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No Future: Wie lebt es sich ohne Zukunft?
von Jürgen Mick

Der Benzinpreis liegt knapp über einem Euro, der Kalte Krieg ist wieder auferstanden und die Europäische Popmusik ist zum Verblöden langweilig: Willkommen in den Achtzigern - "No future!" - Nein, nicht ganz: Prince Rogers Nelson und David Bowie sind tot und Umberto Eco leider auch. Willkommen zurück - ohne Zukunft!

Wenn diese Herren etwas zu erzählen wussten, dann kleine Geschichten von großer Zukunft. Schließlich war man jung und Zukunft war das, was man durch "Fortschritt" und "Veränderung" erst noch erreichen musste. Wofür jede Generation sich zu erheben und zu kämpfen hatte! Frei nach der Faustischen Erkenntnis: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!"

Das Konzept ist knapp zweihundert Jahre alt. Seit man die Zukunft als Aufgabe begriffen hatte, erzählt man sich Geschichten - von Ideen und Visionen - darüber, wie man die Welt zu einem besseren Ort machen könnte. Wenn man in den Achtzigern "No Future!" skandierte, dann war das eine trotzig zynische Anklage gegen das Establishment. Weil man befürchtete, die billige Aufrechterhaltung des Status Quo ließe - angesichts von drohendem Atomkrieg, Kernkraft und Umweltzerstörung - zwangsläufig keine Zukunft mehr übrig. Und letztlich scheint es so gekommen.

Heute ist die Zukunft tatsächlich ein kaum noch ernstzunehmendes Flämmchen, das auf dem Altar des Konformismus geopfert wird. Aus Idealen wurden Werte und aus Utopien Wachstum. Heute durchleben wir das Remake des Szenarios der Achtziger, allerdings ganz ohne anstrengende, ideologische Lagerkämpfe. Der Sozialismus ist tot, die Marktwirtschaft ebenso! In einem unbemerkten Augenblick der Geschichte müssen die ungleichen Geschwister sich das Lager geteilt haben, um einen "Hybrid" zu zeugen, ein Monstrum, das den Streit um einen verbesserungswürdigen Weg in eine lebenswertere Zukunft überflüssig machte. Der Beiden inzestöser Nachfolger nennt sich "Konformismus", der sich schamlos an dem nährt, was einst Zukunft hieß.

Mit ihm hat sich die Einsicht herumgesprochen, dass Zukunft - ungeachtet aller Ideale - sich einfach ereignet. Diesem Umstand ist dann damit genüge geleistet, wenn man sich zu wappnen weiß. Seither ist Vorsicht entscheidender als Wagemut, und aus "Fortschritt" wurde im Fleischwolf der Subsistenzangst die "permanente Veränderung". Deren Anforderungsprofil beschränkt sich auf Flexibilität und ein Minimum an Erwartung. Mit dem Effekt, "wir verändern uns, (...), doch haben wir nicht mehr den Eindruck, uns weiterzuentwickeln" . Das meinte Ehrenberg aufgrund seiner Beobachtung, dass schon 1960 (!) die Tendenz aufkam, sämtliche Sozialisation in wichtigen Teilen der Schule zu übertragen. Man glaubte, es genüge nicht mehr dort nur zu unterrichten, sondern es sollte professionell erzieherisch gewirkt werden.

Leider entpuppte sich das als Erfolgsmodell: Nicht nur dort hat sich Outsourcing von Überlebenskompetenz fieberhaft verbreitet. Die Institutionen, die die Gesellschaft seitdem hervorbrachte, nur um den Lebensweg der Individuen gesellschaftlich zu "betreuen" haben inflationär zugenommen. Von Kindergärten, Kinderhorten über Kindertagesstätten ereignete sich eine Welle der Ausdifferenzierung diversester Schul-, Weiterbildungs- und Lebens-Laufbahnen, die im Dschungel der Institutionalisierung kaum noch zu überblicken ist. Bis man schließlich mit Bachelor und Dualem Studium den Abschluss zur nahtlosen Einberufung in die Erwerbstätigkeit erlangt.

Die Lücken werden enger, die Übergänge glatter, Schwellen verschwinden und Absturzgefahren werden ausgeschlossen. Um jeglicher latenten Versuchung individueller Positionsbestimmung vorzubeugen, sind in den restriktiven Alltag dieser Lebenslaufbahnen ausreichend Entspannungsreservoirs eingebaut. Mit Exkursionen, Klassenfahrten, Vereinswochenenden, Musik- und Sportevents, Pauschalreisen, Cluburlaubprogrammen, Abenteuerwochen, Kreuzfahrten, Sextourismustrips, Gruppentherapien und "individualisierten" Religionsangeboten wird Abwechslung und Ablenkung in durchorganisierter Manier eingeflochten. Der Selbstbefragung und einer möglichen, damit einhergehenden metaphysischen Obdachlosigkeit ist also vorgebeugt. Wenn es dann noch gelänge, die Versorgungsbetriebe dazu zu bringen, sich der letzten Lebensjahrzehnte ebenso effizient anzunehmen, wie der ersten, um rechtzeitiges Ableben attraktiv zu machen, wäre der Kreis zum letzten Aufgehobensein vollends geschlossen und wir müssten die Höhle der Konformisten nicht mehr verlassen.

Ein vorgefertigtes Leben halten wir den Jungen bereit, gespickt mit Tagen des Exzesses und der Euphorie. Ausgelassenheit und Konzentration werden in ausgeklügelter Gemengelage gehalten und ein gebührender Eindruck von Individualität aufrechterhalten. Bei Bedarf können Übermütige in "Ausreißer-Rollen" schlüpfen, wozu man rechtzeitig das Sortiment der "Ranking-Spiele" (des Wissens, des Sports, des Tanzes und der Musik) eingeführt hat. Numerische Stufenleitern des Erfolgs eignen sich am effizientesten, um Selbstbestimmung zu simulieren und den Ehrgeiz zu quantifizieren. Zur Dämpfung des sublim anklingenden sozialdarwinistischen Gedankengutes wird jedem Konkurrenz-Spiel die "Wir-Form" übergestülpt. Zusammenhalt wird über die "Große Familie" (ein Erbteil des Sozialismus) suggeriert: In Schulen, Firmen, Clubs, Mannschaften, Vereinen und bald auch zwischen Institutionen und Nationen. Die "Große Familie" speist sich von gemeinsam erzielten Erfolgen, also völlig konträr zur biologischen Familie, in der Zugehörigkeit unabhängig von Vorbedingung gewährleistet ist. Umgekehrt erreichen diese Substitute derartige Attraktivität, dass sich leibhaftige Familien als Mannschaften und Fangemeinden gerieren, die sich an den Spielfeldrändern der Hungerspiele bemühen dynastisches Denken unkenntlich zu machen.

Wir sehen betroffen, alle machen mit, den Heranwachsenden die Zukunft zu stehlen. Indem man ihnen Glauben macht, über die Möglichkeiten, wie man leben will, müsse man nicht mehr nachdenken. Wir haben doch das Beste von beidem - Sozialismus und Kapitalismus - realisiert, allein indem wir unser Selbst im Hegelschen Sinne aufgehoben haben. Man könnte auch sagen aufgegeben haben. Dabei war es just jener Hegel, der uns aufforderte, die Zukunft als unsere Aufgabe zu begreifen! Oder mit den Worten Johnny Rottens: "Wenn du deine Zukunft nicht selbst in die Hand nimmst, dann wirst du auch keine haben - so einfach ist das." So reflektierend war in den Achtzigern selbst noch der Punk!

Erst wenn der Einzelne in Eigenleistung beginnt Bevormundung als Eigenentscheidung umzudeuten, sein Leben von Beginn an bereitwillig dem Erwerbsdruck preiszugeben und in vorauseilendem Gehorsam sich in die Teilnehmerlisten der Hungerspiele einzutragen, dann stellt sich die Frage, wie wir leben wollen, nicht mehr. Und wenn uns obendrein die Autoren von Geschichten vom besseren Leben wegsterben, werden wir kaum erwarten können, dass unsere Kinder sich noch die Frage nach einem autonomen Selbst stellen werden. Statt sich zu fragen, wie wollen wir leben, werden sie sich nur noch wundern: Wie lebte es sich einst, mit einer Zukunft?

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