platz ist für
seine sozialen Abhängigkeiten und seine Befindlichkeiten. Während
die Helfer sich um das "Image" kümmern, geraten die
Banalitäten des Lebens in den Schatten. Man wundert sich lediglich,
wenn sich das alltägliche Leben vor die "Tore" der
Alt-Stadt zurückgezogen hat; in Shopping Malls, Industriegebiete,
Gated Communities und Wohn-Ghettos. Für die Verantwortlichen
bleibt nur das Rätsel zurück, was man als Nächstes
in der verbliebenen, historischen Kulisse veranstalten soll.
Im Streben nach Idealvorstellungen urbanen Lebens, löst sich
aber Urbanität vor unseren Augen auf, in Merkmale und Äußerlichkeiten.
Eine Zielvorgabe von Oben kann es aber in keinem komplexen System
geben. Die Bedürfnisse von Unten sind allemal zu fundamental.
Die Stadt mag als Abbild des kultivierten Lebens, zwar unsere innere
Vorstellung besetzt halten, dennoch scheint aber eine Diskrepanz dadurch
zu entstehen, dass wir bestimmen wollen, was wir als Leben zulassen.
So ist die Klage nicht aus der Welt zu schaffen, dass die Stadt als
Realität hinter dem Ideal zurück bleibt, weil wir dem Leben
vorschreiben wollen, wie es auszusehen hat. Die Stadt lässt sich
aber nicht einem Gestaltungskonzept unterwerfen. Sie hält unerbittlich
fest an den Menschen und ihren Bedürfnissen. Operative Eingriffe
entlarven jede zentrale Steuerung als einen Anachronismus. Die Rede
von der Urbanität als städtisches Leben bleibt in dem Fall
nur anthropologische Metapher.
2.3.
Von Frankenstein zur Komplexität
Der Sitz des Selbstbewusstseins in der Zirbeldrüse hat sich -
wie wir heute wissen - nicht bestätigt, dennoch: Descartes hat
schließlich gefunden, was er suchte! Historisch kein Einzelfall!
Die Suche bringt nicht selten das erst hervor, was sie vorgibt zu
suchen. So gesehen, gehen Suchanstrengungen methodisch dann dahin,
zu kreieren und künstlich zu erzeugen, was sie suchen. Um in
Bildern zu sprechen, ähnelt dies dann dem Versuch eines Dr. Frankenstein,
der unter Vorgabe hinter das Geheimnis des Lebens kommen zu wollen,
Leben zwar rekonstruiert, dies aber nur in soweit, als dass er sein
Verständnis von Leben, der Materie aufzwingt. (vgl. 4) Wer den
Roman von Mary Shelley liest kann verfolgen, dass Dr. Frankenstein
angetrieben vom Ehrgeiz vom Wissenschaftler zum Schöpfer wird,
und daran zerbricht. Die Handlung ist getragen von der beängstigenden
Vorahnung des Endes einer konsequent fortgesetzten materialistischen
Wissenschaft, wie sie mit Descartes begann. Descartes steht, zu Anfang
der Neuzeit, für den Beginn der modernen Wissenschaft, aber auch
gleichzeitig für das Auftauchen des Subjekts. Frankenstein ist
Symbol für die verhängnisvolle Konsequenz, die sich ergibt,
wenn die beiden Stränge erbarmungslos zur Spitze getrieben, im
Moment der Übertreibung, sich auch noch durchkreuzen. Dieses
Motiv - ich würde es als den Mythos der Neuzeit bezeichnen -
ist seither ständiger Begleiter der Moderne. Mary Shelley zeigt,
wie die konsequente Suche nach dem Verständnis vom Leben umschlagen
muss in dessen Schöpfung; und sie lässt den Versuch schließlich
böse enden.
Aus dieser Perspektive betrachtet zwingt uns die Erkenntnis, dass
das Ganze mehr ist, als nur die Summe seiner Teile, die Suche nach
Identität neu zu formulieren. Beim menschlichen Bewusstsein,
als auch der Gesellschaft handelt es sich beide Male um komplexe Systeme,
die nach Identität suchen. Und dies ist keine Metapher! Identitätssuche
ist beide Male als Selbstbeobachtung komplexer Systeme zu beschreiben.
Und es ist der Selbstreflexionsprozess selbst, der uns veranlassen
muss, auch Städte nicht mehr als Objekte zu betrachten. Nur komplexe
Systeme können innerhalb ihres Systems ein Bild von sich selbst
erzeugen. Nur komplexe Systeme sind überhaupt in der Lage sich
nach ihrer eigenen Identität zu fragen!
3. Urbanität als Beziehung des Individuums zur Stadt
So ahnt man nach den vorangegangenen Ausführungen vielleicht,
dass die Suche nach der "Identität der Stadt" ähnlich
paradox enden muss, wie die bei Individuen. Städte müssen
sich im klaren sein, dass sie eine Gesellschaft beherbergen, die aus
Systemen besteht (Wirtschaft, Erziehung, Religion usw.). Welche von
vollständig individualisierten Individuen zum Zwecke ihrer Karriere
"betrieben" werden. (vgl. 1) Und diese sind permanent dabei
zu wählen, woran sie teilnehmen. Vielleicht hat die Stadt ein
weiteres Mal in der Geschichte, sogar als Wiege, nämlich dieser
neuen Gesellschaftsform fungiert. Der Verdacht liegt nahe, dass ihre
Dichte als Katalysator für gesellschaftliche Evolution diente.
Auf Grund der Verdichtung und hohen Wahrscheinlichkeit von Begegnungen
bot sich die Stadt als geeignete Organisationsform zur Teilhabe an
den Funktionssystemen der Gesellschaft an. Urbanes Leben heute ist
durch die erhöhte Kopplungsmöglichkeit des Individuums an
soziale Systeme ausgezeichnet. Nur unter Bezugnahme auf diese spezifischen
Vorteile eines Möglichkeitsraumes mit komplexen internen Kontakten,
auf Basis von Anwesenheit, kann die Stadt ihre Attraktivität
wirklich stärken! Ihre Lokalität und die Möglichkeit
persönlicher Nähe, bei gleichzeitiger Anonymität, sind
die unveränderlichen Stärken der Stadt.
3.1.
Öffentlich / privat
Die Stadt kann in dieser Sichtweise nicht länger als ein zentral
gesteuertes Objekt aufgefasst werden. Es entfallen alle Möglichkeiten
einer eindeutig "festgeschriebenen" Identität. Identität
kann eigentlich nur "unbewusst" empfunden werden. Sie ist
heute eine Orientierung und keine Objektivierung mehr. Urbanität
orientiert sich an der althergebrachten Differenz öffentlich/privat,
die als die genuine Errungenschaft der europäischen Stadt bezeichnet
werden kann. Waren auch die Gesellschaftsstrukturen zu jeder Zeit
verschieden, die städtische Kommunikation bezog sich immer auf
die Differenz öffentlich/privat; sie war immer die Basis ihrer
Organisation. Im antiken Griechenland, im antiken Rom, wie auch im
Mittelalter. Für die europäische Stadt galt immer, dass
diese Organisation invariant bleiben musste, bis heute. Man könnte
somit sagen, sie begründet die "Systemidentität"
der Stadt von heute. Mit anderen Worten: Sollte eine Unterscheidung
zwischen öffentlicher und privater Kommunikation und Handlung
nicht mehr getroffen werden können, hat es keinen Sinn mehr von
Städten zu sprechen.
3.2.
Anwesend / Abwesend
Das urbane System als Gesellschaftssystem besteht eigentlich nur aus
Kommunikation und Handlung. Und somit kann es, wie jedes der Funktionssysteme,
nicht ohne die Kopplung an Bewusstseinssysteme auskommen. Das heißt
es ist an Körper gebunden. Die Kopplung des Individuums an die
Gesellschaft (seine Abhängigkeit) erfolgt mittels seiner körperlichen
Verfasstheit. Der urbane Mensch prägt - also in seinem Verhalten
gegenüber Fremden - aus der Notwendigkeit heraus, als körperliches
Wesen, an gesellschaftlichen Systemen teilzunehmen, die Gestalt der
Stadt. So liegt die Relevanz seiner Handlungen und Bewegungen für
die Stadt in seiner Anwesenheit bzw. Abwesenheit.
Über die kontingente Vielfalt seiner Handlungsmöglichkeiten
ist er in der Lage die vorhandene Organisation in ihrer besonderen
Eigenart zu nutzen und eine spezifische Struktur auszubilden. Die
Struktur verleiht der Systemidentität dann Eigenart, oder wenn
man so will: "Persönlichkeit". Diese Struktur ist veränderlich,
d.h. sie kann verschiedene Muster ausbilden und ist flexibel, also
auch in der Lage Störungen zu verkraften. Die Organisation hingegen
muss unberührt bleiben. Geht sie nach strukturellen Eingriffen
verloren, löst sich das System einfach auf. Mit anderen Worten
kann das Interaktionssystem "Stadt" nicht von außen
erzeugt und auch nicht beendet werden (ausgenommen gewaltsam). Es
wird allerdings Aufhören zu existieren, wenn niemand mehr "hingeht",
(niemand mehr anwesend ist).
Die beiden Differenzen körperlich anwesend/abwesend und öffentlich/privat
nähren gleichsam den Menschen als "urban body". Das
System der Urbanität erzeugt von dieser Seite betrachtet "eigene"
Ansprüche, die sich jenseits lokaler oder kollektiver Identität
artikulieren. Sie nehmen sich in ihrer Art geradezu harmlos und selbstverständlich
aus, wie Wegesysteme, Versorgungsgewährleistung, Sicherheit,
Stille, Verborgenheit, Sichtbarkeit, Hygiene u.ä. Das liegt daran,
dass Städte Interaktionssysteme darstellen, die die Anwesenheit
von Körpern organisieren. Sie berücksichtigen und beziehen
sich auf den Menschen in seiner Art und seine Handlungen im sozialen
Zusammenleben.
3.3.
Fazit
Erkennt man Urbanität als eine sich selbstorganisierende Eigenleistung
der Gesellschaft, wird bei heutigem Verständnis der Gesellschaft
aber auch klar, dass auch Urbanität als selbstgewählte Form,
"nur" Teil des modernen Lebens ist, nämlich der, der
körperlichen Anwesenheit unter Fremden. Eine Äußerung
der Sängerin Björk in einem kürzlich gegebenen Interview
sei stellvertretend erwähnt; sie macht die Beziehung des Individuums
zur Urbanität in einfachen Worten klar: "In New York habe
ich vor zwei Jahren ein Haus gefunden, eine halbe Stunde von Manhattan
entfernt. Es steht im Wald, an einem Fluss. Wann immer ich will, kann
ich in die Stadt fahren und kosmopolitisch sein. Einmal die Woche
ziehe ich hochhackige Schuhe an, trage Lippenstift auf und bin urban."
(5) "Urban sein", ist für die Menschen von heute wählbar
und nicht vollständig auf ihre Person zu beziehen. Das Individuum
wählt Urbanität im Gegensatz zu Einsamkeit, Familie oder
Intimität. Urban beschreibt sein Benehmen und seinen Respekt
gegenüber Fremden, während seiner körperlichen Anwesenheit.
Das Individuum wird durch die Teilnahme nicht Teil des Systems, aber
dennoch begründet es dessen Möglichkeit. Es wird zum Subjekt,
um das die Urbanität "kreist". Diesen Zirkel der Selbstverfasstheit
und die Schwierigkeit, aber auch die Möglichkeit ihn zu nutzen
muss das Individuum selbst erkennen. Es ist das Bild das es vom urbanen
Leben hat und mit in die Urbanität einbringt.
Als
der Dichter Francesco Petrarca im 14. Jh. vor den Ruinen des untergegangenen
"Alten Rom" stand, sagte er hoffnungsvoll "Die ewige
Stadt könne als Hauptstadt Italiens "sofort wieder auferstehen,
wenn Rom wieder wissen wird, Rom zu sein." (6) Dies ist ein Anachronismus
zwar und darf nicht missverstanden werden, aber wunderbar formuliert,
bringen diese Worte den Wiedereintritt ("re-entry" im Sinne
George Spencer-Browns(6)) eines Selbstverständnisses in das System
zum Ausdruck. Jenen Prozess, der zur Identitätsfindung, in der
Moderne, unabdingbar geworden ist.
Die
vielfachen, wie ich meine, vergeblichen Bemühungen um urbane
Identität, wie sie sich z.B. in dem Wettstreit um die Kulturhauptstadt
Europas, die Expo-Stadt oder die Olympiastadt ausdrücken, können
im Gegensatz dazu nur als letzte Versuche einer Wiederauferstehung
der historischen Stadt als Objekt interpretiert werden. In Wahrheit
sind sie schon mehr Teil des Wirtschaftsystems, als Teil der Urbanität,
was man an der Betonung ihrer wirtschaftlichen Bedeutung eigentlich
direkt ablesen kann. Doch aus evolutionärer Sicht gibt es keinen
Weg zurück! Die "Identität der Urbanität"
zu erfassen, heißt die Suche weder auf architektonische Einzigartigkeiten
noch auf herausragende Historie zu fokussieren, sondern sich auf das
Glatteis eines sich selbstgenerierenden Systems zu wagen. In einem
solchen Fall besteht Identität eben in ihrer Nichtübereinstimmung
aller Bestandteile. Denn diese ist der Garant dafür, dass sich
der Prozess selbst am Laufen hält. Die Befürchtung dies
führe zu weltweiter Monotonie ist systemtheoretisch zu entkräften,
denn die Tatsache, dass Identität ein individueller Prozess ist,
verspricht dass sich - wie beim Individuum geschehen - eine Vielfalt
entwickelt, die sich von Region zu Region sehr unterschiedlich auswirken
kann. Regionale Vielfalt erklärt sich nämlich dann aus "Unterschieden
der Teilnahme und der Reaktion auf die dominanten Strukturen einer
Weltgesellschaft." (1) Literarisch könnte man dies dann
so formulieren, wie Peter Handke in seinem neusten Buch Don Juan:
"Die Stadt würde sich dann erst einmal zeigen wie jede andere
zuvor auch - so war das inzwischen -, nur wußte er, dass danach
doch das besondere und einmalige Tiflis (oder Tbilissi) zum Vorschein
käme: das Fremde und Eigenartige der heutigen Orte war nicht
mehr offensichtlich, es war dafür aufzuspüren, ..."
(8)
Vielleicht
zeigt uns das unvermittelte Auftauchen der "Suche nach urbaner
Identität", dass die Stadt - nachdem sie durch die Tortur
der politischen und städtebaulichen Ideologien gegangen ist,
und sich diesen erfolgreich widersetzt hat - gleichsam zu "Selbstbewusstsein"
gekommen ist; und endlich in der Moderne angekommen scheint. Zugleich
muss sie aber damit leben lernen, dass sie einer "festgeschriebenen"
Identität - ein für allemal - beraubt ist.
10/2004