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Lebe wohl
ESSAYS
ZU INDIVIDUUM, LEBEN UND GESELLSCHAFT

 
Tyrannei der Inklusion (Teil 2)
Tyrannei der Inklusion (Teil 1)
Altruistische Entsolidarisierung
Lob des Dilettanten
Zombies kommen ...
Anderssehen
Back to Uterus
Prometheus´ Reue
Unseren Wert gib uns heute
Das Individuum ist müde
Im Kokon
»Krise« ist ein schönes Wort
Alles Könige
»Trainergesellschaft«
Kinder des Olymps
EXIT oder Leben und Sterben ...
"Mensch, wie alt bist Du?"

 

Im Kokon
Wie eine absolute Gegenwart
von Jürgen Mick

Ein Wort zum Status Quo: Eingeschweißt in den Kokon von multilingualen Organisationsschemata hängen die "Einzelnen" monadenartig im virtuellen Netz der Versorgtheit. Ob sie sich dabei als Insekt oder Spinnentier fühlen, mag ihnen überlassen bleiben. Sich im Netz zu befinden wird mittlerweile als Lebensbasis empfunden. Aus dem Kokon zu fallen bedeutet schlicht den Tod. Ein Leben neben der Gesellschaft ist undenkbar, die Systemgrenzen mentaler Verfasstheit tragen auch in diesem Falle dafür Sorge, dass ausnahmslos alle involviert sind und bleiben. Abtrünnigen wird die Lebensgrundlage entzogen. Die Vogelfreien werden eine erneute Renaissance erleben. Der Mensch als wildes Tier wiederbelebt und zum Abschuss freigegeben. Die Situation wird vergleichbar mit dem Verbannungsurteil in antiken Gesellschaften. Liebe als Leidenschaft zu empfinden wird absurd erscheinen, ebenso wie die Vorstellung den Fortpflanzungstrieb auf so etwas irrationales wie die Liebe zu gründen. Man muss sich dabei die veränderte Verständnislage vergegenwärtigen. Keinesfalls darf man annehmen ein derartiges Verhalten würde dann als Mangel von Romantik oder Gefühl begriffen, vielmehr wird unverständlich erscheinen, wie man sich einst so irrational und unverantwortlich verhalten konnte, wie zu Zeiten des Humanismus, als man die Vernunft doch fest für gepachtet glaubte. Der Mensch als liebendes, solidarisches, befreundetes, und andererseits als betrügendes, hintergehendes, wie auch tötendes Wesen, als gefühlsduseliges Wesen sich selbst in die Zwickmühle zwischen Vernunft und Emotion getrieben, erscheint aus dieser Perspektive unfassbar primitiv, und unterentwickelt.

Die Aufregung um Freiheit und Verlorenheit, Liebe und Hass, Freundschaft und Feindschaft ist unverständlich und kann nur einem Irrtum geschuldet erschienen, einem Nichtwissen, so wie wir heute kaum begreifen, wie man allen Ernstes befürchten konnte mit seinem Boot von der Erdscheibe zu rutschen. Der überfällige Dualismus und die Dialektik des Diskurses kann man nur noch als Ballast empfinden, in einer Welt in der es sich ausdiskutiert hat. Geplapper eines halben Jahrtausends, das endlich verstummt ist, weil es sowieso nie etwas anderes bewirkte als Missverständnisse. Stattdessen brach endlich ein pragmatisches, handlungsstarkes Zeitalter des Lebensmanagements an. Was einst dem Nationalstaat versuchsweise auferlegt war, wird nun von kompetenten und sich nicht selbst einschränkenden Institutionen abgewickelt. Hyperterritorial wird der Globus abgedeckt, die letzte räumliche Grenze ist eliminiert und Kultur kann sich aterritorial ausformulieren.

Der Mensch ist verabschiedet, seine Bücher archiviert und gescannt, seine Musik und seine Filme als Datei verfügbar. Seine Bauwerke dienen der Erinnerung, an eine Zeit, da man noch bluten musste, um zu wissen, dass man lebt. So etwas Verrücktes kann sich keine Seele mehr vorstellen; die künstliche Härte und Anstrengung die Erfolg legitimierten. Leistung, die sich messen lassen musste. Askese und Artistik muten an wie pseudoreligiöse Ausweichhandlungen. Man glaubte an die Vernunft! Anstatt sie zu verwirklichen und konsequent durchzusetzen stand man habituell noch mit einem Fuß in religiösem Mutterboden; der Schritt zur umfassenden Selbstreflexion noch weit.

Dass man selbst mit der Umwelt nichts zu tun hat, hat kaum einer je wirklich verstanden und bedeutete logischerweise für die Masse eine unüberwindbare Klippe. Erst über die Rundumversorgung gelang es ins Boot zu holen und zu überreden, was noch auf festem Terrain sich verwurzelt glaubte. Unbemerkt wurde umgarnt, was bewusst den Schritt auf ewig verweigert hätte. Die Epoche des mit sich machen Lassens, die Epoche der Passivität ist angebrochen und wird viel Schaden abwenden. "Nicht lange darüber reden, verführen!", heißt seit jeher das Motto der Weltgeschichte. Zur Wahl stand immer nur Leben oder Leben? Da entscheidet man sich dann für Leben! Heute denkt niemand mehr darüber nach, wie es gewesen sein muss, zu Zeiten, als der Mensch geglaubt hat, das Draußen habe etwas mit dem zu tun, was man wahrnehme. Die zweite Kopernikanische Wende hat ihre Vollendung zweihundert Jahre später gesellschaftlich vollzogen, da man den Menschen die "Sorge um sich" aus der Hand nahm. Auf diese Weise hat man IHN eliminiert und sein Wesen transzendental umgestrickt. Es geschieht augenscheinlich nur, was in meiner Wahrnehmung geschieht. Nur was ich konstruiere ist real. Lass uns konstruieren, was uns gefällt! Die Sorge läuft uns nicht mehr voraus in die Zukunft, wie Heidegger seinerzeit diagnostizierte, sie ist outgesourct, wir zahlen dafür. Nicht jeder bringt das System mittels seiner Handlungen unmittelbar in Mitleidenschaft. Also keine Angst! Handlungen des Einzelnen werden transponiert und gefiltert, werden auf reduzierte kontrollierte Operationen des Systems gegenüber der Umwelt reduziert und somit für das System berechenbar.

Alles wird alt sein, uninteressant für die Masse, relevant allenfalls für Historiker. Wie eine absolute Gegenwart muss eine Epoche an ihrem Bruch zur Vergangenheit aufleuchten. Die Kunst, die Literatur, die Wissenschaft, die Jurisdiktion und alles andere, werden sich als obsolet darstellen. Die Bücher will niemand mehr mit Leidenschaft lesen, der Typus ist unverständlich, die Sprache mit seltsamen Vokabeln durchsetzt. Niemand wird sich mehr um die Werte als solche bemühen, sie werden nur noch besprochen wie esoterische Zeichen. Kultur wird nur erklärlich bleiben, begreifbar im wörtlichen Sinne, für diejenigen, welche ihre mentale Grundlage noch nachzuvollziehen in der Lage sind. Die anderen greifen in die Leere. Für sie wird Kultur zum Kult.

Die Geisteshaltung eines Volkes bestimmt deren Äußerungen und mit ihrem Verlust wird alles auf ihr Basierende sinnlos. Dass Sinn so mannigfaltig sich gestalten kann, wird beim übergreifenden Blick auf diverse Kulturen plausibel. So ereignet sich die Wende zum Posthumanismus, wie viele andere vor ihr: Nur als Epochenbezeichnung will uns dieser Begriff dann über die Lippen. Der Begriff "Humanismus" ist für uns nicht mit Wert an sich angereichert ist. Der Blutzoll der ihm geschuldet ist, ist vergessen. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Errungenschaft der Menschenrechte und die Verteidigung der Gleichberechtigung ein unumstößliches und höchstes Gut darstellen. Dabei tun wir uns schwer mit diesen Begriffen. Und wie die Leichenfledderer legen wir Schritt für Schritt ihre negativen Seiten offen. Ein weiteres kulturelles Gebäude, das wir mit einem Wimpernschlag preisgeben. Der Sog ist verebbt, die Wirkung verblasst, der Attraktor vom mental-psychologischen Horizont verschwunden, wie eine Fata-Morgana im Wüstensand. Alles ist voll schreiender Stille, wie in einer absoluten Gegenwart.

25.06.14

 

 
 
 
 
 

 

 
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