Altruistische
Entsolidarisierung: Solidarität als Mangel
Ein Leben ohne Fahnen
von
Jürgen Mick
In
seinem Buch "Du musst dein Leben ändern!"(1) spricht
Peter Sloterdijk von einer Hierarchie in der Abfolge gesellschaftlicher
Größen-"Ebenen" der Gesellschaft, auf denen sich
jeweils die maßgeblichen Mechanismen des Verantwortungsbewusstseins
gegenüber der vorhergehenden, ins Gegenteil verkehren. Altruismus
ist auf Ebene der Familie eine wesentliche Eigenschaft zur Stärkung
des Verbundes, während er sich auf der nächstgrößeren
Ebene als Charakterzug erweist, der das Gegenteilige bewirkt. Selbstlosigkeit
wirkt sich in Solidargemeinschaften, die die Größenordnung
der Blutsverwandtschaft übersteigen, verheerend aus. Während
hier, in der Geselligkeit, wiederum Solidarität als diejenige Kraft
empfunden wird, die Zusammenhalt garantiert. Die Frage stellt sich nun,
ob es da nur konsequent wäre, wenn man annimmt, dass auf einer
weiteren, einer globalen Ebene der Gesellschaft, Solidarität als
ein Mangel zu verbuchen ist? Dass also gerade Solidarität dort
deplatziert ist und einem im Entstehen begriffenen Globalbewusstsein
entgegen stünde? Man könnte also auf die Idee kommen, dass
das Bekenntnis, das einer Solidargemeinschaft zu Grunde liegt, in sein
Gegenteil verkehrt, die passende DNA zur Entwicklung einer Globalgemeinschaft
darstellen könnte.
Die
"heutige gesellschaftliche Verfassung", schreibt der
zurzeit in Berlin dozierende Philosoph Byung-Chul Han, "ist
von einem allgemeinen Zerfall des Gemeinsamen und des Gemeinschaftlichen
erfasst. Die Solidarität schwindet. Die Privatisierung setzt sich
bis in die Seele fort. Die Erosion des Gemeinschaftlichen macht ein
gemeinsames Handeln immer unwahrscheinlicher."(2) Beobachtet
er hier genau jene Tendenz zur Entsolidarisierung, allerdings ohne sie
als im obigen Sinne notwendige Wendung zu erkennen? Will man nicht unreflektiert
in den Kurzschluss, Solidarität sei die Bedingung für die
Möglichkeit gemeinsamen Handelns, einlenken, ist doch spätestens
hier der Anlass gegeben, zu hinterfragen, was es eigentlich heißt,
sich für solidarisch zu erklären.
Zur
Solidarität gehört es, sich an höheren Prinzipien zu
orientieren. Zumeist solchen, die einer naturgegebenen Blutsverwandtschaft
entbehren. In Zeiten da Verwandtschaft und Herkunft die Tiefenstruktur
bereitstellen, die Familien, Stammesverbände und Clans absichern,
fehlt ein solches Verständnis für eine Verpflichtung gegenüber
einem umfassenderen Rahmen gänzlich. Die Absicherung des Handlungsrahmens
geschieht dort ausschließlich über spezifische Riten und
Stammesregeln. Verstöße dagegen werden entsprechend mit physischen
Strafen wie Blutrache und Verbannung geahndet. Wie wenig nachvollziehbar
uns, aus unserer westlichen Prägung heraus, solche Handlungsanweisungen
sind, zeigt sich an der Empörungen gegenüber sogenannter Ehrenmorde,
die in westlichem Verständnis als barbarische Akte gelten. Hierzulande
wurde lange genug auf Solidarität geschult, um diese nicht (mehr)
nachvollziehen zu können. Man kann die Leistung des Umstellens
von Blutrache auf institutionalisiertes Recht kaum noch erinnern und
umso weniger rekapitulieren, aber man darf sie sich ähnlich schwer
vorstellen, wie das aktuelle Umstellen von Solidargesellschaften auf
einen globalen "Weltgerichtshof".
Für
die Entfernung in Raum und Zeit, welche in all den Entwicklungen zwischen
Tat und Sühne zunimmt, muss sich jedes Mal neues und anderes Einverständnis
heranbilden. Dass in einem nächst größeren Rahmen altruistisches
Verhalten eher Neid und Ungerechtigkeit erzeugen, scheint aus dieser
Sicht nachvollziehbar. Man kann sich vorstellen, dass es auf die große
Zahl angewandt, unmöglich praktitierbar bleibt. Das Versagen der
Praktikabilität zwingt, neben dem privaten, altruistischen Rahmen,
ein Gefühl zu etablieren, welches dem Größenverhältnis
angemessen ist und eine Verbundenheit erzeugt zwischen Menschen, die
sich nicht familiär nahestehen. Gemeinsame Interessen und das Verfolgen
gemeinsamer Ziele ersetzen die gemeinsamen Vorfahren. Solidargemeinschaften,
wie sie das antike Athen hervorgebracht hat, lehrten, den "Wert"
im Fremden zu erkennen. Was so viel heißen soll, wie die Irritation,
die der Fremde auslöst, geflissentlich zu "übersehen"
und sie als Andersheit zu akzeptieren. Was in den Stadtstaaten des alten
Griechenlands erstmals Praxis wurde, nämlich der Andersheit ungeachtet,
sich gemeinsamer Ziele zu bekennen, zog langwierige und grausame Gewöhnungsprozesse
nach sich, die in zweitausendjähriger Geschichte Zeugnis ablegen
über einen gesellschaftlichen Differenzierungsprozess und die Torturen,
die es verursacht, wenn Angehörige von abstrakten Zielen abgelöst
werden.
Es
ist das Merkmal von Solidargemeinschaften, dass sie Interessen, Ziele
und Ideale zum Kitt ihres Zusammenhaltes erklären und das strikte
Bekenntnis dazu jedem Einzelnen abverlangen. Der Einzelne bringt seine
Kampfeskraft ein und erfährt im Gegenzug Sicherheit. Kohäsion
und Expansion sichert man sich hier durch ein Feindbild. Gegnerschaft
stabilisiert den Solidaritätspakt, während in Stammesgesellschaften
die Verbindlichkeit über interne Zirkulation des Lebenssaftes und
die Vermeidung jeglicher diese betreffende Diffamierung gesichert ist,
stützt sich Solidarität und darauf basierende Gemeinschaft
auf das expandierte Fremde außerhalb. Doch was, wenn das Außerhalb
aufgebraucht ist?
Merkmal
der Moderne ist es, dass augenscheinlich im 20. Jahrhundert dieses Außerhalb
verloren geht, und wir uns mehr oder weniger freiwillig vereint in einem
"Weltinnenraum"(3) wiederfinden, wie Sloterdijk es
nennen würde. Die damit einhergehende Klage über die Entsolidarisierung
der Gesellschaft schwillt seither zu einem unüberhörbaren
Mantra an. Andererseits erscheint Entsolidarisierung, vor dem Hintergrund
des Scheiterns der letzten Frontkriege, als eine zwingende und vielleicht
die beste aller Folgen. Nach dem Ende des Wirkens der letzten Führer
westlicher Provenienz ist in aufgeklärten Kulturen in Bezug auf
jegliche Parteiergreifung eine Aversions-Sicherung eingebaut. Nichts
wird offiziell so vehement vom Commonsense verfolgt wie Idealisten und
Extremisten. (solange dem Commonsense es gelingt sich selbst gegenüber
Extremismus abzusichern und die Enthemmung zu vermeiden!)
Sich
nicht festlegen wollen, - so oft als Vorwurf ausgesprochen -, ist dann
zu lesen als eine Befolgung des gutgemeinten Mottos, sich keinesfalls
festlegen zu sollen! Flexibilität gilt es auch in Gesinnungsfragen
zu beweisen, denn erst der Gesinnungsfreie ist bereit für eine
unvoreingenommene Perspektive auf eine komplexe Welt, deren wesentliches
Merkmal es ist, dass ihr notwendig die Feinde ausgegangen sind, oder
weniger martialisch: die Fremden. Da wir es gewohnt sind die Andersheit
des alter ego prinzipiell anzuerkennen, ist es beruhigend zur
Kenntnis zu nehmen, dass wir uns Irritation in dieser Größenordnung
auch kaum mehr leisten könnten. Wenn alle Fremde wären, könnten
wir nicht länger handeln. (Daher für Hassliebende zwingend,
die zu beobachtende Eingrenzung auf bestimmte Volksgruppen, Rassen,
Glaubensangehörige und beliebige andere Distinktionsmerkmale.)
Die
verlorene Fahne
Zum
einen wird fälschlich Entsolidarisierung als Übel unserer
Gesellschaft unserer Zeit gesehen. Obgleich es Schmiermittel ist, das
in den Motoren der modernen Gesellschaft keine Verwendung mehr findet;
mehr noch wirkt wie Sand im Getriebe. Das wird sich solange nicht ändern,
wie wir uns weigern zur Kenntnis zu nehmen, dass die gesellschaftliche
Operationsweise in Opposition zu Gemeinschaften positioniert steht und
der Solidarität nicht im Geringsten bedarf. Das Gegenteil ist der
Fall: Solidarität ist auf Ebene der Gesellschaft kontraproduktiv.
Zum
Zweiten gerät die andere Seite der Gesellschaft als Zone der Minderwertigkeit
zunehmend ins Blickfeld der Gesellschaft, was man unter Tyrannei
der Inklusion zusammenfassen könnte. Dort also, wo Geselligkeit
und Solidarität ihre Wurzeln hat, wird unablässig abgegraben,
was man Freundschaft und Solidarität nennt. Findet sich hier die
Ursache einer Wahrnehmungstäuschung, die entsteht, wenn die Größenordnungen
nicht in ihrer Spezifität beobachtet werden?
Wenn
Byung-Chul Han meint ein gemeinsames Handeln wird immer unwahrscheinlicher,
bedürfte es schon der Ergänzung: ein absichtsvolles, kausales,
ideologisches, kurz solidarisches Handeln wird immer unwahrscheinlicher.
Politik ist längst nicht mehr dem Kampf gegnerischer Parteien gewidmet,
sondern, wie Ehrenberg richtig feststellt, geht es um die "kollektive
Verbesserung individueller Handlungsmöglichkeiten"(4).
Denn - auch, wenn wir (noch) nicht das Gefühl dafür verinnerlicht
haben -, wir können nur noch individuell-kollektiv handeln, und
wir tun es bereits unablässig. Wir kaufen und lernen, wir verklagen
und suchen Krankenhäuser auf. Doch weniger ein gesteigerter Egoismus
scheint sich hier Bahn zu brechen, als vielmehr Indifferenz (5).
Ein wohlmeinende Gleichgültigkeit in ihrem paradoxen Sinne des
Wortes: Ungleiches gleichermaßen gelten zu lassen.
Es
ist in der Größenordnung einer Weltgesellschaft nicht mehr
möglich Andersheit als Fremdheit aufzufassen, ohne überfordert
zu sein. Wenn alles anders ist, dann bleibt dem Einzelne vorerst nichts,
als anzunehmen, dass auch alles von gleicher Bedeutung für ihn
ist, solange nicht tiefergehende Interdependenzen nachgewiesen sind.
Entsolidarisierung tut hier not. Und jede Form altruistischen Verhaltens
ebenso. Weil es hieße Wagnis und Risiko mit einer selbstlosen
Haltung entgegen Solidaritäten auf sich zu nehmen. Es erfordert
nämlich sehr viel mehr altruistische Entsolidarisierung, um in
den Zustand unvoreingenommener Indifferenz einzutreten.
Wer
sich nicht einem Bekenntnis verschrieben hat, also sich durchaus in
der Lage sieht, haltlos in der Welt zu sein, präpariert sich für
ein Zusammenleben, das unter keinem Vorzeichen mehr steht. Die Krücken
der Gemeinschaft von sich geworfen, steht es sich, wie auf wackligen
Beinen, aber um einiges zugänglicher für ein Leben in der
Gesellschaft. Die Schwierigkeiten obliegen wie immer denen, die den
ersten Versuchern zugehören. Sie sehen sich den beißenden
Gegenwinden, erzeugt von den Moralaposteln und ungefragten "Menschheits"-Vertretern,
ausgesetzt. Da kann man nur unter Mühen Stand beweisen, bedienen
diese sich doch an in Jahrhunderten der Verachtung und Ausgrenzung eingeübter
Waffentechnik, die unsolidarisches Verhalten partout als ehrenrührig
auswies.
So
sind die Neuen die Vorhut derer, die einerseits die alten Fundamente
der Gemeinschaft erschüttern und andererseits die Waffen sinken
assen und bar jeden Schutzes und ohne Referenz auf ein unbestimmtes
oder bestimmtes Größeres, den vorzufindenden Vokabularen
entgegentreten. Das trägt - wenn nicht heldenhafte -, dann zumindest
altruistische Züge. Selbstredend wird man drauf gefasst sein müssen,
dass die Neuen, die an alten Verständnissen rütteln, die volle
Härte der Geschichte zu spüren bekommen. Je offensichtlicher
sich das Gesellschaftliche als globales Phänomen etabliert, desto
heftiger wird man die Versuche beobachten, neue Gemeinschaften wiederzubeleben.
Seien es rassistische, völkische, territoriale, ethnische und auch
moralische Gemeinschaften.
Begleitet
sehen wir die Mühen praktizierter Indifferenz zudem von dem erschöpfenden
Gefühl individueller Ohnmacht; man klagt sehr rasch über Machtlosigkeit.
Wir vermissen selbstredend die Unmittelbarkeit und Wirkmächtigkeit
von Solidargemeinschaften. Es hat schließlich über Generationen
begeitsert. Stattdessen hält uns eine gewichtiger Maxime im Schwitzkasten:
Wir können nicht mehr nichts tun! Was uns bleibt ist: Wir können
unterscheiden: Zwischen Kommunikation, die an der Gesellschaft teilnimmt
und solcher, mit der wir nicht automatisch Teil der Gesellschaft sind.
Es ist an der Zeit neuartige Kriterien zu entwickeln, um Handlungen
daraufhin beurteilen zu können, ob sie gesellschaftlich
sind oder privat.
Sein
oder nicht sein, ist nicht länger die Frage. Auf den neuesten
Stand gebracht muss man fragen: Anteilnehmen oder nicht anteilnehmen?
Eine Gesinnung zu tragen ist dabei äußerst hinderlich, weil
sie langfristig bindet und zu Verpflichtungen zwingt. Es macht schwerfällig
und diejenigen wendiger, denen keine Gesinnung aufgebürdet ist.
Das heißt nicht, zugleich wankelmütig zu sein. Gesinnungsfreiheit
beweist zuerst einmal Mut zum Nicht-sein-Wollen. Altruistische Entsolidarisierung
heißt, den dualistischen Teufelspakt zu zerschlagen, der da lautet:
Den einen nicht zuzugehören heißt, den anderen zuzugehören,
mit allen daraus resultierenden blutigen Konsequenzen. Es ist an der
Zeit endlich zur Kenntnis zu nehmen: Tertium datur! In der Kommunikation
gibt es einen dritten Weg. Das Schweigen. Mit Gotthard Günther
gesprochen heißt das, in Entscheidungssituationen immer auch die
dritte Möglichkeit im Kopf zu haben, sich der Entscheidung zu enthalten.
Alfred
Andersch beschreibt in seinem Roman "Sansibar oder der letzte
Grund" verschiedene Protagonisten, die sich zu Zeiten des Braunen
Terrors im Nationalsozialistischen Deutschland einer solchen aufgezwungenen
Entscheidung entziehen wollen: Sich einem mörderischen Regime loyal
zu erweisen oder nicht. Das offene Bekenntnis, nicht länger Mitläufer
sein zu wollen, hätte in jenen Zeiten selbstredend ihr Todesurteil
bedeutet. Es zeigt beispielhaft, wie grundlos man sich manchmal vor
Entscheidungen gestellt sieht, mit denen man eigentlich nichts zu tun
hat. Einer der Protagonisten wagt auf der Flucht vor dem Braunen Terror
sich das Ungeheuerliche zu erträumen: "Wir werden in einer
Welt leben, dachte Gregor, in der alle Fahnen gestorben sein werden.
Irgendwann später, sehr lange Zeit darnach, wird es vielleicht
neue Fahnen geben, echte Fahnen, aber ich bin mir nicht sicher, dachte
er, ob es nicht besser wäre, wenn es überhaupt keine mehr
gäbe. Kann man in einer Welt leben, in der die Flaggenmasten leer
stehen?"(6)
Vor
der Aufgabe, diese Frage zu bejahen, stehen wir heute. Andersch schließt
mit dieser entscheidenden Frage, die viel zu lange niemandem in den
Sinn gekommen war, in Zeiten, da schon zu lange der Missbrauch der Solidarität
wütete. Lange - zu lange - hielt man es für ungerechtfertigt,
sich keiner Fahne anzuschließen. Doch nur, weil niemand die Utopie
wagte, sich auszumalen, wie schön eine Welt sein könnte, die
einen nicht fortdauernd versuchte, auf eine Seite zu ziehen. Erst derjenige,
der etwas Größeres in den Fokus nimmt, etwas, das die Gemeinschaft
übersteigt, musste darauf stoßen! Die Überlegung liegt
nicht fern, sich vorzustellen, dass angesichts unvermeidlicher globaler
Interdependenzen unausweichlich eine Zeit gekommen sein könnte,
da die Option Anteilzunehmen oder nicht, der der Solidaritätsbekundung
übergeordnet sein muss, und zum maßgeblichen Überlebensbesteck
einer Welt gehören muss, die keine Fahnen mehr kennt.
Es
ermöglichte Abstand zu nehmen, von jeder Ganz-oder-gar-Politik,
wie sie sich auf dem Pausenhof eines imaginären Weltparlamentes
bereits andeutet. Das hält auf pragmatische Weise Kanäle offen
und vermeidet prinzipielle Feindschaften. Ganzgesellschaftliches
Handeln können wir in Zeiten funktionsdifferenzierter Dependenzen
nur in einer Haltung der Indifferenz gestalten und sollten es dazu mit
altruistischer Entsolidarisierung versuchen. Alle aktuell in Erprobung
befindlichen "Bastardformen" der Solidarität rufen
noch immer die altbekannten Friktionen auf den Plan, die man überflüssigerweise
als den Verlust von Kompetenz, Macht und Wirkung wahrnimmt.
13.11.2015