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ZU LITERATUR, MALEREI, MUSIK UND ARCHITEKTUR

 
Bartleby´s Quittung
Galileis Zuversicht

 

zu Hermann Melville, Bartleby der Schreiber

Bartleby´s Quittung
von Jürgen Mick

Mr. Bartleby ist Schreiber in einem Anwaltsbüro des 19. Jahrhunderts und er macht es sich zur Gewohnheit - zuerst sporadisch, dann zunehmend öfter - auf Arbeitsaufträge seines Chefs mit der durchaus höflichen Formulierung "I would prefer not to" zu antworten, und damit kund tut, dass er den Arbeiten nicht gedenkt nachzukommen. Nach und nach verweigert er sämtliche Arbeitsaufträge und im Laufe der Geschichte gewinnt man den Eindruck, es ist nicht unbedingt sein Chef, dem er sich widersetzen will, und auch nicht den Pflichten eines Kopisten, sondern im Falle Bartleby liegt der Arbeitsverweigerung eine tieferliegende grundsätzliche Motivation zu Grunde.

Als Kopist in einem Anwaltsbüro bezieht sich seine Haltung, wie gesagt, anfangs auf ganz konkrete Arbeiten, also um eine spezifische Verweigerung innerhalb seines Tätigkeitsfeldes, woraus sich schließen ließe, dass es sich um Aufträge handelt, die ihm der Tätigkeit wegen widerstrebten. Bartleby verweigert sich dann aber immer öfter und zunehmend hartnäckiger den Anweisungen seines Chefs. Schließlich weitet sich seine Renitenz zu einer absoluten Blockadehaltung. Dabei wahrt er stets den höflichem aber bestimmtem Ton, wenn er mit seinem "I would prefer not to", beinahe emotionslos, seinen Widerstand ankündigt. Was Bartleby beabsichtigt, erschließt sich dem Leser keineswegs unmittelbar. Seine Motive lässt Melville im Dunkeln.

Gleichzeitig zu seiner Arbeitsverweigerung erobert der Schreiber die Möglichkeiten seiner Unabhängigkeit auf relativ unverschämte Weise. Er nimmt die Räumlichkeiten seines Arbeitgebers in Beschlag, geht obskuren Tätigkeiten nach und nimmt seinerseits die Hilfe seines Arbeitgebers in Anspruch. Und zur Verwunderung kommt der Anwalt ihm mehr und mehr entgegen. Anstatt sich dankbar zu erweisen, agiert Bartleby immer rigoroser und maßloser.

Bartlebys Arbeitgeber ist ein angesehener Jurist und geübter Strafverteidiger. Er unternimmt alles, seinen offensichtlich aus der Spur geratenen Kopisten wieder zurück in ein geregeltes Arbeitsverhältnis zu bringen. Nachdem er seine Überraschung überwunden hat, scheint auf verblüffende Weise Verständnis für seinen Schützling in ihm zu keimen. Er nimmt ihn in Schutz vor dem Gesetz und der Härte der Gesellschaft, obgleich sein Schreiber ihm den Arbeitsvertrag aufgekündigt hat. Er will nicht wahr haben, dass sein einstiger Anvertrauter zum Verstoßenen mutiert. Er sieht sich schamerfüllt veranlasst einzugreifen, als er mitbekommt, dass die Mechanismen der Gesellschaft unerbittlich, wie ein gnadenloses Räderwerk arbeiten und in ihrer Konsequenz den mittlerweile, gezwungener Maßen von ihm entlassenen, arbeitslosen Bartleby zu zermalmen drohen. So lässt er nichts unversucht ihm neue Arbeit zu vermitteln, von der er glaubt, dass sie Bartleby mehr liegen würde. Er versucht zu ergründen, was dieser wirklich will. Der Jurist und Kenner der gesellschaftlichen Mechanismen, versucht sich als Sozialarbeiter an einer renitenten Seele und übernimmt die Rolle des Vermittlers mit der Gesellschaft. Er wird schlussendlich, als die Sache existentielle Dimension annimmt, zu des Ex-Kopisten ganz persönlichem (Straf-)Verteidiger. Das alles ohne jede vernünftige Absicht möchte man meinen, aus reiner in ihm angelegter Menschlichkeit.

Der Leser nimmt bei der Lektüre instinktiv die Position der Gesellschaft ein und kann Bartleby kaum verstehen, wenn er ihn begleitet auf seinem selbstverschuldeten Weg ins Unglück. Wenn Bartleby beginnt sein nichtkonformes Verhalten an den Tag zu legen, beginnt man unweigerlich nach Motiven zu suchen. Man lechzt nach Erklärungen, die von Bartleby, respektive Melville, strikt verweigert werden. Jedermann scheint sofort nachzuvollziehen, dass die Gesellschaft abweichendes Verhalten erst einmal sanktioniert. Und ausgerechnet im Anwalt, dem Menschen, den er am meisten enttäuschte, gegen den er das unverschämteste Verhalten an den Tag legte, kann er Verständnis wecken?!

Aber unmöglich kann die Gesellschaft derartig abweichendes Verhalten akzeptieren. Schon aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber allen anderen Angestellten. Der Anwalt muss so auch zuerst seiner Rolle als autoritärer Vertreter der Gesellschaft nachkommen und seinen Kopisten entlassen und ihn der Räume verweisen. In der Unsicherheit, nicht zu wissen, was der Schreiber im Schilde führt, liegt Provokation. Mit der vor allen der Leser sich auseinanderzusetzen hat. Die Gesellschaft darf nichts unversucht lassen, derartige Unsicherheiten zu kompensieren und sie für alle verhandelbar zu moderieren. Für die Gesellschaft ist von vornherein klar: Ohne Zugeständnis des "Angeklagten" wird sich weder ein "Freispruch" einstellen, noch kann Verfahren einfach eingestellt werden. Solange die Gesellschaft ihn im Auge, respektive an der Backe hat, solange Bartleby unter uns ist, ist die Gesellschaft angehalten, sich mit ihm zu beschäftigen. Man ist gezwungen ihn zum Subjekt eines Verfahrens zu machen. Ihm ist zu kündigen, er ist aus seiner Wohnung zu entfernen, die er nicht mehr bezahlen kann. Er muss arbeiten, solange er kann. Andernfalls muss das Gesetz über ihn entscheiden, wie mit ihm zu verfahren ist.

Mit Talcott Parsons gesprochen muss man einsehen: unsere soziale Existenz ist in ein Gewebe genereller Symbole wie Macht, Geld, Liebe und Werte eingesponnen. Melville zeigt dem Leser unmissverständlich, dass dieses Gewebe ein gnadenfreies, sowie unvermeidbares ist. Stringenter formuliert es in diesem Sinne Niklas Luhmann. Bei ihm werden aus den Symbolen die Codes gesellschaftlicher Systeme. Und über diese Codes sind wir Modernen Zeit unseres Lebens in das Kommunikationsgeflecht gesellschaftlich eingebunden, das unsere Existenz als "Person der Gesellschaft" konstituiert. Dabei "umschließen" die gesellschaftlichen Sprachspiel den Einzelnen nicht körperlich mit Haut und Haar. Sterben müssen wir allemal allein. Doch kommen in diesem Gewebe zweckfreie Handlungen erst einmal nicht vor.

Wir begleiten in der Geschichte von Melville zwei Protagonisten, von denen der eine zum Widerspenstigen wird, während gleichzeitig der andere zum Samariter mutiert. Die Fallhöhe ist höher nicht anzusetzen, als einen Vertreter des Gesetzes mit Einsicht zu schlagen, über das, was er tagtäglich zu verkörpern angetreten ist. Der Anwalt "fällt" in seiner Kommunikation zu Bartleby förmlich mit aus der Gesellschaft. Schon der Leser ist nicht mehr bereit zu verstehen, was den Anwalt treibt, seinen einstigen Arbeitsverweigerer, bedingungslos zu unterstützen. Dabei muss uns aufstoßen, dass es Nächstenliebe ist, die - für uns so selbstverständlich - nichts in der Gesellschaft zu suchen hat. Es wird deutlich aufgezeigt, dass der Anwalt mit seiner Fürsorge, die er Bartleby entgegen bringt, alleine steht und alle anderen, keineswegs nachsichtig sind. Niemand sonst bringt Interesse für den Widerspenstigen und seine missliche Lage auf. Emotionslos behandelt man ihn, nach üblichen Gepflogenheiten. Sein ehemaliger Arbeitgeber erweist sich als der einzige, der ihm selbstlos zur Seite steht und ihn unnachlässig unterstützt bei Arbeits- und Wohnungssuche. Flehentlich rät er ihm endlich einzulenken und sich den gesellschaftlichen Regeln anzupassen. Er lässt nicht ab, ihm alternative Jobs anzubieten, die dieser allesamt verweigert. Als alles zu spät scheint und der Schreiber sich schlussendlich im Gefängnis wiederfindet, ist es allein sein ehemaliger Chef, der veranlasst, dass ihm während seiner Gefangenschaft zumindest Essen angeboten wird. Doch da hat Bartleby offenbar schon abgeschlossen und quittiert seine Gesellschaftsverdrossenheit auch noch durch die Verweigerung der Nahrungsaufnahme.

Melville führt uns in dieser Geschichte des Schreibers Bartleby die moderne Variante der Erbsünde vor Augen. Wir haben uns vielleicht der Ur-Sünde, die uns die Altvorderen auflasteten entledigt, aber dafür machen wir jeden Einzelnen von uns, mit dem Moment seines in die Welt Geworfenwerdens zum Anklagbaren. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne ist jeder in dieser Welt, ein prinzipiell Anklagbarer. Eine Verweigerung gegen die Codes der Gesellschaftssysteme führt stante pede auf die Anklagebank, das sieht schon Melville sehr deutlich. Bildhaft schildert er die Mechanismen der Abarbeitung durch die Gesellschaft in stringenter Abfolge: Keine Arbeit, keine Wohnung, keine Person. Und die Sensation ist, er weist uns daraufhin, dass wir diesmal nicht einmal mehr mit Nächstenliebe spekulieren und arbeiten können. Wie Wilhelm Genazino in seinem Nachwort zu Melvilles Parabel aufzeigt, erweist sich das Christentum an dieser Stelle als völlig machtlos.(2) Hoffnung, Mitleid und Nachsicht versagen innerhalb der gesellschaftlichen Systeme prinzipiell ihren Dienst. Exemplarisch wird der sentimentale, "abtrünnige" Anwalt schließlich zum Verlierer, dem durch seine Aufopferung nichts als der Spott der anderen zu Teil wird. Die christlichen Tugenden erweisen sich als ungeeignete Werkzeuge, ein verlorenes Schaf in den Schoß der modernen Gesellschaft zurückzuholen.

Bartlebys "selbst verschuldeter" Tod ist deshalb unweigerlich die einzige Auflösung dieses Gewebes und macht deutlich, dass eine Existenz außerhalb der Gesellschaft allenfalls die eines Verblichenen sein kann. Mit dem Moment, da sein wohlwollender Arbeitgeber den Schreiber aus seiner Obhut entlässt, ist sein Schicksal gesellschaftlich besiegelt, sein Ende ihm innerhalb dieses Rahmens beschieden. In der Verweigerung allein, findet er die einzig mögliche Maßnahme, die man ihm individuell zuzuschreiben vermag. Vielleicht treibt ein Gefühl von Reue, der Individualität einer Person Rechnung tragend, den Anwalt, als hauptberuflichen Vertreter der Gesellschaft und ihrer Regeln, zu dem Versuch die Gesellschaft mit Menschlichkeit und Nächstenliebe zu unterminieren. Doch Absolution soll ihm nicht beschert sein. Jede seiner privaten Interventionen bleibt wirkungslos; jede gesellschaftliche wird von Bartleby verhöhnt. Die Unternehmungen des Anwalts verschleppen allenfalls den Prozess, stoppen können sie ihn nicht. Die Institutionen verfahren unbeeindruckt gemäß ihren Sprachspielen.

Allein das Sterben rechnet man dem Menschen Bartleby zu. Man legt es ihm als verdiente Folge seiner Verweigerung gegenüber der Gesellschaft aus. Dabei war es ihm nur nicht danach, eine Rolle zu spielen, in irgendeinem Gesellschaftsspiel. Das Einrichten in der selbstgewählten Exklusion gelingt ihm andererseits auch nicht; nicht einmal in größter Bescheidenheit. Seine letzte Wohnstatt ist zwangsläufig das Gefängnis, jener Ort der Gesellschaft, der dafür geschaffen ist, den Exludierten eine letzte Herberge zu sein. Mit seiner stereotypen Antwort "I would prefer not to" verweigert Bartleby der Gesellschaft ohne jede Böswilligkeit lediglich seine Teilnahme, von der er - aus welchen Gründen auch immer - vorzugsweise Abstand nehmen will. Dafür kann ihm ein Mensch Respekt zollen und Verständnis zeigen, die Gesellschaft hat dafür keine Rezeptoren. So dass Bartleby schließlich mit seinem Tod der Gesellschaft trotzig die Quittung über eine absichtsvoll "gescheiterte" Existenz überreicht.

15.07.15

 

 

1) Melville, Hermann, Bartleby der Schreiber, München 2011
 
2) Genazino, Wilhelm, Die lächerliche Wahrheit, Nachwort zu: Melville, Hermann, Bartleby der Schreiber, München 2011
 
 
 
 
 

 

 
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