Der
Benzinpreis liegt knapp über einem Euro, der Kalte Krieg ist
wieder auferstanden und die Europäische Popmusik ist zum Verblöden
langweilig: Willkommen in den Achtzigern - "No future!"
- Nein, nicht ganz: Prince Rogers Nelson und David Bowie sind
tot und Umberto Eco leider auch. Willkommen zurück - ohne Zukunft!
Wenn diese Herren etwas zu erzählen wussten, dann kleine Geschichten
von großer Zukunft. Schließlich war man jung und Zukunft
war das, was man durch "Fortschritt" und "Veränderung"
erst noch erreichen musste. Wofür jede Generation sich zu
erheben und zu kämpfen hatte! Frei nach der Faustischen Erkenntnis:
"Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um
es zu besitzen!"
Das Konzept ist knapp zweihundert Jahre alt. Seit man die Zukunft
als Aufgabe begriffen hatte, erzählt man sich Geschichten - von
Ideen und Visionen - darüber, wie man die Welt zu einem besseren
Ort machen könnte. Wenn man in den Achtzigern "No Future!"
skandierte, dann war das eine trotzig zynische Anklage gegen das Establishment.
Weil man befürchtete, die billige Aufrechterhaltung des Status
Quo ließe - angesichts von drohendem Atomkrieg, Kernkraft und
Umweltzerstörung - zwangsläufig keine Zukunft mehr übrig.
Und letztlich scheint es so gekommen.
Heute ist die Zukunft tatsächlich ein kaum noch ernstzunehmendes
Flämmchen, das auf dem Altar des Konformismus geopfert wird.
Aus Idealen wurden Werte und aus Utopien Wachstum. Heute durchleben
wir das Remake des Szenarios der Achtziger, allerdings ganz ohne anstrengende,
ideologische Lagerkämpfe. Der Sozialismus ist tot, die Marktwirtschaft
ebenso! In einem unbemerkten Augenblick der Geschichte müssen
die ungleichen Geschwister sich das Lager geteilt haben, um einen
"Hybrid" zu zeugen, ein Monstrum, das den Streit
um einen verbesserungswürdigen Weg in eine lebenswertere Zukunft
überflüssig machte. Der Beiden inzestöser Nachfolger
nennt sich "Konformismus", der sich schamlos an dem
nährt, was einst Zukunft hieß.
Mit ihm hat sich die Einsicht herumgesprochen, dass Zukunft - ungeachtet
aller Ideale - sich einfach ereignet. Diesem Umstand ist dann damit
genüge geleistet, wenn man sich zu wappnen weiß. Seither
ist Vorsicht entscheidender als Wagemut, und aus "Fortschritt"
wurde im Fleischwolf der Subsistenzangst die "permanente Veränderung".
Deren Anforderungsprofil beschränkt sich auf Flexibilität
und ein Minimum an Erwartung. Mit dem Effekt, "wir verändern
uns, (...), doch haben wir nicht mehr den Eindruck, uns weiterzuentwickeln"
. Das meinte Ehrenberg aufgrund seiner Beobachtung, dass schon 1960
(!) die Tendenz aufkam, sämtliche Sozialisation in wichtigen
Teilen der Schule zu übertragen. Man glaubte, es genüge
nicht mehr dort nur zu unterrichten, sondern es sollte professionell
erzieherisch gewirkt werden.
Leider entpuppte sich das als Erfolgsmodell: Nicht nur dort hat sich
Outsourcing von Überlebenskompetenz fieberhaft verbreitet. Die
Institutionen, die die Gesellschaft seitdem hervorbrachte, nur um
den Lebensweg der Individuen gesellschaftlich zu "betreuen"
haben inflationär zugenommen. Von Kindergärten, Kinderhorten
über Kindertagesstätten ereignete sich eine Welle der Ausdifferenzierung
diversester Schul-, Weiterbildungs- und Lebens-Laufbahnen, die im
Dschungel der Institutionalisierung kaum noch zu überblicken
ist. Bis man schließlich mit Bachelor und Dualem Studium den
Abschluss zur nahtlosen Einberufung in die Erwerbstätigkeit erlangt.
Die Lücken werden enger, die Übergänge glatter, Schwellen
verschwinden und Absturzgefahren werden ausgeschlossen. Um jeglicher
latenten Versuchung individueller Positionsbestimmung vorzubeugen,
sind in den restriktiven Alltag dieser Lebenslaufbahnen ausreichend
Entspannungsreservoirs eingebaut. Mit Exkursionen, Klassenfahrten,
Vereinswochenenden, Musik- und Sportevents, Pauschalreisen, Cluburlaubprogrammen,
Abenteuerwochen, Kreuzfahrten, Sextourismustrips, Gruppentherapien
und "individualisierten" Religionsangeboten wird Abwechslung
und Ablenkung in durchorganisierter Manier eingeflochten. Der Selbstbefragung
und einer möglichen, damit einhergehenden metaphysischen Obdachlosigkeit
ist also vorgebeugt. Wenn es dann noch gelänge, die Versorgungsbetriebe
dazu zu bringen, sich der letzten Lebensjahrzehnte ebenso effizient
anzunehmen, wie der ersten, um rechtzeitiges Ableben attraktiv zu
machen, wäre der Kreis zum letzten Aufgehobensein vollends geschlossen
und wir müssten die Höhle der Konformisten nicht mehr verlassen.
Ein vorgefertigtes Leben halten wir den Jungen bereit, gespickt mit
Tagen des Exzesses und der Euphorie. Ausgelassenheit und Konzentration
werden in ausgeklügelter Gemengelage gehalten und ein gebührender
Eindruck von Individualität aufrechterhalten. Bei Bedarf können
Übermütige in "Ausreißer-Rollen" schlüpfen,
wozu man rechtzeitig das Sortiment der "Ranking-Spiele"
(des Wissens, des Sports, des Tanzes und der Musik) eingeführt
hat. Numerische Stufenleitern des Erfolgs eignen sich am effizientesten,
um Selbstbestimmung zu simulieren und den Ehrgeiz zu quantifizieren.
Zur Dämpfung des sublim anklingenden sozialdarwinistischen Gedankengutes
wird jedem Konkurrenz-Spiel die "Wir-Form" übergestülpt.
Zusammenhalt wird über die "Große Familie"
(ein Erbteil des Sozialismus) suggeriert: In Schulen, Firmen, Clubs,
Mannschaften, Vereinen und bald auch zwischen Institutionen und Nationen.
Die "Große Familie" speist sich von gemeinsam erzielten
Erfolgen, also völlig konträr zur biologischen Familie,
in der Zugehörigkeit unabhängig von Vorbedingung gewährleistet
ist. Umgekehrt erreichen diese Substitute derartige Attraktivität,
dass sich leibhaftige Familien als Mannschaften und Fangemeinden gerieren,
die sich an den Spielfeldrändern der Hungerspiele bemühen
dynastisches Denken unkenntlich zu machen.
Wir sehen betroffen, alle machen mit, den Heranwachsenden die Zukunft
zu stehlen. Indem man ihnen Glauben macht, über die Möglichkeiten,
wie man leben will, müsse man nicht mehr nachdenken. Wir haben
doch das Beste von beidem - Sozialismus und Kapitalismus - realisiert,
allein indem wir unser Selbst im Hegelschen Sinne aufgehoben haben.
Man könnte auch sagen aufgegeben haben. Dabei war es just jener
Hegel, der uns aufforderte, die Zukunft als unsere Aufgabe zu begreifen!
Oder mit den Worten Johnny Rottens: "Wenn du deine Zukunft
nicht selbst in die Hand nimmst, dann wirst du auch keine haben -
so einfach ist das." So reflektierend war in den Achtzigern
selbst noch der Punk!
Erst wenn der Einzelne in Eigenleistung beginnt Bevormundung als Eigenentscheidung
umzudeuten, sein Leben von Beginn an bereitwillig dem Erwerbsdruck
preiszugeben und in vorauseilendem Gehorsam sich in die Teilnehmerlisten
der Hungerspiele einzutragen, dann stellt sich die Frage, wie wir
leben wollen, nicht mehr. Und wenn uns obendrein die Autoren von Geschichten
vom besseren Leben wegsterben, werden wir kaum erwarten können,
dass unsere Kinder sich noch die Frage nach einem autonomen Selbst
stellen werden. Statt sich zu fragen, wie wollen wir leben, werden
sie sich nur noch wundern: Wie lebte es sich einst, mit einer Zukunft?
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