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Oh, wie war Fremdsein schön!
von Jürgen Mick

Das "Andere" und das "Fremde" sind zwei wesentlich unterschiedliche Kategorien. Hinter dem Fremden steckt der große Unbekannte. Der Andere ist immer schon unter uns, und er ist wie wir.

Jesus kam in der Fremde zur Welt. Seine Eltern waren in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt, um sich dort registrieren zu lassen (Volkszählung nannte man das) und waren paradoxer Weise in der Fremde gelandet. Zumindest ist überliefert, dass ihnen niemand ein Obdach zur Verfügung stellen wollte. Ein Skandal: Maria gebar in einem Viehstall! Zwischen Ochsen, Eseln und anderem Getier! Schlechte hygienische Verhältnisse und kein gutes Omen für eine bevorstehende Integration, aber sie hatten ja auch nicht beabsichtigt länger zu bleiben. Als Fremde waren sie nur zu Gast. Es war schließlich nur ein dummer Fall zeitlicher Koinzidenz, dass der Sohn in ihrer Heimat und in der Fremde zugleich das Licht der Welt erblicken musste. Als wäre es ein Stigma, sollte er für immer ein Fremder im eigenen Hause bleiben. Nun aus heutiger Sicht wird klar, da Immanuel Kant uns erklärte, dass ursprünglich … niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat als der andere, … dass wir alle Fremde sind und somit niemand nirgendwo mehr fremd ist. Worauf er, also Kant, hinaus wollte, ist die eine Weltgesellschaft, die mit der Moderne nun faktisch Wirklichkeit wurde. Oh, Fremde gibt es nicht mehr, lautet das Evangelium nach Kant. Und vielleicht bereits das nach Jesus.

Es hat begonnen zu schneien. Einsetzender Schneefall hat etwas sehr beruhigendes, er wirkt mildernd auf den Blick auf die Welt. Er scheint die Sorgen zu dämpfen, sie auf ein verträgliches Maß herunter zu kühlen. Darum vermissen wir an Weihnachten nichts mehr, als Schneefall, wenn er denn ausbleibt. Also wir, die wir nördlich der Alpen sozialisiert wurden. Erst Schnee, der wirkmächtigste Gemütsbesänftiger aus der Naturapotheke - neben Alkohol - sorgt dafür, dass an Heilig Abend das Fest des Friedens beginnt, an dem wir uns an eine unliebsame Heimkehrer-Familie aus Bethlehem erinnern, als sie uns einen Fremden gebar. Vermutlich sozialisierter Reflex aus neolithischer Zeit, als sich mit einsetzendem Schneefall die erste Zwangsruhigstellung ereignete. Deshalb sehe ich heute gerne zu, wie sich der Gehsteig langsam bedeckt, der Asphalt, das neuzeitliche Fundament aller Geschäftigkeit langsam verschwindet. Man weiß ja nie, woher etwas kommt, das meiste, das in unseren Köpfen spukt, stammt ja noch aus der Steinzeit. Es senkt sich der Geräuschpegel der Straße und gleichzeitig scheint sich das Hintergrundrauschen der Welt zurückzunehmen.

Bei uns auf dem Dorf begegnete man in meiner Kindheit kaum je einem Fremden. Und wenn, dann war dieser eindeutig zu identifizieren und meist - wie die Heilige Familie - nur temporär vor Ort. Nur dass natürlich vor unserer Tür nie eine heilige Familie stand. Für gewöhnlich bekamen wir es mit Hausierern , saisonalen Feldarbeitern und von Zeit zu Zeit auch mal mit Zigeunern zu tun. Alle blieben für gewöhnlich nur kurze Zeit. Was von jenen zu halten sei, entzog sich letztlich jedermanns Urteilskraft, was nicht daran hinderte es skeptisch zu betrachten und als geheimnisvoll zu bezeichnen. Aber so war das Unbekannte zumindest verbal gefasst und durch seine Bezeichnung quasi gebannt. Das Fremde wurde als Irritation und Störfaktor der dörflichen Gemeinschaft kenntlich gemacht. Es zu meiden entsprach folglich der allgemein verbreiteten Vorstellung von Vernunft. Zum Glück war man zivilisatorisch schon davon abgekommen, es auf der Stelle zu töten, wie das in früheren Stammesgesellschaften noch üblich gewesen war. Man verkaufte es stattdessen den Kindern als zur Vorsicht gemahnende Lebenserfahrung. Das Fremde funktionierte als erzieherisches Narrativ, so wie man es in Märchen didaktisch instrumentalisiert: Geh nicht mit den Fremden! Öffne keinem Fremden die Tür!

Das Fremde war die Ausnahme. Wenn es dann an der Haustüre klopfte, während ich allein Zuhause war, warf ich mich auf den Boden und getraute mich kaum zu atmen; damit das Fremde mich nicht sehen und hören könnte und glauben musste, es sei niemand da. Und am Ende lag es neben einem im Bett. Nein, Spaß beiseite, in der Regel wusste man einfach immer ganz genau, was jeder von jedem im Ort dachte. Das musste man nicht als angenehm empfinden, auch wenn einem genau das alle glauben machen wollten. Ganz anders, wenn wir in die Stadt fuhren, wo man es schlagartig, beinahe nur mit Fremden zu tun hatte. Oder war hier aus genau dieser Tatsache heraus keiner fremd? Weil man sich stillschweigend dahingehend geeinigt hatte, zu akzeptieren, dass man nicht wissen kann, was der andere von einem denkt. Ja, das war ein beeindruckender Ort, an dem man die Freiheit seiner Identität wieder zurückbekam.

Still und schweigsam war es auf den Straßen der Stadt, bei all dem Tumult, man grüßte sich nicht! Auf dem Dorf ein Affront, hier wäre mein Vater mit dem Lüften des Hutes nicht nachgekommen. Hier pflegte man routiniert die institutionalisierte Einübung des Umgangs mit Fremden und für mich war es die erfrischende Erfahrung, dass sich Unterscheidungen willkürlich auflösen können, und nichts so ist, wie es ist, ohne sein Gegenstück. Man brauchte lediglich den Ort zu wechseln. Zuhause auf dem Dorf "sorgten" die Fremden für Ordnung und Überschaubarkeit. Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein kannten oft keine andere Basis als den Widerspruch der Zugehörigkeit. Die Grenze zwischen wir und die Fremden sorgte für die regelmäßig aufzufrischende Selbstversicherung. Wir sind die Innenseite, zu der es ein Außen gibt: "Wir sind wir", und der Rest ist uns fremd und das ist gut so!

Dennoch gehörte es dazu, den Umgang mit Fremden zumindest temporär zu erproben. Man lernte, dass man sie durchaus ansprechen darf, um sie etwas zu fragen, dass man in ihren Dunstkreis treten und aktiv die Annäherung suchen kann, ohne "aufgefressen zu werden". Damit diente der Fremde, neben der Mahnung zur Vorsicht, dem Heranwachsenden im besten Sinne zur Reife. Der Umgang mit Fremden war Trainingsgebiet für notwendig zu erwerbende Menschenkenntnis, wie man glaubte. Wenn es auch nur für den unwahrscheinlichen Fall sei, dass man sich irgendwann in die weite Welt hinaus wagen sollte. War doch der Fremde jener Akteur, an dem offensichtlich wurde, was im Verstehen anderer als Problemfeld nicht aus der Welt zu schaffen ist: Man kann nicht wissen, was der andere denkt, was ich denke! (Ausgenommen in einem Dorf wie unserem) Eine Begegnung mit einem Fremden bedeutet, das Ferne so nah, die Nähe so fern.

Die Weihnachtsmarktstandbetreiber werden erfreut sein über den Schneefall. Das steigert den Umsatz. Der Weihnachtsmarkt läuft sich schon seit Mitte November warm, aber das Wetter war viel zu mild für die Jahreszeit. Dabei fragt man sich, was ein Markt mit Weihnachten zu tun haben mag. Wo Jesus sich doch deutlich für eine Trennung von Geld und Glaube ausgesprochen hat. Die Gedanken bereiten mir unweigerlich Hungergefühle.

Man konnte einen Fremden also als Freund gewinnen. Das war doch einigermaßen erstaunlich und unerwartet. Aus dem Fremden wurde dann ein Bekannter und irgendwie war das mit einem Gefühl der Freude verbunden. Seltsam empfand ich es eigentlich nur, dass diese Entwicklung sich ebenso gut in entgegengesetzter Richtung vollziehen konnte. Und dass sie sich ereignete, ohne dass man derartiges beabsichtigte, noch dass man selbst groß etwas dazu tat, und dass sie nicht Freude, sondern Schmerz bereitete. Man konnte ein Fremder werden, ohne sich auch nur einen Schritt entfernt zu haben. Mit keinem Moment hatte man in Erwägung gezogen, sich zu verändern und gegen alle Absicht wurde man der Fremde, dem man mit Vorbehalt begegnete. In der Heimat zum Fremden zu werden, ist quasi eine urchristliche Erfahrung, ohne blasphemisch sein zu wollen.

Innovation ereignet sich nicht selten durch die Erfahrung des Fremdseins, des sich Fremdfühlens. Das ist die Erfahrung, die Jesus der Gesalbte am ersten Tag seines Lebens gemacht hat. Von weit angereiste Verehrer mögen ihn in den ersten Tagen noch darüber hinweg getröstet haben, dass aus dem Dorf Bethlehem selbst nicht eine Menschenseele ihn besucht hatte. Zumindest steht davon nirgendwo etwas geschrieben. Wildfremde Menschen drängten sich stattdessen um seine heugestärkte Bettstatt. So nah und doch so fremd. Maria schwante wohl, was es damit auf sich haben mochte. Ihr musste spätestens jetzt dämmern, dass etwas dran war, an ihren Träumen, die sie ihrem Ehemann verschwiegen hatte. Ja, der arme Josef muss einem wirklich leidtun. Er muss sich gefühlt haben, wie in einem falschen Leben. Seine Frau wird ohne sein Zutun schwanger, in seiner einstigen Heimatgemeinde schlägt man ihm reihenweise die Tür vor der Nase zu und lässt ihn allein mit seiner in den Wehen liegenden Frau in einem Viehstall nächtigen. Am nächsten Tag steht zudem noch eine Abordnung der Weltgesellschaft vor ihm, als er mit seinem frisch geborenen Sohn auf dem Arm an die frische Luft will.

Ich ziehe die Vorhänge zu. Ich verspüre Unruhe. Es ist noch zu früh, um sich mit einem Buch in den Lesesessel zurückzuziehen. Mir ist überhaupt nicht nach lesen. Vielleicht habe ich jetzt tatsächlich Hunger.

Ein Fremder Zuhause und ein Freund in der Welt. Der arme Josef. Kann sich das gegenseitig aufwiegen? Oder muss einen das nicht in den Wahnsinn treiben? Das ist wohl die Frage, mit der sich in unseren Tagen die gesellschaftliche Prominenz herumschlägt. Das Heimtückische an der Fremdheit ist, sie setzt eine relative Geschlossenheit von Sozialsystemen voraus, wie eben in einem Dorf alla Bethlehem oder Braunschlag, und sie erzeugt sie zugleich. Zugehörigkeit korrespondiert sehr stark mit dem Fremden. Mit der Einigung auf Kant und den Tatbestand, dass wir alle einer einzigen Spezies angehören und dass deren Entstehung auf einen einzigen Ort und einzigen weltgeschichtlichen Moment zurückgeht, lässt es sich einfach immer schwerer glaubhaft darlegen, dass "der Fremde" wirklich fremd sein kann. Oder dass vielmehr alle Fremde sind, in den Augen der jeweils Anderen. Ja, der Fremde ist seit geraumer Zeit vom Aussterben bedroht. Nur in vorwiegend agrarisch geprägten Gegenden mit einer von der Subsistenzwirtschaft geprägten Bevölkerung dürfte "das Fremde" noch lange Zeit sein Residuum finden.

Darum ist Jesus auch kurze Zeit später mit seinen Eltern nach Jerusalem seiner Wahlheimatstadt zurückgekehrt. So wie auch meine Wahlheimat irgendwann die Stadt wurde, in der ich niemanden kenne. Das Fremde lieben wegen seiner Fremdheit, habe ich mir gesagt und nicht das Fremde lieben zur eigenen Selbstversicherung. Die eindeutige Unterscheidung des "Fremden" macht in unseren modernen Zeiten keinen Sinn mehr. Sie weicht daher unbehelligt einer gefühlsmäßigen, unentschiedenen Gemengelage gegenüber dem "Anderen". Wir erfahren in einer Welt, in der man prinzipiell jeden Tag einer Abordnung der Weltgesellschaft gegenüber steht, also jedem begegnen kann, dass - trotz der Tatsache, dass wir alle gleich sind und uns gerne der Spezies Mensch zurechnen - selbstredend (trotz Kant) nicht jeder jeden kennen kann und (Facebook zum Trotz) nicht jeder mit jedem befreundet sein kann!

Darum gehe ich jetzt hinaus und ziehe meine Kapuze über den Kopf. Wind treibt mir Schnee ins Gesicht. Die Vielschichtigkeit bei gleichzeitiger Oberflächlichkeit jeder Begegnung verlangt nach effektiven Verhaltensmustern. Meine Ohrhörer machen mir die Umwelt zum Video-Clip. Alles in Zeitlupe, versteht sich:

Alles für mich / es spricht mich nicht an. / Der unbekannte Fremde / ist dem opaken Anderen gewichen. / Der sich mir zur Staffage / meines Soundtracks des Lebens / gesellt. / Wir haben eine oder jede / Unterscheidung verloren, / vermissen sie nicht einmal, / die Fähigkeit zu unterscheiden, / das macht es nicht leichter / zu wissen, wer wir sind. / Auch diese Unterscheidung / war nur dazu da, / um sie zu kreuzen, / nicht nur die Finger. / Den Fremden nicht zu dissen / kennenzulernen / ihn einzuladen, / zum Gast zu machen. / Alter, was geht?

Alter, eine Schar Kinder kostümiert in einer Mischung aus Königs- und Tierverkleidungen kommt mir entgegen. Der Größte trägt einen goldenen Stern, den er an eine Holzstange montiert hat. Hinterdrein schlürfen die übermotivierten Heli-Eltern, die mich an einen Versorgungstrupp bei der Tour de France erinnern und den vorauseilenden Zöglingen das Wasser nachtragen. Sie haben sich wohl im Kalender geirrt. Teile der Maskerade dürften noch von Halloween übergeblieben sein. Sie suchen nicht nach Einlass und das Mohrengesicht ist auch nur halbherzig fertiggestellt. Der Schneefall wird stärker. Er macht die Musik immer weicher. Alles wirkt wie komponiert. Das ist es doch auch alles. Alles komponiert! Wir haben uns unsere Welt mit solcher Sorgfalt zusammenkomponiert, dass wir uns in ihr am liebsten vergraben würden. Der Schuhdiscounter hat wohl nicht mit dem Winterwetter gerechnet. Der Auszubildende rollt die eingeschneiten Schuhregale von der Straße zurück ins Ladenlokal. Nebenan steht auch noch die komplette Bestuhlung des Cafés auf der Straße. Bei dem milden Herbst tat man sich schwer, zu glauben, dass es doch noch irgendwann Winter wird.

Der Andere ist von vornherein wie wir! Man muss damit rechnen, dass er sich als unfreundlich oder gar als Feind entpuppt. Pauschaler Argwohn ist eine plausible Alternative. Der Fremde ist zum Anderen und als solcher zum Verdächtigen mutiert. Er ist potentieller Feind an meinem Tisch und selbst in meinem Bett; während man mit Fremden - wir erinnern uns - prinzipiell nicht schlief! So mündet Kants neuzeitlicher Traum von der Gleichheit der Menschheit zugegebener Maßen mit der knallharten Moderne zuerst einmal in einer ersten globalen Verunsicherung und nicht unmittelbar in einem ultimativ zwischenmenschlichen Vertrauensverhältnis. Aber von einfach hat auch keiner etwas gesagt.

An der Fassade der Bank laufen die Leuchtbänder der Aktienkurse durch. Sie wirken weihnachtlich in ihrem grobmotorigen Flackern. Und stören sich gar nicht mit dem angrenzenden Weihnachtsmarkt. Bratwurstgeruch verändert die Handlung meines Life-Streams. Die störende Frage, wie es Bratwürste geschafft haben, in das Sortiment der nicht mehr wegzudenken Weihnachtsutensilien zu gelangen, lässt mich nur noch die Nässe spüren, die sich mir ins Schuhwerk drängt. Es war eindeutig Hunger, der mich instinktiv hierher geleitet hat und nichts wäre jetzt wichtiger, als diesem Bedürfnis nachzugeben.

Der Andere ist vom Wesen her ein Konkurrenten. Weil man auf Grund der Tatsache, dass er so ist, wie man selbst, davon ausgehen kann, dass er auch das will, was wir wollen! Er will unsere Arbeit, unsere Frauen, unser gutes Leben, unsere Bratwurst! Es ist doch ein gutes Leben! Besser kann man es nicht komponieren. Jetzt ist mein Hunger nicht mehr wegzudiskutieren.

Der Schwarze vor mir reicht dem Bartwurstverkäufer eine Essensmarke. Leider zeitigen diese Unsicherheiten bei den Labilen unserer Zeitgenossen Verlustängste. Uns bleibt doch immerhin noch der Alkohol. In dem Moment in der Warteschlange erscheint es mir unplausibel und zumindest wenig geschäftstüchtig, dass man sich hier überall extra anstellen muss, um zu seiner Bratwurstsemmel gleichzeitig einen Glühwein zu bekommen. Der Schwarze vor mir wird nun verbal etwas lauter. Augenscheinlich scheint ihm der Bratwurstverkäufer die gewünschte Wurstsemmel zu verweigern. Heftiges Kopfschütteln, heftiges Schütteln der zwischen zwei Semmelhälften eingeklemmten, schwarzbraunen Würstchen unterstreichen die Absicht des Würstchenbudenbetreibers, das Gewünschte partout nicht aushändigen zu wollen. Ich ziehe langsam, etwas genervt vom Warten, meine Stöpsel aus dem Ohr, um der Meinungsverschiedenheit mit allen Sinnen beiwohnen zu können.

Die Rede ist immer sehr rasch von disprivilegierten Populationen. Auch wenn er hier ganz konkret sich in der Wortwahl rudimentärer Ausdrücke bedient, muss man beobachten, dass sofort subhumane Klassifikationen ihren Nährboden finden, sobald man gezwungen ist, zur Kenntnis zu nehmen, dass Unterschiede einfach nicht mehr existieren. Da spürt man wie sich die Sehnsucht nach beruhigend unterkomplexer Zeit ihre Bahn bricht, die die Gemüter verwirrt und ihnen die Möglichkeit raubt, besonnen zu bleiben. Der Gutschein sei nicht gültig, schreit der Wurstverkäufer schließlich unüberhörbar über die Köpfe der Wartenden hinweg. Oder nicht mehr gültig, oder nur für ihn nicht gültig, so genau verstehe ich den Wortschwall des grobschlächtigen Mannes hinter seiner Wurstgirlande nicht, der anschließend zu allem Überfluss anfängt auf "Ausländisch" zu kommunizieren. "Nix Bratwurst!" / "außerdem Schwein!"

Wenn sie das Recht auf ihrer Seite behaupten, die Geschichte bemühen und heilige Ansprüche formulieren, dann allein - so bin ich mir sicher -, weil sie ihrer Verzweiflung über das Verschwinden der Fremden nicht mehr Herr werden. Ihnen Fremdenhass zu unterstellen, hieße ihnen da wahrlich Unrecht tun. Das Gegenteil ist der Fall: Sie lieben das Fremde, sie bräuchten es so dringend zurück, wie wir bei uns auf dem Dorf. Sie erschrecken sich vor "dem Anderen" so sehr, dass sie unermüdlich und beinahe ausschließlich damit beschäftigt sind, jede Gelegenheit zu finden, erneut Fremde zu identifizieren! Zum Glück gibt es noch unterschiedliche Hautfarben, um sich wenigstens auf diesem Wege ein kleines Stück Fremdsein zu bewahren, wenigstens an Weihnachten.

"Geht es jetzt bald mal voran?!", rufe ich dazwischen.

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20.12.2015

 

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