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EXIT oder Leben und Sterben ...
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Unseren Wert gib uns heute!
Der »Hot Deal« der Digitalisierung
von Jürgen Mick

Die Entwicklungserfolge der Sensorik prophezeien, dass das neue Millennium mit dem Jahrhundert der Sensor-Technik beginnt. Sie wird unser Leben und vor allem unser Zusammenleben auf den Kopf stellen. Das physische Enhancement wird Ausmaße annehmen, dass wir unsere althergebrachte Ausstattung nur noch als Rumpf begreifen werden, der in der Lage ist via Sensoren in die Welt auszugreifen. Die physischen Systeme werden zur Steuerungszentrale einer digitalen Miniatur-Logistik. Das Beste daran ist vielleicht, dass sich der Mensch endlich als Mängelwesen sympathisch wird und Behinderung als Grundzustand erscheint.

Was verleitet uns, die Systeme der Überwachung und Bevormundung zu akzeptieren, ja sie teilweise aktiv zu befördern, zu füttern und ihnen aufzutragen über uns zu wachen? Ist es ein postnataler Entbindungsschmerz, der uns dazu bewegt die Blackbox im Auto, den Cholesterin-Sensor im Urinal, die Feuer- und Klimamelder an unseren Zimmerdecken, die Gesundheitsuhren an unseren Handgelenken und die Kameras an allen Laternenmasten aufzufordern: Sensoren, wacht über uns!

Sensoren erheben Daten und verhökern uns an den Meistbietenden. Mit der Konsequenz, dass wir uns selbst irgendwann nicht mehr leisten können. Die Methodik der kapitalistisch geprägten Spätmoderne lässt sich in alle Handelsbeziehungen implementieren. Heute werden soziale Veränderungen verkauft - nicht über Normen eingeführt, nicht verordnet, nicht in Gesetze gegossen. Mit der Masse wird ohne deren Wissen experimentiert. "Social Physiscs" nennt sich eine neue Wissenschaft von der Manipulation des Einzelnen durch seine Umwelt. In die Untersuchungen mit einbezogen werden da mittlerweile nicht nur Freunde und soziale Systeme, sondern auch technische Gadgets.

Die Sensoren streicheln unsere Körper und massieren unsere Seele. In der Erweiterung von Körper und Geist liegen transzendente Motive. Der Kontakt mit dem Netz kompensiert den spürbaren Verlust an Transzendenz in unserem Alltag. Unsere intimste Verfassung einem größeren, transzendenten Etwas zur Kenntnis zu bringen, kommt der Offenbarung in einem Beichtstuhl sehr nahe. Dort öffnet man sich einem anonymisierten Vater und man spricht durch eine perforierte Wand (die in ihrer Porosität einer Mikrophonkapsel sehr ähnelt). Zur besseren Bewältigung wird das Intime stets einer höheren Instanz übergeben. Man betet zu Gott, sucht den Arzt des Vertrauens, bezahlt den professionellen Therapeuten, man beichtet der Öffentlichkeit oder schreibt es in ein Tagebuch. Nun übergeben wir uns in die Hände des Netzes. Insgeheim wünschend, dass jemand mitliest.

Neuerungen basieren meist auf "Deals". Anders lässt sich der Mensch selten überreden, sich zu verändern. Informationen werden dann akzeptiert, wenn wir in irgendeiner Form davon profitieren, oder sie unser Weltbild bestärken. Wir sind fokussiert auf und sozialisiert durch "Hot Deals" und nicht erst seit Erfindung des Supermarktes. Wir springen auf Ideen an, wenn die Möglichkeit besteht, dass sie dazu beitragen könnten, uns nicht nur gut, sondern vor allem besser zu fühlen. Die raffinierteste Form dafür ist der "Hot Deal". Er basiert auf dem zeitlichen Missverhältnis von Gewinn und Verlust; darauf, dass zeitnah und kurzfristig Gewinn erzielt wird und man dadurch verleitet wird, auf "Verträge" einzugehen, die im Gegenzug langfristig der anderen Partei Gewinne bescheren. Es ist der Klassiker einer jeden Kreditverhandlung. Die Suggestion, zum eigenen Vorteil zu handeln, ist hinreichend, um als autonomes Vernunftkriterium akzeptiert zu werden und den Deal einzugehen.

Dabei handelt es sich um das archaisch kindliche Anreizverhalten, das davon ausgeht, der Spatz in der Hand sei besser, als die Taube auf dem Dach. Dabei wird wohlwollend unterschlagen, wie hoch die Kosten eines solchen Verhaltens letztendlich sein mögen. Heute sind unser Verhandlungspartner meist Konzerne und Institutionen, denen Zeit in größerem Maße zur Verfügung steht, als uns selbst. Auch dieses Prinzip ist aus der Kirchengeschichte hinlänglich bekannt. Es sind die "Hot Deals" unserer Tage, die uns blind werden lassen für die langfristigen Absichten der anderen. Man reicht einem jovial die Hand und man verbrennt sich kurz darauf die Finger.

Unseren Wert gib uns heute
Doch der "Hot Deal", der uns die Fühler auf die Brust klebt, greift tiefer, als in unser Portemonnaie, nämlich auf unseren Gefühlshaushalt durch. Er suggeriert eine neue Variante der Komplettinklusion, die die Funktionssysteme der Gesellschaft nicht bieten können. In einem atheistisch geprägten Alltag kompensieren diesen Mangel an Zuwendungen bislang die Familie, die Liebesbeziehung und die Freundschaft. Peter Fuchs benennt das so: "Die Funktion von Familie (unter modernen Bedingungen) reitet gleichsam parasitär auf dem Verlust der Komplettinklusion von Personen in der Gesellschaft."(1) Soll heißen in der Familie wird emotional das vermittelt, was uns die Gesellschaft strikt verwehrt: Mit Haut und Haaren Mitglied zu sein und etwas "wert" zu sein.

So lassen wir es gerne über uns ergehen, dass Konzerne, Institutionen, Firmen, oder wie auch immer sie sich nennen mögen, alles über uns zu erfahren bestreben. Weil wir gerne etwas geben in dem Glauben unseren "Selbst-Wert" dadurch zu verbessern. Mit der selbstbestärkenden Rechtfertigung "Wer nichts zu verbergen hat, ... ", geben wir uns hin und lassen uns mit vermeintlichen Vorteilen für uns selbst ködern. Der rückläufige Trend von Zusammenschlüssen in Familienhaushalten provoziert Ehrgeiz und das Engagement zur Selbstoptimierung.

Dabei behauptet die Forderung nach Optimierung unserer selbst nichts anders, als unseren Mangelzustand. Diese Unterstellung operiert nicht nur im Sozialen, sondern greift bis aufs Psychische durch. Sie implantiert quasi Selbstverachtung. Die Suggestion, dass wir alle nicht vollkommen sind, ist eigentlich eine Binsenweisheit, aber wenn einfache Wege aufzeigt werden, dies zu ändern, muss man ein Dummkopf sein, wenn man nicht einschlägt. Statt mit Mängeln zu leben, muss man sie beseitigen.

Schicke Du mir Deine Daten, dann werde ich Dir sagen, wo an Dir etwas nicht stimmt und selbstredend mit einer Lösung aufwarten. So verlockend klingt der "Hot Deal" der Digitalisierung. und er wird zum faustischen Deal: Vermeintliche Freiheit gegen Manipulation und Geborgenheitsersatz gegen Gewinnmaximierung. Der Invasion in unser Innerstes steht nichts im Wege, weil wir offen sind für jede Art der Aufmerksamkeit, die man uns "schenkt".

Da es mit der Selbstdisziplin ein kompliziertes Unterfangen ist, tut man es schließlich unter der Beobachtung durch andere. Man sucht die kompetitive Form des sich Zeigens, weil man allein nicht vom Sofa hoch kommt. Und spielt neuen Instanzen in die Hände, die schon längst alles tun, an dieser Obsession zu parasitieren. Auf den Wettkampfgedanken kann man immer setzen. An dem stärker zutage tretenden Defizit der Komplettinklusion parasitieren professionelle Akteure der Gesellschaft, die eine profitable Lücke ausfindig gemacht haben. Komplettinklusion, oder sollte man besser sagen Ersatzinklusionsmodelle liegen im Trend. Auch Firmen, Ämter, Parteien und Vereine bemühen sich auf diese Weise Bindungsambitionen zu wecken und die intrinsische Motivation ihrer Mitarbeiter für sich zu instrumentalisieren.

In diesem Licht erscheint die aktuelle Tendenz der Aufweichung von Privatsphäre und Arbeitssphäre (zunehmend ermöglicht durch die Digitalisierung) geradezu als perfides Geschäftsmodell. Der spürbare Mangel durch soziale Inklusion, nicht zuletzt durch die Entbehrung des zuletzt gut funktionierenden Residuums Familie, wird umgeleitet in die zunehmende Akzeptanz von Firmenangeboten. Jens Jessen beschreibt das so: "Darin liegt ein kaum noch versteckter totalitärer Zug der Managementmethoden: Die Institution greift nach der Seele des Mitarbeiters. Daher die sektenhaften Schulungsmethoden und ihre mantraähnlichen Beschwörungen, die an Exerzitien, wenn nicht an Gehirnwäsche erinnern. (...) Die Trennung von Amt und Person, eine der großen Zivilisationsleistungen der Vergangenheit, die dem Individuum die innere Freiheit von seiner sichtbaren Stellung schenkte, die ihm erlaubte, sich zu maskieren und zu verstecken, ist an ihr Ende gekommen. Der moderne Büromensch kennt keine Masken mehr; er ist schutzlos und nackt."(2) Doch das ist erst der Anfang, es geht noch nackter.

Offenbarung 3.0
So richtig funktionieren wird der "Hot Deal", wenn wir Offenbarung so betreiben, dass wir uns komplett in Datenpakete zerlegt haben. Mit den billigsten Versprechen und den archaischsten Reizen entlockt man uns unsere Motivationen und unseren Pulsschlag, als digitale Spur, anhand derer man unsere "vermeintlichen" Präferenzen und unsere Identität zu synthetisieren in der Lage ist. Wir liegen schließlich bis auf die DNS zerlegt in Datenbanken zum Ausschlachten bereit, für Versicherungen, Kaufhäuser, Pharmaindustrie usw.usw. usw. Um zu wissen, was jener gekauft hat, würde auch dieser kaufen, braucht man uns in digitalisierter Form. Wenn jener an Herzinfarkt gestorben ist, dann befinden Sie sich bereits in alarmierender Lebensgefahr! Gleichzeitig tickern Rezeptofferten und Therapievorschläge in die Mailinglist.

Was wird aus mir werden? Und vor allem was könnte aus mir werden? Der Teufel ist die Zukunft. Beteiligung geriert sich pseudofreiwillig. Wir glauben, unsere Entscheidungen unter Unsicherheit auf diese Weise eliminieren zu können. Wir überlassen sie Algorithmen. Die Zukunft malt sich selbst an die Wand und schubst uns dorthin, wo sie uns am liebsten haben würde. Eine Strategie der Zukunft (Genitivus subjektivus), die sich mit der Digitalisierung verschwistert wird zu einem Manipulationsgenerator. Man lenkt uns, wie der vermeintliche Gedankenleser oder der gemeine Autoverkäufer es tun, indem sie Bedürfnisse erst generieren, um sie dann zu befriedigen. Die Digitalisierung erlaubt es, die nicht ganz neue Strategie zu einem imposanten Leitmotiv der Operationsweise ihrer Protagonisten zu erheben und sie dazu zu benutzen "Individuen" und "Karrieren" zu generieren. Es hat sich eben herausgestellt, dass man mit digitalen Daten sehr viel effizienter manipulieren kann, als mit jedem anderen Medium.

Auf Basis der Lichtgeschwindigkeit ist es möglich geworden, den Text unseres Daseins umzuschreiben, während wir ihn lesen/leben. An Subtilität ist Zeichenmanipulation nicht zu übertreffen. In ihrer "fluiden" Form geht sie wortwörtlich unter die Haut: Es ist die Sprache unserer Synapsen. Wenn wir den "Hot Deal" vollziehen, werden wir uns fühlen, wie in einem wonderland alla Alice. Schon heute sehen wir uns in eine infantil ausstaffierte Umgebung von harmlosen Knöpfchen (Herzchen, Daumen, Smileys) und Firmen mit Namen, wie aus einer Hello-Kitty-Welt (Apfel, bing, google, mikroweich, Poesiealbum) gelockt und schreiben - ohne es zu ahnen - an unserer Karriere, unserer Befindlichkeit und unserer Krankenakte selbst. (Man sehe sich nur einmal die Chronik der eigenen Einkäufe eines Jahrzehnts bei amazon an, um ins Grübeln zu kommen.)

Als Gegenleistung erhalten wir ein Wunderland, ganz nach unseren Vorlieben. Unser gesamter Alltagshintergrund, als der bislang die Öffentliche Meinung fungierte, wird vollständig nach subjektiven Präferenzen generiert. Nachrichten, ebenso wie Unterhaltung verschmelzen zu einem individualisierten Info-Entertainment. Die öffentliche Meinung wird nicht länger das Produkt von gewieften Redakteuren und aufrichtigen Journalisten sein. Die Grundlagen unserer zukünftigen Meinungen werden durch Sensoren unmittelbar an uns selbst abgegriffen und als Produkt von Algorithmen errechnet, deren Formel sonst nur aus der Position Gottes sichtbar war, der allein wissen konnte, welche Meinung und Emotionen zu haben ich wollen werde.

Die Individualisierung der Lebenswelt ist dann in ihrer Endphase angekommen. Die Offenbarung 3.0 macht uns zu den Regisseuren unserer eigenen "Truman Show". Das faustische an der Digitalisierung ist: Wir sind die Ghostwriter unserer eigenen Leben. Und die von uns bezahlten "Dealer" liefern die Story. Sie nutzen lediglich einen tief im Stammhirn verankerten, evolutionsbiologischen Kniff als blueprint: Ehe wir wissen, wollen wir! Wie jeder gute Autoverkäufer weiß.

12.10.14

 

 
1) Fuchs, Peter, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992
 

2) Jessen, Jens, Die Firma ist das Leben, und das Leben die Firma, in ZEIT Nr.15, 15.03.2012 über das Buch: Christoph Bartmann: Leben im Büro, Die schöne neue Welt der Angestellten; Hanser, München 2012

 

 

 
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