»Krise«
ist ein schönes Wort
Wie der Kapitalismus von der Krise abhängig wurde
von Jürgen Mick
"Krise"
ist ein verführerisches Wort. Es beruhigt so schön, da es
doch zu versichern vermag, dass die momentan erkennbare Irritation eine
temporäre und vorübergehende, also kurzzeitige Störung
eines ansonsten in stabilen Bahnen verlaufenden Prozesses darstellt.
Aus "ernsten Krisen", auch diese Steigerungsform der Formulierungen
kennen wir, kann man dann wohl schließen, dass im Bereich der
Krise durchaus Steigerungen angedacht sind.
Bestenfalls
bezeichnet der Ausdruck aber den tatsächlichen Moment, da die Fluktuationen
eines sich ankündigenden Strukturwandels, in Form einer ernsthaften
Destabilisierung der vorherrschenden Ordnung, erstmals ins gesellschaftliche
Bewusstsein eindringen. Es wäre aus pragmatischer Sicht dafür
zu plädieren "Krise" als das unvorhersehbare Eintreten
eines Zerlegungsprozesses bestehender Strukturen mit offenem Ausgang
zu betrachten. Der Moment, da sie vorbei ist, wäre erst dann zu
erwarten, wenn sich alles, was wir bisher kennen, mindestens auf dem
Kopf steht. So verwendet, könnte Krise ein wirkmächtiges Warninstrument
sein, ein Anlass, eine Aufforderung dem Unausweichlichen offen entgegen
zu treten. Die seismografischen Nadeln machen auch keine Scherze! Eine
Krise beschreibt nicht einen stotternden Motor, sondern einen Motor,
der nicht mehr Motor sein will. Es handelte sich in diesem Gebrauch
keinesfalls um etwas, das vorüber geht, um nachher wieder in das
altbekannte Fahrwasser einzumünden. Man könnte es plakativ
zur Verdeutlichung seiner produktiven Wortbedeutung pleonastisch als
unkontrollierbare Krise bezeichnen. Aber wie gesagt, eine "kontrollierbare
Krise" sollte nicht als eine Krise bezeichnet werden.
Vielleicht
rührt die verharmlosende Bedeutungsvariante im Gebrauch der Krise
als Unterbrechung funktionierender Operationen, daher, dass wir als
technisch sozialisierte Wesen es gewohnt sind, Bestehendes zu reparieren,
um anschließend im üblichen Gebrauch fortzufahren. Auch in
der Psychologie und der Medizin wird mit Vorliebe euphemistisch das
Wort in Gebrauch gehalten, um Aussicht auf Heilung anzudeuten. Allerdings
wäre auch manchmal nützlicher die Versprechungen getrost in
den Wind zu schlagen, die uns glauben machen (s)wollen, dass wir uns
irgendwann in den geschätzten, alten Bahnen wiederfinden. Eine
Krise einer Struktur hat in der Regel einen Strukturwandel zur Folge
und betrifft die Gesellschaft der Gesellschaft in vollem Umfang. Mit
Gotthart Günter würde ich sagen, nicht eher, als wir unser
Denken auf eine neue Basis gestellt haben, kann dies der Fall sein.
Der
Dinosaurier ist nicht ausgestorben, weil irgendwo auf unserem Planeten
ein Vulkan ausbrach oder ein Meteorit auf der Erde einschlug. Andere
Tiere haben schließlich auch überlebt. Nein, der Dinosaurier
war schlicht zu unflexibel (möglicherweise zu groß) um sich
anzupassen. Aus der Bahn geworfen von den simpelsten Umwelteinflüssen
scheint eine Kultur derart in Schieflage geraten zu können, dass
sie vollkommen gelähmt und handlungsunfähig mit ansehen muss,
wie sie mit primitivsten Mitteln zerlegt wird. Unsere mitteleuropäische
Hochkultur war sehr erfolgreich und daher auch äußerst verführerisch.
Die Menschen sind auf sie abgerichtet in all ihren Institutionen und
Organisationen. Es ist kaum einsehbar, wie es möglich sein wird
ein so monströses Denkvehikel in voller Fahrt umzubauen. Wäre
die Einsicht dazu prinzipiell vorhanden und auch öffentlich zugänglich,
wäre sie leider noch lange nicht flächendeckend an die Frau
und den Mann zu bringen. Der mentale Selbstumbau ist das schwierige
Moment in jeder Geschichte einer Hochkultur. Die Selbstreduktion und
die Selbst-Infragestellung das mitunter Schmerzlichste, was dem homo
sapiens widerfahren mag. Vielleicht kann nur die "Krise"
Abhilfe bringen.
Eine
Krise, wie sie sich beispielsweise im 16. Jahrhundert ankündigte
und noch zu Galileis Lebzeiten auf Leben und Tod entzweite. Zu glauben
oder zu sehen, lautete die Unterscheidung. Der Glaube und der Disput
war in eine Krise geraten: die Fakten und die Beweise in die Welt getreten.
Die praktische Anwendung von Teleskop und Sternenkarten belegte mit
subversiver Kraft ein neues Sehen. Die Krise ist das Zeichen eines unumkehrbaren
In-die-Welttkommens, einer neuen Weltanschauung sozusagen. Mit Krise
ist nur wirklich bezeichnet, was derart unversöhnliche Ansichten
mobilisiert. Und damit auf die Vermittlungsprobleme neuer Erkenntnisse
hinweist. Vermittlungsschwierigkeiten stellen die eigentliche Hürde
dar. In der Kommunizierbarkeit der Probleme liegt die Schwierigkeit,
an der jede Weltanschauung bislang strandete. Wie die berühmt berüchtigte
Horde der Lemminge raste noch jedes Unternehmen dieser Größenordnung
in den Abgrund. Und dabei gilt die Regel, je erfolgreicher im Vorfeld,
mit umso größerer Sicherheit besiegelt sie ihr Schicksal
auf drastische Weise.
Irritationen
aus der Umwelt auf einen Mangel des immanenten Komplexitätsreduktionsmechanismus
zurückzuführen, wäre eine geeignete Disposition das Überleben
zu sichern. Aber ureigene, menschliche, weil archaische Schwächen,
stehen dem entgegen. Sich selbst in Frage zu stellen ist zutiefst unmenschlich,
da in der Evolution wenig preisverdächtig. Es entspricht nicht
einem Wesen, das sein Handeln auf Selbstverständnis gründet.
Deshalb werden Egoismus, Stolz und Gier auch in diesem Falle das Zünglein
an der Waage regieren. Tod oder Umgestaltung? Beides brächte fundamentale
Strukturveränderungen mit sich. Nichts von dem, was jetzt ist,
wird aus zukünftiger Perspektive plausibel erscheinen. Für
ungeübte Naturen muss dies wie ein Verrat an sich selbst erscheinen,
beziehungsweise kommt dem Eingeständnis gleich, bislang Fehlern
aufgesessen zu sein, und bürdet Entbehrung aller Art auf (materiell,
wie psychologisch). Hieraus wird evident, dass der Prozess des Wandels
sich in Zeiten reibungslosen Operierens als nahezu unmöglich erscheinen
muss.
Es
wäre durchaus an der Zeit sich mit der ernsthaften Krise zu beschäftigen.
Wir stellen seit einem Jahrhundert fest, es regnet uns ins Denkgebäude.
Wir haben es weit ausgebaut und viel geschaffen, was uns heute aber,
sozusagen unserem mangelhaften Baumaterial geschuldet, Schwierigkeiten
bereitet. Zugegeben der Baustoff, den wir wohl größtenteils
noch Aristoteles verdanken, hat lange Zeit seinen anerkennenswerten
Dienst getan. In Form von Problemen sickert auf uns Heutige Umwelt
in unser Denkgebäude, und wir müssen feststellen, mit den
gewohnten Werkzeugen lässt sich das Leck kaum noch länger
dicht halten. Wir sind sozusagen mit unserem Latein am Ende.
Zu komplex gestaltet sich die Umwelt, als dass wir die Reduktion ihrer
Komplexität weiterhin mit dualer Logik bewerkstelligen könnten.
Wenn unser zweiwertiges Denkgebäude erst vereinzelt Risse aufweist,
dichotomische Weltauffassungen werden aussterben; allerdings nur sehr
sehr langsam. Dies stellt auf jeden Fall deutlich in Aussicht, dass
es nur einen Umbau oder eine Überschwemmung mitsamt dazugehörigem
Untergang geben kann. Ein Zurück, nur so viel scheint sicher, gibt
es keinesfalls. Wenn man die Krise als solche ernst nähme, müsste
man davon ausgehen, dass unsere Hochkultur (Zweiter Stufe) an ihr Ende
gekommen ist. Ein Neuanfang auf Fundamenten einer mehrwertigen Logik
könnte Komplexitätsreduktion auf höherer Ebene in Aussicht
stellen. Doch solange die Ankunft auf einem neuen Denkkontinent aussteht,
müssen wir uns noch mit der Krise des alten Systems beschäftigen.
Wären da nicht die vermeintlichen Pseudo-Krisen, die regelmäßig
als Unterbrechung von Expansionsunternehmungen in Form einer unterschlagenen
contradictio in adiecto unters Volk gestreut werden: So will man Krisen
in Kreisen der Aktiven doch eigentlich als kontrollierbare Krisen verstanden
wissen. Sie haben nämlich in dieser Verwendung die paradoxe, wie
eigentlich kontraproduktive Funktion, altgediente Kutter über Wasser
zu halten. Siehe Kapitalismus:
Wenn
der Kapitalismus in der Lage war, sich in mehr als einhundert Jahren
zu einem totalitären System aufzubauen, dann nur auf Grund der
immerwährenden Möglichkeit zur Expansion und Dank der ihn
begleitenden - und standardmäßig zu überwindenden -
Krisen. Die bei einer Expansion entstehenden "Luftkammern"
in seinem System sorgen stetig für Auftrieb, aber sorgen immer
im selben Maße für Unsicherheit innerhalb des expandierenden
Systems. Expansion wirkt konservativ auf innere (funktionierende) Strukturen,
beflügelt aber auch in den neuen Luftkammern Wagemut und
die Tendenz zum Versuch mit erhöhtem Risiko. Es werden auf diese
Weise zunehmend potentielle Abtrünnige mobilisiert, die Alternativen
wagen. Dies zu kontrollieren geht den Konservativen die Krise hilfreich
zur Hand. Erst eine Krise, die das Schreckgespenst des Stillstands auf
den Plan ruft, treibt übermütige Schäfchen wieder unter
das schützende Dach. In Krisenszenarien wird Unsicherheit gleichsam
wohldosiert kreiert, dass nur die Größten im Markt ungerührt
bleiben dürfen. Vormalige Risikofreude wird in Vorsichtig erstarren.
Wenn der Zukunft der Wert abgesprochen wird, zeigt sich das unmittelbar
an den Börsen. Die Minderprivilegierten begeben sich reflexartig
unter jeden nur zu erreichenden Schutzschirm eines vermeintlich Mächtigen
und bieten den potentiellen "Expansoren" ihre Frondienste
an. Verantwortung wird delegiert und Unwissenheit ist in diesem Fall
nichts Blamables mehr. Die Bereitschaft zur Unterwürfigkeit hält
verlässlich die Mechanismen der Macht in Gang. Der Sog hin zu den
Mächtigen verschlingt alles Selbständige. Bislang war immer
die erste Bedingung der Expansion erfüllt, und es gab genügend
Terrain, um darauf zu verweisen, dass man irgendwann die Expansionsunternehmen
wieder aufzunehmen in der Lage sein wird. Dann wird die Krise Geschichte
sein. Eine "Krise" bedeutet nicht das Ende, lautet der hoffnungsvolle
Unterton.
Die
"beherrschbare Krise" gehört zum Kapitalismus, wie die
terra incognita zum mittelalterlichen Absolutismus. Es ist die
Hoffnung ausstrahlende Landmasse, die nur für die Talentiertesten
zu erreichen ist. Die gewinnbringenden Expeditionen gefährden zwar
die Stabilität der inneren Organisation (Wieviel Kreuzfahrer sahen
sich nach ihrer Rückkehr mit veränderten Machtverhältnissen
konfrontiert?) Nur wer dann glaubwürdig in Aussicht stellen konnte,
dass er den Weg zu den weißen Flecken dieser Welt kannte, der
konnte alles "nur" zu einer vorübergehenden Krise verklären.
Und Krise ist dann eben nur die Unterbrechung, die klar legt, wer die
Richtung angibt. Die Rückkehr, also die Unterbrechung einer Expansion
ist machtstabilisierende Notwendigkeit. Die Krise ist die Erinnerung
an die Abhängigkeit, der kurzzeitig verabreichte kalte Entzug für
die Junkies. Die Verpflichtung der Abhängigen gegenüber dem
Wirtschaftssystem wird auf diese Weise ebenso eindrücklich angemahnt,
wie die Restitution der Krone. Die Abhängigkeit muss regelmäßig
ins Gedächtnis gerufen werden, was jedermann wieder hinter die
Standarte zwingt. Da zeigt der Pate seinen Siegelring, um daran zu erinnern,
wessen Schutzherrschaft man die eigene Sicherheit zu danken hat.
Erst
die eklatante Expansionsverhinderung durch äußere Umstände
beschwört den Mut zur Ausdifferenzierung althergebrachter Praktiken.
Wenn die terra incognita ausgemalt an der Wand hängt, es
nichts mehr zu erobern gibt, dann besteht die Chance auf interne Ausdifferenzierung
und Diversifizierung der Lebensverhältnisse. (Immer vorausgesetzt
die Stabilität ist gewährleistet, wie beispielsweise unter
dem bipolaren Kräftegleichgewicht zu Zeiten des kalten Krieges.)
Die zu erobernden Güter gelten dann als verteilt und die Positionen
als fixiert. Unter dem entstehenden inneren Druck muss etwas geschehen,
um die Funktion der Expansionsunternehmungen zu kompensieren. Die Zeit,
da die Sache wuchs, ist vorbei und man muss intern dazu übergehen
die Verhältnisse neu zu ordnen. Im Inneren müssen neue Risse
entdeckt werden und Verklüftungen unter die Lupe genommen werden,
die man vormals weder sah noch suchte. Was vormals nicht ins Auge fiel,
muss nun genug sein das Überleben zu sichern. Der Erfolg der Expansionsphase
verstellte den Blick auf wesentliche Veränderungen und echte Invention.
Die ("kontrollierbare") Krise als Instrumentarium dient der
Expansion unaufhörlich als Motor, und unterbindet jeden Blick zur
Seite. Die Krise auszurufen ist so zu einem zutiefst perfiden Instrumentarium
konservativer Strukturverteidiger geworden, die das Hinauszögern
der Innovation billigend in Kauf nehmen, nur um funktionierende Verhältnisse
zu reiten, bis sie tot zusammenbrechen. Den Kapitalismus wird kein anderes
Schicksal ereilen. Solange wir seine Krisen aussitzen, wird sich kein
wirklich alternatives Konzept entwickeln. Und wir dürfen abwarten
bis er tot im Staub liegt. Hier zeigt sich sehr schön, dass Alternativlosigkeit
immer nur das Ziel sein kann und nie die Ausgangslage.
Gebannt
im Lehensstand des Kapitalismus, muss man abwarten, bis sich eine Chance
bietet, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Jede autonome Strategie
muss versagen, jeder Lebenslauf ist in höchstem Maße von
vorstrukturierten inneren Entwicklungen abhängig. Der Bannstrahl
des Kapitalismus zwingt unter sein Joch, solange seine Turbinen laufen
und verlässlich seine "Krise" an die Wand gemalt wird.
Aber auch der Fresslust des Kapitalismus´ sind Schranken aufgezeigt,
die Expansionsphase des Kapitalismus versiegt genau dann, wenn der Planet
bedeckt ist mit seinen Produkten, seinem Abfall und übersättigten
Konsumenten. Mit anderen Worten, wenn es keine Märkte mehr gibt,
die weitere Ausdehnung gestatten, dann ist es soweit, dann lockern sich
auch die Bande der Abhängigkeit. Während im Strom der Expansion
sich alles in einem homogenen Strom von Abhängigen sammelt, wie
Schrott im Kielwasser eines manövrierunfähigen Öltankers,
bilden sich dann wieder gesellschaftliche Gruppierungen neuer Provenienz.
Den Mächtigen entgleiten die Zügel, den Pferden geht das Geschirr
abhanden. Handlungsspielraum tut sich auf, und mit ihr zuerst wohltuende
Ratlosigkeit: Was anfangen? Alles ist möglich!
Dann gilt es, sich Nischen zu suchen, in denen ein Leben außerhalb
des Kapitalismus möglich wird. Dann wird Kapitalismus zur No-Go-Aerea.
Neue Freiheiten werden aufgetan, weil sich ohne Gewährleistung
der Sicherheit Abhängigkeit nicht aufrechterhalten lässt.
Der Machtverlust bei den Anführern führt zu Konkurrenzverhältnissen
neuer Art. Möglicherweise wird man verstärkt auf andere Medien
(anstelle des Geldes) setzen. Wenn der Glaube an das Geld als Leitmedium
erloschen sein wird, wird dem Kapitalismus das letzte Stündchen
schlagen. Nur um den Status Quo zu erhalten, werden wir solange aber
alles unternehmen, dies zu verhindern. Wir werden solange "Krisen"
ausrufen, bis es nicht mehr geht. Die Mächtigen geben ungern ihre
Zügel freiwillig aus der Hand und wir so ungern unser Weltbild.
Der
Kapitalismus hat sich nicht von ungefähr aus dem Kolonialismus
entwickelt. Immer wieder musste er mittels Krisen befeuert werden, um
die Konjunktur am Laufen zu halten. Die (Wirtschafts-)Krisen sind zum
letzten Lebenselixier des Kapitalismus geschrumpft. Und ihre immer rascher
werdende Abfolge ist vielleicht ein Indiz. Wollen wir dem Prozess noch
beiwohnen, sollten wir einüben, uns selbst aufzugeben, ohne uns
zu verlieren. Wir werden den einen oder den anderen "System-Tod"
sterben, doch mit höchster Wahrscheinlichkeit werden wir wiedergeboren!
Allerdings mit partieller Amnesie, nämlich ohne von unserer früheren
Existenz zu "wissen".
01.05.14