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Lebe wohl
ESSAYS
ZU INDIVIDUUM, LEBEN UND GESELLSCHAFT

 
Freiheit zur Exklusion
Tyrannei der Inklusion (Teil 2)
Tyrannei der Inklusion (Teil 1)
Altruistische Entsolidarisierung
Lob des Dilettanten
Zombies kommen ...
Anderssehen
Back to Uterus
Prometheus´ Reue
Unseren Wert gib uns heute
Das Individuum ist müde
Im Kokon
»Krise« ist ein schönes Wort
Alles Könige
»Trainergesellschaft«
Kinder des Olymps
EXIT oder Leben und Sterben ...
"Mensch, wie alt bist Du?"

 

Tyrannei der Inklusion
Teil 2: Individuelles Leben kann es nur außerhalb der Gesellschaft geben

von Jürgen Mick

Keine Inklusion ohne Exklusion
Wie kann dann - unter den Bedingungen einer ent-stratifizierten und funktionsdifferenzierten Gesellschaftsorganisation - das Individualitätskonzept der Moderne lauten, wenn man es denn ernst nimmt? In der Moderne bekommen wir es in Absetzung von vorausgehenden Gesellschaftsformen mit diametral entgegengesetzten Umständen zu tun. Der nachhaltigste scheint zu sein, dass die funktional differenzierte Gesellschaft keine explizite verbindliche Regelung mehr für Inklusion kennt. Und noch viel weniger dafür, wie mit Exklusion umzugehen ist.

Analog zu pluraler Inklusion bekommen wir es mit den Optionen pluraler Exklusion zu tun. Das heißt, man überlässt die Entscheidung darüber den jeweils zuständigen Funktionssystemen. Umgekehrt ist dem einzelnen, physisch-psychischen Individuum eine Rekursion auf eine rein körperliche, physisch-emotionale Inklusion, beruhend allein auf seinem Dasein, ab sofort so gut wie versagt. Auf eine "Mitgliedschaft" (1) in der Gesellschaft, wie sie in Korporationen üblich ist, muss verzichtet werden. Dass dieser Sachverhalt lange Zeit unausgesprochen, relativ unscharf mitgeschleppt wurde liegt in der Regel daran, dass alle Klagen über diesen Verlust mit dem Metahinweis beantwortet wurden: Wir sind doch alle Menschen! Die Zugehörigkeit zu einer Spezies soll über die transzendente Obdachlosigkeit hinwegtrösten. Sie scheitert zuletzt zwangsläufig daran, dass sie eigentlich nur das Problem beim Namen nennt. Es ist nicht mehr klar, was die Gesellschaft mit Menschen anfangen soll?! Allein auf das "Menschsein" ist man zuletzt zurückgeworfen. Und das Problem soll die Lösung sein, angesichts einer Gesellschaft, die ihre Funktionsmechanismen darauf abstellt, dass sie ihre jeweiligen Subsysteme in Gang hält und dabei grundsätzlich von Menschen abstrahiert!

Bereits Friedrich Schiller - über die Bedeutung des Wortes "Mensch" anscheinend unsicher geworden - dringt auf eine Relativierung, wenn er behauptet: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Odo Marquardt deutet es als eine Anmerkung zur Überwindung der Universalgeschichte zugunsten der individualen Geschichten. Die misslungene Revolution der Geschichte, scheitert wesentlich darin, dass sie "den Menschen" zurücklässt. Während sich mit der Französischen Revolution die Gesellschaft aufmacht die Dinge in systemische Zusammenhänge zu rationalisieren, nimmt sie wenig Rücksicht auf den Menschen. Der andererseits selbst erst jetzt sich im Strudel der Singularisierungsunternehmungen des 18. Jahrhunderts als der eine "Mensch" begreift.

Allein das Auftauchen der vermeintlichen Notwendigkeit, nun offenbar aussprechen zu müssen, was selbstredend klar gewesen sein sollte (das Menschsein), verweist auf das nagende Defizit einer gemeinhin geglaubten, aber nie wieder einlösbaren Selbstverständlichkeit. Die darauf folgenden ungezählten Unternehmen der Modernen zur Rückversicherung des eigenen Daseins als Individuum sind Legion. In einem bedeutenden Absatz seines Werkes fasst Niklas Luhmann die schmerzhafte Veränderung gesellschaftlicher Veränderung und die daraus resultierenden Folgen so zusammen: "Der Übergang zu funktionaler Systemdifferenzierung ändert die Prämissen dieser [stratifizierten, J.M.] Ordnung, ja kehrt sie geradezu um. Was früher als normal erschien, ist jetzt ausgeschlossen. Die Einzelperson kann nicht mehr einem und nur einem gesellschaftlichen Teilsystem angehören. Sie kann sich beruflich/professionell im Wirtschaftssystem, im Rechtssystem, in der Politik, im Erziehungssystem usw. engagieren, und in gewisser Weise folgt der soziale Status den beruflich vorgezeichneten Erfolgsbahnen; aber sie kann nicht in einem der Funktionssysteme allein leben. Da die Gesellschaft aber nichts anderes ist als die Gesamtheit ihrer internen System/Umwelt-Verhältnisse und nicht selbst in sich selbst als Ganzes nochmals vorkommen kann, bietet sie dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als "gesellschaftliches Wesen" existieren kann. Er kann nur außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren [Hervorhebung J.M.], wobei für ihn die Gesellschaft eine dazu notwendige Umwelt ist. Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden." (2)
Das Individuum beschreibt sich selbst nicht als das, was es in der Gesellschaft und ihren Funktionssystemen verankert, sondern als das, was es jenseits davon ausmacht. Es sind dies die Zonen des Schillerschen Spielens, die Bereiche jenseits der Kommunikation, das was nicht "besprochen" werden kann, wie das Körperliche, die Natur, der Tod und eben die Kunst, die sich darum bemüht, sichtbar zu machen, was nicht vorkommt. Oder man könnte es zusammenfassend das Menschliche bezeichnen.

Beschreibt man Inklusion in die Gesellschaft im systemtheoretischen Kontext, wie es für eine funktionsdifferenzierte Gesellschaft zwingend wird, lässt man somit automatisch die Raummetapher hinter sich. Inklusion ist da nicht abhängig von Raumgrenzen (Sesshaftigkeit) und Körpern (Verwandtschaft), sondern wird über Medien, allen voran Geld, Wissen und Bildung abgesichert. Auf diese Weise wird vermieden, an die unausweichlichen Grenzen einer (räumlich vorgestellten) gesellschaftlichen Expansion zu stoßen, die sich seit einiger Zeit mit dem Globus vergeblich versucht in Deckung zu bringen. Auf Geld und Wissen transferiert sich im Wesentlichen die Rolle der unendlich verfügbaren Ressourcen, die von Territorium und Bodenschätzen nicht mehr übernommen werden können. (Daher erscheint auch die aktuell zu beobachtende Renaissance einer strategischen Geopolitik als anachronistisch und muss zwangsläufig als Rückschritt empfunden werden, ebenso wie entlarvte Korruption). Auf der Exklusionsseite muss man sich systemtheoretisch mit dem Gedanken anfreunden, dass Inklusion ohne Exklusion nicht mehr zu haben ist. Wenn auch das Primat der Inklusionsseite zukommt, dann kann es nur Werbung in eigener Sache (der Gesellschaft) bedeuten, wenn versucht wird den Eindruck unbedingter Inklusion zu vermitteln. Daher Vorsicht vor falschen Versprechungen, die die Gesellschaft nicht einzulösen in der Lage ist; allen voran das Glücksversprechen. Eine vollständig globalisierte Gesellschaft, die sich auf ihre Medien stützt, kann bestenfalls als eine vollständig durchfunktionalisierte Gesellschaft beschrieben werden. Einer auf autopoietischen Kommunikationssystemen basierenden Gesellschaftsbeschreibung gelingt es auf geradezu selbstverständliche, um nicht zu sagen, notwendige Weise, Exklusion ständig mitzukommunizieren. Wer zahlt ist drin, wer nicht zahlen kann, ist draußen. Wer weiß, ist drin, wer nichts weiß, ist draußen. Der binäre Code funktioniert so einfach wie wirkmächtig.

Worin sollte man auch eingeschlossen sein, wenn man nicht ausgeschlossen werden kann. So muss ein Außen als Exklusion, als Umwelt des Systems (in diesem Falle der Gesellschaft) beschreibbar bleiben. Die Tyrannei der Inklusion kann es so erst geben, wenn auch die Exklusion permanent möglich ist, sozusagen ständig als drohender Hintergrund mitgeführt wird. Man muss sie differenziert einschränken und Inklusion sozial fassen, dann kann nur die sozial existentielle Tatsache bedeuten, dass wir sozial "auf Inklusion angewiesen sind" und andernfalls "sozial tot" wären, wie Peter Fuchs es sagt, da "die Partizipation an Kommunikation eine existentielle Angelegenheit zu sein scheint." (3) Sozial bedeutete dann, eine Einschränkung, eine Verjüngung, auf eine auf Kommunikationsteilnahme eingeengte Bedingung. Das Gute ist nun, dass für Exklusion jedes einzelne der Funktionssysteme selbst zuständig ist. Die Warnung Carl Schmitts also, dass das entscheidende Kennzeichen der Souveränität das Vorrecht ist, Menschen auszuschließen, die Schlussfolgerung nahelegt, dass es niemanden mehr geben kann, der die Exklusion aus der Gesellschaft bewirken kann. Mit der funktionsdifferenzierten Gesellschaft ist uns definitiv der eine Souverän abhandengekommen und als (bürgerliche, individuelle) Souveränität auf jeden einzelnen übergegangen.

Moderne Individualisierung
Inklusion in die Gesellschaft stützt sich nicht länger auf Attribute, wie Statussymbole, sondern auf Teilnahme an den Funktionssystemen. Man kann wahrscheinlich aus psychologischer Sicht zahlreiche Deformationen auf das Dilemma dieser gesellschaftlichen Umformung zurückführen. Die Entstehung der Psychoanalyse und mit ihr die Auszeichnung neuartiger Krankheiten angefangen von Neurose und Hysterie, bis hin zu Depression und Burn Out verdanken sich der Diskrepanz dieser emotionalen Gebrochenheit. Ihr Echo ist in nationalistischen, rassistischen Tendenzen ebenso zu vernehmen, wie in dem Trend zu Transzendenz und Esoterik. Alltagstauglich dienen sie der Suche nach Aufgehobensein in professionsbezogenen Ersatzfamilien, wie der Firma, dem Verein und jeder anderen Organisation. Dabei spricht Luhmann das Problem an, dass dort die Suche nach individueller Erfüllung vergeblich sein muss. In einer vollumfänglichen gesellschaftlichen Umwelt, ist individuelles Leben nur außerhalb der Gesellschaft möglich. Mit dem Umbruch hin zur Durchfunktionalisierung, entsteht ja erst das psychische Manko, die Leerstelle, die vormals von vollumfänglicher, gesellschaftlicher Inklusion miterledigt wurde und meist räumlich (Ort, Land) untermauert schien. Man nannte es Zugehörigkeit und Aufgehobenheit, die ein Individuum erst zu diesem machte, wenn es sich verorten ließ. Sie wird - wie es Jahrtausende vorher üblich war - heute nicht länger als Einbindung in eine stabilisierende (Welt-)Ordnung gewährleistet. Die daraus resultierende "Heimatlosigkeit" des Individuums evoziert Phantomschmerzen und Verlangen nach Hilfe. Sie löst die Suche nach Kompensation aus. Dafür ist die Gesellschaft als Ganzes allerdings nicht mehr hellhörig und zuständig. Sie bietet kein Ordnungspaket, keine Kompossibilität (4), sondern konzentriert sich stattdessen auf ihr operatives Geschäft. Sie generiert in diesem Kontext ausschließlich Lösungsvorschläge als "Geschäftsideen". Insbesondere auf dem Sektor der Medizin als Therapieofferten, aber auch als Ratgeberliteratur aller Art. Wir registrieren früher oder später, dass uns die gesellschaftlichen Angebote, um diese Verluste zu kompensieren -, ob von der Psychoanalyse, der autodidaktischen Selbstoptimierung via Lebensberatungsliteratur, bis hin zur Ablenkungsindustrie und der Prostitution - nur über Professionalisierung erreichen. Wenn wir offen unsere Verlorenheit an die Gesellschaft adressieren, ernten wir nichts als "Zynismus". Im Wesentlichen "kümmern" sich Spezialistenrollen des medizinischen Systems um diese Defizite. Sie weisen uns dabei lediglich die Publikumsrolle des Konsumenten in einer florierenden Hilfs- und Freizeitindustrie zu.

Gesellschaftlich betrachtet müssen selbst persönliche, mentale und intime Probleme ohne emotionale Beteiligung und Gedächtnis erledigt werden. Insofern sie pekuniär abgegolten werden, sind sie - wie der Zahlungsverkehr - mit dem Ereignis selbst ausgelöscht. Erkennbar an den Restriktionen, von denen sie begleitet werden: In der Prostitution ist die Liebe verpönt, in der Psychoanalyse das intime Verhältnis zum Patienten, in der Medizin die Empathie und in der Wissenschaft das Glauben. Dabei ist es hilfreich zu akzeptieren, dass es Personen sind, die kommunizieren und nicht Individuen. Die Person fungiert als Adresse gesellschaftlicher Selbstorganisation. Der Körper, sowie alle a-kommunikativen Elemente bis hin zum Tod, sind ausschließlich Umwelt der Kommunikation und somit der Gesellschaft.
Individuen parasitieren und profitieren von sozialen Systemen. Sie leben davon, sie sind existentiell abhängiger denn je davon, aber sie sind keinesfalls Teil derselben. Ihrem Körper kommt verstärkt die Rolle eines Mediums zu. Beispielsweise in der Medizin, als zu behandelndes Symptom oder in der Erziehung in Form von Verhalten des Kindes. Der Mensch mit Haut und Haaren wird da per definitionem nicht inkludiert und könnte theoretisch von einer Tyrannei der Inklusion eigentlich nicht gemeint sein. Denn sie werden im strikten Sinne von der Gesellschaft nicht einmal wahrgenommen. Die Gesellschaft verlangt: "Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden. (…) Und in der Semantik kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass das Individuum nicht mehr als bekannt, sondern als unbekannt (als spontan, inkonstant, black box usw.) eingeschätzt wird." (2) Zusammengenommen muss man den Eindruck gewinnen, dass der Einzelne insgesamt der Gesellschaft egal - gleichgültig, im besten Sinne des Wortes - ist. "Von "zunehmender Individualisierung" in der sozialen Realität" (2) also kann kaum die Rede sein. Umso bemerkenswerter, dass kaum eine andere Idee sich kollektiv so hartnäckig ihre Wurzeln in unser Bewusstsein getrieben hat. Da liegt die Vermutung nahe, wir haben es mit einer Kompensationsreaktion auf einen Verlust, denn mit einem Symptom der Moderne zu tun. Es ist nämlich vornehmlich bei "einfachen" Gesellschaftsformen "Individualität … mit Namen, Bekanntsein, Rechten und Pflichten und vor allem mit Aufgehobensein in einem Kontext von Leistungen und Gegenleistungen durch soziale Inklusion gegeben. (…) Gerade einfachste Gesellschaften sind in hohem Maße an Individuen orientiert und akzeptieren jeden, sofern er zur Gesellschaft gehört, in seinen Eigenarten. Das korreliert mit Schwächen der normativen Orientierung und wohl auch mit einem Fehlen der Unterscheidung von Regeln und Handlungen." (2) Stattdessen verlangt eine funktionsdifferenzierte Gesellschaft nach Personen und nicht länger nach Individuen. Die Individuen selbst ringen um ihr Selbstverständnis.

Gesellschaftlicher Support
Die technisch unterstützte Digitalisierung spielt in vielen Lebensbereichen zudem den Funktionssystemen in die Hände. Im Netz zu sein geht damit kongenial konform, digital "zu sein". Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass es Zufall sein soll, dass die Gesellschaft als funktionaldifferenzierte Gesellschaft sich in Funktionssystemen ereignet, die auf Basis digital codierter symbolischer Medien ausgebildet sind: Bezahlen/nicht bezahlen, wissen/nicht wissen, usw. Es stellt die perfekte Unterstützung parat für die lange angestrebte Realisation eines auf Selektion konditionierten Nutzerschwarms, der "Sein/Nichtsein" seit Anbeginn der Neuzeit als sein Credo verinnerlicht. Es ist nicht so, dass das "Problem" nicht erkannt wurde. Nein, ganz im Gegenteil, die Problematik des individuellen Hiats wird gewissenhaft von Anfang an gesellschaftlich betreut, mit der Rede von der Sorge um das Individuum. Es stehen stets gesellschaftliche Antworten parat.

Die Person, die wir "darstellen", verlangt situationsbezogene Qualitäten, und das jeweils abhängig vom Anlass der Kommunikation. Die Person ist unser Avatar für das Leben in einer funktionsdifferenzierten Gesellschaft. Die Hege und Pflege unseres Avatars, wird uns dabei einfach nicht selbst überlassen. Professionelle Hilfe hat das Problem als Wirtschaftszweig erkannt, und der Sektor boomt. Überforderten Eltern wird angeraten die Karrieren und Seelenzustände ihres Nachwuchses nicht mehr länger dem Zufall oder dem Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten zu überlassen. Sie werden von den ersten Minuten umworben, die Karrieren ihrer Kinder in die Hände von Professionellen zu legen. Wir können mit Sicherheit voraussagen, dass jedes identifizierbare Manko seine gewerbliche Nische finden wird. Um keine Gewinneinbußen hinnehmen zu müssen, wird der Druck, unserer Person Kontur zu verleihen, permanent erhöht, und wenn es nach der Mental-Life-Industrie ginge, zu einem nicht abzulehnenden Imperativ gesteigert. Ausgelöst durch das Empfinden, dass die Gesellschaft uns ein Aufgehobensein strikt verweigert, sieht sie sich unmittelbar angeregt dazu, uns lukrative Substitute zu offerieren. Die Tyrannei der Inklusion zeitigt imposante Konsequenzen im Bereich des Psychischen (4). Dort weiß man seit geraumer Zeit um die Symptome auftretender Irritationen, mit denen "Bewusstseine" sich konfrontiert finden. Man kennt den Zwang zu Individualität und weiß gesellschaftlich daran zu parasitieren. Die "Identitätsbaukästen" für das permanente "Entwerfen und Neuentwerfen der eigenen Identität" (5) überschwemmen den Markt und variieren facettenreich, je nach Mode, dass der Einzelne kaum bemerkt, wie er am Nasenring durch die Arena gezogen wird. Der Hintergrund ist, die Funktionssysteme der Gesellschaft sind in der unausweichlichen Lage, die Probleme zu benennen, für die sie Lösungen (Innovationen) parat haben. Und sie sind im Stande und stehen in der existentiellen Notwendigkeit deren Nachfrage aufrecht zu erhalten. Somit halten sie uns gebannt im Kraftfeld des Konsums und inkludieren uns hartnäckig im Wirtschaftssystem. Die daraus entstehende, abwertende und kompromisslos repressive Haltung gegenüber gesellschafts-"freier" Zeit, spricht die Sprache einer Kriegserklärung individueller Feindseligkeit gegen sich selbst.

Darum ist es an der Zeit endlich zu hinterfragen, ob formelle Hilferufe nicht immer auf die falschen Adressen treffen? Und nur wieder systemrelevante Antworten evozieren? Zudem wird es höchste Zeit, zu verinnerlichen, inwieweit es Sinn macht, von Finanzsystemen moralisches Handeln zu verlangen, von Wirtschaftssystemen fürsorglichen Umgang zu erwarten und vom Rechtssystem Gerechtigkeit zu erhoffen, und zu fordern, dass das Erziehungssystem gebildete Individuen hervorbringt. Das alles liegt nicht in ihrer Macht! Es sei betont hier soll kein Affront gegen die Gesellschaft heraufbeschworen werden und die funktionale Bedeutung der Systeme in irgendeiner Weise geschmälert werden. Luhmann sagt immerhin auch Individualität hänge nach wie vor, über jede Komplexitätssteigerung gesellschaftlicher Ordnung hinweg, von Inklusion ab! (2) Allerdings: Immer mit der Berücksichtigung der Tatsache, dass keine Person in seiner Ganzheit komplett in die Gesellschaft inkludiert sein kann. Dafür haben sich beispielsweise traditionelle Funktionsbereiche erhalten, die sich einst sehr gut anboten Individualität zu kreieren, wie beispielsweise die Familie. "Damit bleibt auch die gesellschaftliche Funktion von Familien und Haushalten als Inklusionsregulativ ungebrochen." (2) Oder wie Fuchs beschreibt: "Die Funktion von Familie (unter modernen Bedingungen) reitet gleichsam parasitär auf dem Verlust der Komplettinklusion von Personen in der Gesellschaft." (6) Man möchte als Randnotiz hinzufügen, dass angesichts der rückläufigen Tendenz zum Familienhaushalt bereits andere Organisationsformen bereit stehen jovial in die Bresche zu springen, um wiederum an diesem Defizit zu parasitieren (selbstredend mit der Vision von materiellem Nutzen und Gewinn, die sich aus Ehrgeiz, Engagement und Selbstdisziplin abgreifen lassen), indem sie suggerieren Komplettinklusion bereitzustellen. So gerieren sich mittlerweile Firmen, Ämter, Parteien und Vereine als Ersatzfamilien und die Politik gibt sich engagiert, das Outsourcing von Familienleistungen effizient voran zu treiben. Ob es sich dabei um eine zum Scheitern verurteilte "unerlaubte" Durchkreuzung der Funktionsdifferenzierung, oder doch nur um eine weitere Stufe forcierten Raubbaus von außergesellschaftlichen Ressourcen handelt, wird die Realität zu zeigen haben. Anhand von Neurosen und Überforderungen wird sich darstellen, wie wir der permanenten Ausweitung des Inklusionsdrucks begegnen.

Residuen der Individualitätsentwicklung
Doch wagen wir einen Schritt auf die Insel der Individualität! Was man als Gefühl bezeichnen kann, ist unweigerlich somatisiert, was nichts anderes bedeutet, als mit dem psychischen System und dem Körper verbunden. Mit den Bedürfnissen des Körpers betreten wir deutlich jene andere Seite, von der Luhmann spricht: die Sphäre jenseits der Gesellschaft. Man nennt es Heimat, man nennt es Familie, man nennt es Freunde, man nennt es Liebe und Schmerz und sie beruhen letztlich alle auf dem Zugehörigkeitsbedürfnis des Einzelnen. Es ist zu einer grausamen Gewissheit geworden, dass gesellschaftliche Inklusion selbst den Verlust individueller Inklusion nicht kompensieren kann, wenn sie ihn auch bedingt. Es verwundert aber auch kaum, dass dem Individuum, solange es an den Körper gebunden ist, emotionale Integration gewährt werden muss. Nur genügen dieselben Bedingungen für eine Inklusion in familiäre oder einfachste gesellschaftliche Formen nicht, um an der funktionsdifferenzierten Gesellschaft der Moderne teilnehmen zu können. Es gilt, sich aktiv zu kümmern, um jene andere Seite. Das (körperliche, emotionale) Leben findet vorwiegend außerhalb funktional präparierter, gesellschaftlicher Teilsysteme statt. Es geht um nicht weniger, als das Leben neben der Gesellschaft. Bestenfalls finden wir beide Seiten in versöhnlicher Koexistenz, in einem ausbalancierten Verhältnis von Inklusion und Exklusion. Es sollte uns nicht ängstigen, sondern Beruhigung sein: "Die Adresse ist, wie man sagen könnte, ein Ausdruck dafür, dass bestimmte Kommunikation sich auf jemanden bezieht und deswegen sehr viel andere Kommunikation sich nicht auf ihn bezieht. Die soziale Adresse ist immer selektiv. (...) Die Unterscheidung [Inklusion/Exklusion, J.M.] ist moral-nah gearbeitet, indem sie wie die Unterscheidung eines Präferenzwertes (Inklusion) von einem Negativwert (Exklusion) behandelt wird." (7) Dieser Jemand ist eine Person, ist eine Adresse und ist bislang zumeist an einen Körper strukturell gekoppelt. (Auch wenn Spike Jonze in seinem Spielfilm "HER" (8) schon mal einen Blick auf Alternativen wagt.)

Bereits mit Anbruch des Psychoanalysezeitalters lässt sich die deutliche Trennung zweier Hemisphären verorten. Die Unterscheidung Körper/Gesellschaft löst die vormalige Unterscheidung Leib/Seele, welche das Leben in stratifizierter Zuschreibung erträglich machte ab. (2) Die Sorge um den Körper und die Neugier um das Innere des unbekannten Ichs gehen seit jener Zeit Hand in Hand. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass die andere Seite der Gesellschaft uns seit Überwindung der stratifizierten Gesellschaftsordnung pausenlos beschäftigt und stringent zu Kognitionsforschung und den life sciences, die Ende des letzten Jahrhunderts ihr Coming Up erlebten, führte. Es durchzieht nahezu zweihundert Jahre die Einübung und das Experimentieren mit Verhaltens- und Gestaltungsformen des Körpers, um klar zu kommen mit der Exklusion des Menschen aus der Gesellschaft und der Tyrannei der Inklusion Individualität abzuringen, bzw. Reste davon in lebensnahe Habitate zu evakuieren. Ironischer Weise ist dies am besten daran zu erkennen, dass die Exklusions-Seite in den Formen von Wissenschaft und Literatur wieder auf der Innenseite der Gesellschaft, der Inklusionsseite auftaucht. Das Life-Management schuf eine Wachstumsbranche und die Lebensratgeber-Literatur ist die am meisten wachsende Sparte der Buchindustrie. Die Gesellschaft kennt eben kein Tabu.

Doch die Moral der Geschichte lautet: Wer sich aus Gründen der Verlorenheit in die Gesellschaft begibt, der wird darin (zumindest psychisch-mental) umkommen. Weil, wie sagt es Peter Fuchs so treffend: "Für soziale Systeme ist alles: Nichts. Es wird zu "Etwas", wenn in der konditionierten Koproduktion psychischer und sozialer Systeme die psychischen Systeme die Funktion des Sinn-Auflesens exerzieren." (4) Wir müssen unser Verhalten nicht wesentlich ändern. Was wir seit Anfang der Moderne einüben, werden wir lediglich perfektionieren müssen. Das World Wide Web übernimmt bereits weite Teile der dazu notwendigen Sozialisierung. So werden wir voranschreiten, uns mittels Passwörtern, Codes und Transaktionsnummern zu invisibilisieren. Getarnt und verschlüsselt genügt irgendwann allein unser Avatar, die Teilnahme an der Gesellschaft zu sichern. Wir vervollkommnen, was mit dem Stillstellen der Mimik in den Straßen der modernen Großstadt im 19. Jahrhundert begann. Zum guten Ton gehören insbesondere: Distanz und Selbstbeherrschung: Disziplinen, die wir seit Beginn der Kulturevolution pflegen. Kompensatorisch twittern wir als Anonymus hinter den Masken unserer Schirme gerne mal einfach darauf los. Aber um den "Rest" müssen wir uns selbst kümmern.

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22.01.2017

 

1) Stichweh, Rudolf, Inklusion und Exklusion, Bielefeld 2005
 
2) Luhmann, Niklas, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd.3, Frankfurt am Main 1989, S.158
 
3) Fuchs, Peter, Das Weltbildhaus, Weilerswist 2010, S.318
 
4) Fuchs, Peter, Das System SELBST, Weilerswist 2010, S.210
 
5) Bauman, Zygmunt, Leben als Konsum, S67
 
6) Fuchs, Peter, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S.215
 
7) Fuchs, Peter, Der Eigen-Sinn des Bewußtseins, S.24
8) Jonze, Spike, HER, 2013
 
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