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ORBANIC
STADT UND URBANITÄT IN ZUKUNFT UND HEUTE

 
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URBAN BODIES
von Jürgen Mick
 
  URBAN BODIES - Teil 2
  URBAN BODIES - Teil 3
  Teil 1
 
 

 

URBAN BODIES - TEIL 1

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VORWORT

Eine soziale Ordnung gilt "von dem Augenblick an [...], wo zwei Individuen zum ersten Mal etwas gemeinsam getan haben und sich wechselseitig die Erwartung einstellte, künftig wieder so zu handeln." Talcott Parsons hat mit diesen Worten - dem Prinzip der freiwilligen Zustimmung - seine Gesellschaftstheorie gegen den Vorwurf der Zirkularität verteidigt. "Stadt" ist in diesem Sinne nichts anderes, als versteinerte Erwartung. Man kann sie als eine soziale Manifestation, die sich unter Bedingungen größter Unwahrscheinlichkeit gleicher Erwartungen unter unzähligen Individuen, als Vermittler und Medium anbietet. Und sie tut dies recht ordentlich, muss man annehmen, da immerhin seit mehr als fünftausend Jahren von Städten die Rede ist.

Man ist heute gezwungen, die "Verstädterung der Gesellschaft" als Tatsache hinzunehmen. Man kann sich dann fragen, wie und mit welcher Strategie, will man sie bewältigen? Da es sich um ein globales Phänomen handelt, bekommt man es im nächsten Schritt mit regionalen Unterschieden kultureller, politischer, wirtschaftlicher und klimatischer Bedingungen zu tun. Eine allgemeine Strategie müsste alle diese Differenzen berücksichtigen oder für den jeweils besonderen Fall modifizierbar sein. Da sollte es hilfreich sein, in Erfahrung zu bringen, wie funktioniert "die Stadt" eigentlich? Womit hat man es zu tun, wenn man von Verstädterung oder Urbanismus spricht? Gibt es eine globale Gemeinsamkeit im Phänomen "Stadt"? Bisher fragt man an dieser Stelle für gewöhnlich nach dem Wesen der Stadt, nach dem, was eine Stadt ausmacht. Gegen die Frage nach dem Wesen muss man Vorbehalte hegen, zumal sie im Fall der Stadt bislang unbeantwortet bleiben musste. Spätestens seit dem Bekanntwerden rekursiver Abhängigkeiten in dynamischen Systemen, muss man ermüden, angesichts einer nicht enden wollende Litanei von Aspekten, von denen Autoren behaupten, gerade dies oder jenes mache "die Stadt" aus. Davon gibt es nachweislich viel zu erzählen und man gewinnt mit zunehmender Distanz den Eindruck, alle haben sie Recht, weil sich tatsächlich alle erwähnten Ingredienzien im Städtischen finden lassen.

"Das Städtische, indifferent gegenüber jeder ihm eigenen Differenz", schreibt Henri Lefébvre 1970, um es jedoch im selben Atemzug wieder zu revidieren, was er - wie ich denke - zu Unrecht tut, weil genau in dieser Widersprüchlichkeit das Städtische als Einheit des Unterschiedenen noch am ehesten zu fassen ist. Als Manifestation der Toleranz gegenüber dem Andersartigen, dem Fremden, erweist sich die Stadt als bemerkenswert konstant, indem sie das sich gegenseitig fremde zusammenbringt und bemerkenswerterweise - ohne die Notwendigkeit von Assimilation oder auch nur des Konsenses - erhält. In diesem Sinne ist sie ohne Urteil oder Aversion indifferent gegenüber Differenzen. Gleich-gültig im besten Sinne.

Im Folgenden geht es nicht um Strategien des Urbanismus, nicht um die Bewältigung von Problemen, die in der urbanen Praxis auftreten. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, zu verstehen, weshalb sich in Gesellschaften Städte überhaupt bilden und wie sie sich scheinbar selbst generieren und erhalten. Welchen Aspekt spielt die Stadt in der Evolution von Gesellschaft? Wir werden sehen, dass wir es nicht mit einem Subjekt-Objekt-Verhältnis zu tun haben; der Stadt und ihrer Teile. So wie die Gesellschaft keine umfassende Totalität ist, in der sich, wie in einem Gefäß, die Geschichte menschlicher Handlungen abspielt, so ereignen sich die Aktionen des Alltags nicht im Städtischen, sondern sie "produzieren" gleichermaßen "das Städtische". Die einzelne Aktion generiert, neben ihrer eigentlichen Intension, eine Ganzheit, die dann als "Städtisches der Gesellschaft" bezeichnen kann. Bis schließlich die "städtische Gesellschaft" im 20. Jahrhundert die vorangegangene bürgerliche Gesellschaft ablöst. Das scheint nur auf den ersten Blick paradox, empfand man doch einst den Bürger als den Ur-Städter. Doch ist "der Bürger" eigentlich mit der überwundenen stratifizierten Gesellschaft ebenso verschwunden, wie der Adel und alles andere Ständebewusstsein auch, das seit der beginnenden Moderne im Begriff ist obsolet zu werden. Der (Bildungs)-Bürger hat sich im Zuge seiner Autonomiemotivationen selbst "entlassen". Die urbane Gesellschaft heute ist eine in Funktionssysteme ausdifferenzierte Gesellschaft und das Städtische ist immer Begleiter gesellschaftlicher Diversifizierung gewesen.

Die Aneignung von Raum und Zeit ist Emanzipation von der "Naturzeit" und vollzieht sich mit Ausdifferenzierung agrarischer Gesellschaften mittels Zentrum und Peripherie. Das Abschütteln von Jahresrhythmen und Witterungsabhängigkeit ist mit Durchsetzung arbeitsteiliger Produktionsphasen ausdrücklich erlaubt. Die "Verstädterung der Gesellschaft", wie sie seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts diagnostiziert wird, fällt nicht zufällig in das Jahrhundert von Fordismus und Tailorisierung. Die Entwicklung der Turing-Maschine und die darauf folgende elektronische Revolution sollten schließlich in die "City of Bits" münden. Die städtische Gesellschaft ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts ebenso Tatsache, wie die funktionsdifferenzierte Gesellschaft und dabei dürfte es sich nicht um eine zufällige Koinzidenz handeln.

Die These lautet, dass die Stadt einzig und allein als ein soziales Phänomen in seiner Veränderung begreifbar ist, also nur als Stadt der Gesellschaft plausibel beschreibbar ist. Die materiale Gestalt der Stadt, wie sie immer mitgedacht wird und zuallererst ins Auge fällt, ist dabei der Kopplung des Kommunikationssystems Gesellschaft an die an ihr teilnehmenden, physisch-psychischen Individuen geschuldet. Es folgt die Gestalt der Stadt mittelbar den Kommunikationszu-sammenhängen der Gesellschaft und deren Inventionen gesellschaftlicher Evolution. Die gegenseitige Abhängigkeit von Kommunikation und Stadt sticht ins Auge, obgleich sie sich nicht unmittelbar als konkrete Folge in der Gestalt der Stadt abbildet. Vielmehr entstehen in Folge von Kommunikationstechniken, Kommunikationsgebrauch und semantischen Entwicklungen Strukturen in der Gesellschaft, die ihrerseits materiale Konsequenzen wie "die Stadt" nach sich ziehen.

Strukturen der Gesellschaft fallen immer dann besonders ins Bewusstsein, da sich nachfolgende Kommunikationen daran abzuarbeiten haben. Einmal entwickelte Institutionen der Gesellschaft wirken rekursiv und restriktiv auf die Gesellschaft zurück. Aus dieser Richtung gewinnt dann Planungs- und Gestaltungsoperationen ihr Profil, nämlich in der Bewältigung von Aufgaben und Problemen, die immer nur aus schon Bestehendem resultieren können. In Bezug auf die Stadt treten an dieser Stelle, die Verwaltung und die Stadtplanung in Aktion. An ihnen - nämlich an deren (notwendigen) Scheitern - zeigt sich die Restriktivität gesellschaftlich organisierter Kommunikation. Die Stadt, die einen bedeutenden Kommunikations-Raum bietet, befindet sich gleichsam im Schlepptau gesellschaftlicher Veränderungen, basierend auf dem rekursiven Verhältnis von Kommunikation und Gesellschaftsstruktur. Sie folgt den strukturellen Veränderungen und liefert gleichzeitig deren materiale Voraussetzungen. Stadt stellt sich aus diesem Blickwinkel als eingebunden in die rekursive Abhängigkeit von Kommunikation und Gesellschaftsstruktur dar. Die Stadt der Gesellschaft existiert nur durch Kommunikation und ihre Bedeutung liegt in ihrer Funktion für die Gesellschaft, als mediale Kopplung für die physichen Körper ihrer Bewohner.

J.M. 2016

 

 

ISBN 9-783743-167469

384 Seiten, Paperback, € 27,00

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