Im
Kokon
Wie eine absolute Gegenwart
von Jürgen Mick
Ein
Wort zum Status Quo: Eingeschweißt in den Kokon von multilingualen
Organisationsschemata hängen die "Einzelnen" monadenartig
im virtuellen Netz der Versorgtheit. Ob sie sich dabei als Insekt oder
Spinnentier fühlen, mag ihnen überlassen bleiben. Sich im
Netz zu befinden wird mittlerweile als Lebensbasis empfunden. Aus dem
Kokon zu fallen bedeutet schlicht den Tod. Ein Leben neben der Gesellschaft
ist undenkbar, die Systemgrenzen mentaler Verfasstheit tragen auch in
diesem Falle dafür Sorge, dass ausnahmslos alle involviert sind
und bleiben. Abtrünnigen wird die Lebensgrundlage entzogen. Die
Vogelfreien werden eine erneute Renaissance erleben. Der Mensch als
wildes Tier wiederbelebt und zum Abschuss freigegeben. Die Situation
wird vergleichbar mit dem Verbannungsurteil in antiken Gesellschaften.
Liebe als Leidenschaft zu empfinden wird absurd erscheinen, ebenso wie
die Vorstellung den Fortpflanzungstrieb auf so etwas irrationales wie
die Liebe zu gründen. Man muss sich dabei die veränderte Verständnislage
vergegenwärtigen. Keinesfalls darf man annehmen ein derartiges
Verhalten würde dann als Mangel von Romantik oder Gefühl begriffen,
vielmehr wird unverständlich erscheinen, wie man sich einst so
irrational und unverantwortlich verhalten konnte, wie zu Zeiten des
Humanismus, als man die Vernunft doch fest für gepachtet glaubte.
Der Mensch als liebendes, solidarisches, befreundetes, und andererseits
als betrügendes, hintergehendes, wie auch tötendes Wesen,
als gefühlsduseliges Wesen sich selbst in die Zwickmühle zwischen
Vernunft und Emotion getrieben, erscheint aus dieser Perspektive unfassbar
primitiv, und unterentwickelt.
Die
Aufregung um Freiheit und Verlorenheit, Liebe und Hass, Freundschaft
und Feindschaft ist unverständlich und kann nur einem Irrtum geschuldet
erschienen, einem Nichtwissen, so wie wir heute kaum begreifen, wie
man allen Ernstes befürchten konnte mit seinem Boot von der Erdscheibe
zu rutschen. Der überfällige Dualismus und die Dialektik des
Diskurses kann man nur noch als Ballast empfinden, in einer Welt in
der es sich ausdiskutiert hat. Geplapper eines halben Jahrtausends,
das endlich verstummt ist, weil es sowieso nie etwas anderes bewirkte
als Missverständnisse. Stattdessen brach endlich ein pragmatisches,
handlungsstarkes Zeitalter des Lebensmanagements an. Was einst dem Nationalstaat
versuchsweise auferlegt war, wird nun von kompetenten und sich nicht
selbst einschränkenden Institutionen abgewickelt. Hyperterritorial
wird der Globus abgedeckt, die letzte räumliche Grenze ist eliminiert
und Kultur kann sich aterritorial ausformulieren.
Der
Mensch ist verabschiedet, seine Bücher archiviert und gescannt,
seine Musik und seine Filme als Datei verfügbar. Seine Bauwerke
dienen der Erinnerung, an eine Zeit, da man noch bluten musste, um zu
wissen, dass man lebt. So etwas Verrücktes kann sich keine Seele
mehr vorstellen; die künstliche Härte und Anstrengung die
Erfolg legitimierten. Leistung, die sich messen lassen musste. Askese
und Artistik muten an wie pseudoreligiöse Ausweichhandlungen. Man
glaubte an die Vernunft! Anstatt sie zu verwirklichen und konsequent
durchzusetzen stand man habituell noch mit einem Fuß in religiösem
Mutterboden; der Schritt zur umfassenden Selbstreflexion noch weit.
Dass
man selbst mit der Umwelt nichts zu tun hat, hat kaum einer je wirklich
verstanden und bedeutete logischerweise für die Masse eine unüberwindbare
Klippe. Erst über die Rundumversorgung gelang es ins Boot zu holen
und zu überreden, was noch auf festem Terrain sich verwurzelt glaubte.
Unbemerkt wurde umgarnt, was bewusst den Schritt auf ewig verweigert
hätte. Die Epoche des mit sich machen Lassens, die Epoche der Passivität
ist angebrochen und wird viel Schaden abwenden. "Nicht lange darüber
reden, verführen!", heißt seit jeher das Motto der Weltgeschichte.
Zur Wahl stand immer nur Leben oder Leben? Da entscheidet man sich dann
für Leben! Heute denkt niemand mehr darüber nach, wie es gewesen
sein muss, zu Zeiten, als der Mensch geglaubt hat, das Draußen
habe etwas mit dem zu tun, was man wahrnehme. Die zweite Kopernikanische
Wende hat ihre Vollendung zweihundert Jahre später gesellschaftlich
vollzogen, da man den Menschen die "Sorge um sich" aus der
Hand nahm. Auf diese Weise hat man IHN eliminiert und sein Wesen transzendental
umgestrickt. Es geschieht augenscheinlich nur, was in meiner Wahrnehmung
geschieht. Nur was ich konstruiere ist real. Lass uns konstruieren,
was uns gefällt! Die Sorge läuft uns nicht mehr voraus in
die Zukunft, wie Heidegger seinerzeit diagnostizierte, sie ist outgesourct,
wir zahlen dafür. Nicht jeder bringt das System mittels seiner
Handlungen unmittelbar in Mitleidenschaft. Also keine Angst! Handlungen
des Einzelnen werden transponiert und gefiltert, werden auf reduzierte
kontrollierte Operationen des Systems gegenüber der Umwelt reduziert
und somit für das System berechenbar.
Alles
wird alt sein, uninteressant für die Masse, relevant allenfalls
für Historiker. Wie eine absolute Gegenwart muss eine Epoche an
ihrem Bruch zur Vergangenheit aufleuchten. Die Kunst, die Literatur,
die Wissenschaft, die Jurisdiktion und alles andere, werden sich als
obsolet darstellen. Die Bücher will niemand mehr mit Leidenschaft
lesen, der Typus ist unverständlich, die Sprache mit seltsamen
Vokabeln durchsetzt. Niemand wird sich mehr um die Werte als solche
bemühen, sie werden nur noch besprochen wie esoterische Zeichen.
Kultur wird nur erklärlich bleiben, begreifbar im wörtlichen
Sinne, für diejenigen, welche ihre mentale Grundlage noch nachzuvollziehen
in der Lage sind. Die anderen greifen in die Leere. Für sie wird
Kultur zum Kult.
Die
Geisteshaltung eines Volkes bestimmt deren Äußerungen und
mit ihrem Verlust wird alles auf ihr Basierende sinnlos. Dass Sinn so
mannigfaltig sich gestalten kann, wird beim übergreifenden Blick
auf diverse Kulturen plausibel. So ereignet sich die Wende zum Posthumanismus,
wie viele andere vor ihr: Nur als Epochenbezeichnung will uns dieser
Begriff dann über die Lippen. Der Begriff "Humanismus"
ist für uns nicht mit Wert an sich angereichert ist. Der Blutzoll
der ihm geschuldet ist, ist vergessen. Wir sind der festen Überzeugung,
dass die Errungenschaft der Menschenrechte und die Verteidigung der
Gleichberechtigung ein unumstößliches und höchstes Gut
darstellen. Dabei tun wir uns schwer mit diesen Begriffen. Und wie die
Leichenfledderer legen wir Schritt für Schritt ihre negativen Seiten
offen. Ein weiteres kulturelles Gebäude, das wir mit einem Wimpernschlag
preisgeben. Der Sog ist verebbt, die Wirkung verblasst, der Attraktor
vom mental-psychologischen Horizont verschwunden, wie eine Fata-Morgana
im Wüstensand. Alles ist voll schreiender Stille, wie in einer
absoluten Gegenwart.
25.06.14