Die
Idee »Europa«
Eine Geschichte
des Reisens
von
Jürgen Mick
Wer
etwas von der Idee »Europa« spüren will, der solle
Soldatenfriedhöfe besuchen, heißt es. Er kann aber auch eine
Erzählung des verehrten Herrn Voltaire zur Hand nehmen, die da
heißt: »Geschichte der Reisen Scarmentados«.
Darin unternimmt der so seltsam benannte junge Mann Reisen, aus dem
einfachen, aber heute wohl nur noch schwerlich nachzuvollziehenden Grunde,
seinen Wissensdurst stillen zu wollen und die Wahrheiten über unseren
Zustand auf Erden zu erfahren!
Vielleicht
ist uns das Reisen abhandengekommen? Vielleicht aber auch nur der Wissensdurst.
Die Welt ist klein geworden, der Kopf zu voll, die Fakten auf dem Nachttisch,
zumindest auf dem darauf ruhenden Laptop abgreifbar. Da bleibt keine
Kehle mehr trocken. Wer den Computer öffnet wird einem Fakten-Boarding
unterzogen, dass es nicht wundern mag, wenn man alsbald die Schnauze
voll hat und auf Wissensdurst nichts gibt.
Das
eigene Bett muss nicht verlassen werden, um Bescheid zu wissen, über
die Weltöffentlichkeit. Alles reicht bis zu uns heran, alles, das geschieht,
greift scheinbar bis in unser Leben tief hinein. Dass es gar schwerer
wird, uns zu verbergen, als uns zu zeigen. Wozu also noch ausfahren,
wozu noch verreisen? Wir Reisen - wenn man so will - virtuell, tagtäglich
mit unserem Smartphone in der Hand ohne uns vom Fleck bewegen zu müssen.
Dennoch
gibt es möglicherweise Gründe für eine physische Bewegung, für das wortwörtliche
Ab-Fahren einer Strecke und das tatsächliche Be-Greifen. Vielleicht
lässt sich nur auf diese alte Weise so etwas, wie die Idee »Europa«
nachvollziehen und verstehen?! Indem man einen Fuß vor den anderen setzt,
ganz physisch und handgreiflich ausfährt, um zu begreifen, was einen
umgibt. Wenn man die Schnauze voll hat, von all den Fakten, die man
einem ungefragt ins Haus kübelt, dann sollte das doch ein Grund mehr
sein, sich aufzumachen, um Erde und Asphalt unter den Füßen zu spüren
und den Winden und Wolken zu folgen (anstatt einer Smartphone-App!)
Dann sollte man wieder Menschen begegnen und selbst entscheiden, ob
sie einem fremd vorkommen, oder doch ähnlich sind, sympathisch oder
unangenehm erscheinen. Die Straßen und Wege gehen, die Berge überqueren
und auf das Meer hinausschauen, das uns umgibt, die Zeugen aufsuchen,
die von einer Vergangenheit erzählen, die auch unsere Geschichte sein
könnte, das sollte Auftrag sein für einen jeden jungen Geist.
Leider
ist bis jetzt nichts aus der Idee des Europaparlamentes geworden, jedem
Volljährigen ein Inter-Rail-Ticket zum 18. Geburtstag zu schenken. Dabei
wäre genau das, der Moment, in dem man unbefangen und frei losziehen
könnte, um zu entdecken, wovon man so oft hörte, aber sich beileibe
keine Vorstellung machen konnte: Von Europa, der abstrakten, nicht eindeutig
abgrenzbaren, kontinentalen Halbinsel, der stierreitenden Jungfrau,
die sich Zeus nicht zu verweigern vermochte, der seltsam uneinigen Einheit
von vielen, dem Vielvölker-Staat? Es ist die Zeit, in der man in Ruhe,
- während man auf öden Bahnhöfen, von denen die Welt noch nie gehört
hat, der Weiterreise harrt, oder in verschwitzten, unklimatisierten
Zugabteilen einem unbekannten Ziel entgegen döst - und man einfach mal
die Zeit hat, drüber nachzudenken, was Europa eigentlich ist und was
es bedeuten kann.
Die Idee »Europa« stammt nämlich von Leuten, die sich mit
Muskelkraft um ihr Überleben kümmern mussten. Sie stammt von Menschen,
die bereit waren ihr Blut dafür zu vergießen, dass man einmal sorglos
- das war keineswegs immer so - durch die Wälder streifen kann. Sie
stammt von Fischern und Bauern, denen Grenzen immer schon als willkürlich
vorkamen. Die Idee »Europa« ist alt geworden, mit uns, den
Analogen, die wir die letzten waren, die ausfuhren, losliefen und es
einfach nur faszinierend fanden, unter stillgelegten Schlagbäumen unbehelligt
hindurchzufahren.
Wir
liebten die dramatisch, lieblich oder ruppig klingenden - auf jeden
Fall unverständlichen - Sprachmelodien, die zerknitterten, unbekannten
Geldscheine fremder Nationen. Auch die andersartigen Gesichter, Nasen
und Münder und das Lachen und Zetern, das man, Gott sei Dank, nicht
verstand, mochten wir noch viel mehr. Das Fremde, auf das man zuging,
das so nah war, geheimnisvoll, oder sogar verheißungsvoll, lockte und
wir frohlockten; - ohne zu wissen, wie vielen Menschen wir dafür dankbar
sein mussten, weil es allemal höchst unwahrscheinlich ist, dass Ideen
Wirklichkeit werden. Das geschieht meist nur dann, wenn einfache Menschen
lange Zeit bereit sind, alles dafür zu geben.
Und
vielleicht würde die eine oder der andere Inter-Railer bei Gelegenheit
dann doch mal an einem Soldatenfriedhof vorbeischauen.
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