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ZU INDIVIDUUM, LEBEN UND GESELLSCHAFT

 
Tyrannei der Inklusion (Teil 2)
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»Trainergesellschaft«
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»Trainergesellschaft«
Bevormundung und ihre Nebenfolgen
von Jürgen Mick

Erst zweihundert Jahre ist es her, dass uns die Philosophie, namentlich ein Herr Kant, aufgefordert hat, uns aus unserer selbst gewählten Unmündigkeit zu befreien. Und heute ist man versucht zu denken, dem lag wohl ein zu ehrgeiziges Anforderungsprofil eines disziplindurchtränkten Professors zu Grunde. Man mag sich des gegenteiligen Eindrucks nicht erwehren, wir hielten sie mittlerweile für ein hohes Gut, diese liebgewonnene Unmündigkeit.

Angesichts von Debatten über Nichtraucherschutzgesetz, Frauenquoten, Kindergartenplatzanspruch, Mindestlohn und Betreuungsgeldern, um nur die populärsten Lieblingsschauplätze politischen Aktionismus´ zu nennen, fragt man sich: Macht sich eigentlich niemand mehr Gedanken darüber, wie weit Bevormundung gehen darf? Wo ist ein Rest von Wille zur Selbstbestimmung? Oder mit Harald Schmidt gefragt: "Warum lassen sich die Frauen den ganzen Quatsch einreden?"(1)

Ja, Frauen tragen die Last in den meisten der aktuellen Debatten, da Bevormundung nur zu gern im Gewande von Chancengleichheit und Gleichstellung daherkommt. Man wird das Gefühl nicht los, da wird der Wille zur Konformität in kleinen Dosen verabreicht; und alle halten still!? Statt Verschiedenheit als Freiheit zu leben und zu ertragen, begräbt man Diversität unter konformen Anforderungsprofilen. Doch wer Gleichheit fordert, wird Gleichschaltung ernten!

Ein, zwei Jahrhunderte waren wir stolz auf die Errungenschaft der Individualität und Authentizität, und hielten zu Recht Identität und Autonomie in Ehren. Ist es dem Krisengeschwätz und den europäischen Götterdämmerungsszenarien geschuldet, dass der Freiheit zur Selbstgestaltung jeglicher Reiz abhandenkam? Sind wir der vielen Freiheit müde, nachdem wir beinahe siebzig Jahre in Frieden lebten?

Doppelerwerbstätigkeit, permanente Flexibilität, Rollentausch, kinderreiche Familie, lebenslanges Lernen (was nur Verschleiern soll, dass man darüber Sorge trägt möglichst jedermann im Produktivstatus zu halten), Multiples ICH (und wenn ja, wie viele?) und vieles mehr wird in der Spätmoderne als Pflichtprogramm gehandelt und als Mindestanforderung kritiklos in den Raum gestellt. Der Einzelne fragt sich unterdessen lieber, welche Drogen muss ich nehmen, um das anständig Absolvieren zu können? Mehr noch, diese Formen des Lebens werden widerstandslos zu Maximen erhoben und unter dem dräuenden Druck einer Unauffälligkeitsmaxime lässig auf sich genommen (mach dich locker!). Stress ist etwas für Verlierer, Erregung uncool.

Gerade den matriarchalen Förderungsfittichen entschlüpft, werden sofort die eigenen ehrgeizigen Klauen ausgefahren, jede Gelegenheit der Selbstperformance zu ergreifen. Man legt den ganz großen Tanz aufs Parkett, ehe man auch nur mit einem Gedanken erwogen hat, zu welcher Musik man eigentlich tanzen will. Gerade erst dem Leitbild der Hausfrau und Mutter entkommen, sattelt man konsequent auf die Leitbildkultur der trächtigen Managerin um. Es hat gewiss nichts mit Selbstbestimmung zu tun, wenn man vorfabrizierte Leitbilder lediglich gegeneinander austauscht.

Zwischen all den Imperativen zur maximalen Ausbeutung des eigenen Lebens, ist es zu allem Übel zur vielgestaltigen Unsitte geworden, dass sogar Politiker in dem Territorium der Lebenszeitgestaltung wildern. Geradezu zum Lieblingsterrain ist der exemplarische Entwurf von Lebensentwürfen für ihr Volk avanciert. Und dazu muss man nicht unbedingt in den Reden eines türkischen Ministerpräsidenten nachlesen, um zu erahnen, dass es wieder darum geht, dass irgendwer irgendjemanden manipulieren will. (Recep Tayyip Erdogan hat im Sommer 2013 im Gezi-Park seinen Denkzettel erhalten.)

Auf Grund der eklatanten Koevolution von Psyche und Gesellschaft, kann es nicht schaden wieder einmal in Erinnerung zu rufen, dass wir immer Kinder einer - nämlich immer der jeweils unsrigen - Zeit sind. Die Disziplinargesellschaft ist gerade überstanden, ihre Spätfolgen und Verjährungsfristen werden noch vor verschiedenen Untersuchungsausschüssen und Gerichten verhandelt, schon gibt es bereits die Tendenz sich Hals über Kopf in eine Trainergesellschaft zu stürzen.

"Trainergesellschaft" soll den common sense benennen, der einerseits daran glaubt physische Entwicklungen substituieren zu können und zum anderen die Überformung von psychisch-mentalen Bedürfnissen mittels Normierung aus nur einem Grund für legitim erachtet, weil es sich gesellschaftlich "rechnet". Eine Gesellschaft, die beispielsweise skrupellos und rigoros darauf pocht, jedermann dauerhafte Flexibilität anzutrainieren, Kinder als Erwachsene zu behandeln (2), Alte als Last zu entsorgen, Junge vor Karriereentscheidungen zu stellen, von Erwerbslosen "Anschlussverwendungen"(3) einzufordern. Euphorisiert von technisch-medizinischen und klinischen Erfolgen werden physische Abhängigkeiten der Willkür unterlegt. Wir leugnen Phasen der Entwicklung und legen höchsten Wert auf Permanenz, bis hin zum ewigen (gesellschaftlichen) Leben. Soweit man blickt, auf Dauer gestellte Produktivkräfte, in einer totalen Gegenwart, die unseren Status Quo erhalten.

Wohin so poetische Begriffe wie "Umnachtung"? In deren Arme ein verbrannter Nietzsche noch hinsinken durfte, ohne der Abtrünnigkeit verdächtig zu werden. Jedes "defizitäre" Alter wird problematisiert und dazu mit einer gesellschaftskompatiblen "Prothese" ausgestattet. Ausgehend von PID, KiGa, KiTa und Ganztagesschule schafft man es im gelingenden Falle in die Produktivität, in der man über Fort- und Weiterbildung, Umschulung, Therapie, Medikamentierung, Transplantation und Rehabilitierung möglichst ausdauernd gehalten wird, bis man von der Freizeitindustrie im Rentenstatus willkommen geheißen wird, um schlussendlich in Altenheim, Pflegestation, Sterbe-Hospiz möglichst langsam und kostenintensiv der Endverwendung zugeführt wird. Wer diese gesellschaftlichen Vorkehrungen nicht in Anspruch nimmt, muss anerkennungstechnisch und in naher Zukunft auch erkennungstechnisch mit Ächtung rechnen, und das heißt versorgungstechnisch mit faktischen Nachteilen leben lernen. Selbstredend ausgenommen diejenigen die auf Grund finanzieller Unabhängigkeit, jenseits der Solidaritätsgrenze, ohnehin ihren eigenen Versorgungs(t)raum errichten.

Im Mittelpunkt der Gesellschaft steht also aus marktwirtschaftlichen Gründen die "Lebensphase" der Produktivität, die möglichst weit in ihre Grenzbereiche hineingetrieben werden soll. Keine Lebenszeit außer der Produktivitätsphase wird bedingungslos anerkannt. Sie kennt keinen Anfang, kein Ende, keine Höhen, keine Tiefen und auch keine Leerstellen (siehe Bewerbungsunterlagen bis Rentenbeitragsbescheinigungen), keine Lernphasen, keine Setzungsphasen, keine Hochzeiten, keine Endphasen. Den ungeliebten Ausfällen entgegen zu wirken, sind oben genannte Instrumente der Pufferung eingebaut.

Des Weiteren sollen Selbstkontrolle, Selbstdisziplin und Selbstformung für friktionsarme Lebensläufe sorgen. Da kann man nur bedauern, dass selbst auferlegter Kadaver-Gehorsam unter Vorschützen beliebiger, meist Lebensberaterlektüre entnommener, individueller Maximen noch nicht den Straftatbestand der Selbstverstümmelung erfüllt und auch nicht als psychische-mentale Gefährdung der Öffentlichkeit gelistet wird.

Die Palette an Karrieremodellen ist schier unerschöpflich, egal welche Branche. Und alle Modelle werden spätestens mit Verleihung des Präfix "Top-" und "Super-" zum Verkaufsschlager. Eingriffe in Körper und Gesundheit selbstredend erwünscht. Der Coach holt das Beste heraus, der Juror passt auf und das Publikum applaudiert. Das kennt man aus Fernsehshows, doch es stammt ursprünglich aus der Welt der Karriere- und Berufsberater, und bestreitet seinen Siegeszug seit Mitte des letzten Jahrhunderts, ausgehend von den USA, kreuz und quer durch die westlich-marktwirtschaftlich orientierte Welt . Es geht um Optimierung und Enhancement und Erhöhung der Gewinnmargen. Berater, Coaches und Controller kennt man jetzt auch im Entertainment-Business und niemand empört sich, dass sie einen nicht einmal in Sachen Unterhaltung singen und tanzen lassen, ohne grenzdebile Beurteilungen über die Protagonisten zu kübeln. Auch die Unterhaltung ist nur ein Geschäft. Und das Geschäft mit der Zukunftsangst boomt. Da kann sich jeder Trainer gut verkaufen.

Die Mama-Generation misst der Selbstbestimmung weit weniger Wert zu, als einer Garantie auf ökonomische und soziale Versorgung. Das, was sie als Selbstbestimmung verhandeln, hat (vielleicht ohne ihr Wissen, das mag man ihnen der mangelnden Erfahrung wegen nicht vorwerfen) lange vorher sich ein geschäftstüchtiger Geist ersonnen. Rechtfertigt das alle Mühen, die ein Streberdasein auf dem Weg zum guten Zeugnis, abverlangt? Der in meiner Generation noch verhasste Satz "Du lernst nicht für die Schule, sondern für das Leben", wird brav und neunmalklug von Minderjährigen zitiert und bekommt dabei unter der Hand eine diametral entgegengesetzte Konnotation, als noch vor einer Generationen. Er bedeutet nicht mehr, dass man in der Schule lernt, um in einem wie auch immer zu erwartenden Leben zu bestehen, sondern man lernt, um überhaupt erst in ein Leben zu gelangen! Das Leben ist nicht gegeben, das Leben ist erst zu kreieren. Wer nicht lernt, hat gar kein Leben und das klingt vor allem aus dem Munde der Jungen so unverschämt selbstbewusst, siegessicher und herablassend, um nicht zu sagen lebensverachtend und zynisch. Als wäre irgendwo verbrieft, dass man sich eine gute Zukunft antrainieren könne und nur auf diese Weise ein lebenswertes Leben vor sich habe.

Man wäre eigentlich aufgefordert zu lachen. Das wird wirklich geglaubt? In einer globalisierten Welt, die sich darüber definiert, dass sie feste Ordnungen als kontingent entlarvt? Die weiß, dass jede Aussage auf Ambivalenz stößt. Die weiß, dass sie eben nicht mehr mit Klarheit und Sicherheit eine Zukunft versprechen kann. Da scheint es, als bastelten wir uns verblendet und in grenzenloser Naivität faszinierende Marionettenmodelle, um sie mit selbstzerstörerischer Verausgabung zu beschwören wie kleine Voodoo-Puppen.

Der Trainer oder der Coach, der Juror und alle Berater, die in deren Fahrwasser Besserwisserei zum Geschäftsmodell erkoren haben, die Sophisten unserer Tage also, sind nicht von ungefähr, mit die bestbezahlten Beruf der Stunde. Sie wollen uns sagen, ein Leben mit Optimierungsambition und Erfolgsgarantie ist nur unter den wachsamen Augen der Allwissenden möglich. Und dem wird auch niemand widersprechen wollen, denn der Weg erscheint alternativlos! Das rhetorische Schreckgespenst, dem keiner wagt Paroli zu bieten. (An dieser Stelle würde es sich anbieten, näher zu hinterfragen, weshalb "Die Tribute von Panem" u.ä. Literatur bei Jugendlichen momentan so erfolgreich ist.)

Zu etwaigen Nebenfolgen will keiner Auskunft geben. Dazu befrage man zu gegebener Zeit die Vergessenen, die Aussortierten und Abgehängten, die Zweitplatzierten, die Silbermedaillenträger der Gesellschaft - nicht das Prekariat, die Unterprivilegierten -, nein, die auf den letzten Seiten des Boulevard bemitleidet werden. Sie könnten die unendliche Geschichte der Abhängigkeit erzählen. Und tun es mitunter, unfreiwillig, aus purer Not.

Zum Leid aller hat man sich vom Beratervirus sogar in der Politik infizieren lassen und reflexartig berufen gefühlt als Volksvertreter den Coach zu geben. Die konkretesten, handfesten Vorstellungen, wie der Bürger gut lebt, hat man selbstredend in Politik, Wirtschaft und Erziehung zu kreieren. Anstatt den rechtlichen Rahmen für eine freie Entfaltung der Einzelnen bereit zu stellen - was in einem Rechtsstaat oberstes Gebot sein sollte - ergreift man pragmatischer Weise kurzerhand das Zepter und tut alles, um berechenbare Individuenströme (so paradox das Wort auch konstruiert ist) zu formieren, die man auf ihrem Weg in ihre produktive Lebensphase professionell begleitet. Der Staat "läuft" nur, wenn produktive Mitglieder der Gesellschaft zugeführt werden. Man erweckt zwar gerne den Eindruck als mangelte es an Leistungsträgern, aber man weiß nur zu gut, "den Laden halten nur die konservativen Spießer am Laufen." Auch damit hat Harald Schmidt vermutlich Recht. Wahrscheinlich ist aber nur die Begrifflichkeit verrutscht. Vielleicht redet man über die eigentlichen Leistungsträger nur nicht in genügender Anerkennung ihrer Leistungen wie Barzon Brock annimmt, Nach Brock sind die wahren Leistungsträger alldiejenigen "die dafür Sorge tragen, dass im besten Sinne des Wortes nichts passiert: kein Unfall, kein Anfall, kein Ausfall. Auf all die Aktionisten - Politiker, Manager, Künstler - könne man verzichten; nicht aber auf das Krankenhauspersonal oder auf die Müllabfuhr…"(4)

Nicht jeder Abiturient muss Hedge-Fond-Manager werden, nicht jede Studentin der Wirtschaftswissenschaften den Posten im Aufsichtsrat eines DAX-Konzerns als Erfüllung begreifen (die Zahlen sind im Augenblick übrigens rückläufig, da wird es höchste Zeit für eine Quote). Dennoch gerät jeder Einzelne unter Stress, weil die Trainer schließlich schon mit den Hufen scharren und im Hintergrund ihr Leistungsmantra schnauben, dass alles andere unterhalb der persönlichen Möglichkeiten läge. Die Frauenquote ist und bleibt eine Ohrfeige, die eigentlich die Feministinnen als erste hätten abwehren müssen. Die beackern aktuell lieber ein weitaus dramatischeres Feld und kümmern sich schon mal das Verbot des ältesten Gewerbes der Welt.

So vieles dreht sich um Einordnung, Klassifizierung und Erhalt. Da reicht es jeden dort abzuholen, wo er steht und ihn mit dem Willen zur Sicherheit zu impfen. Die Politiker sind nicht naiv. Gerade aus diesem Grunde kann man unterstellen, sie setzten verstärkt auf die eigentlichen Leistungsträger und lieferten ihnen frei Haus ein Rundum-Sorglos-Paket: Von der Ausbildung bis zur lebenslangen Produktivität, einschließlich Firmen finanzierte Studiengänge. Der Sinn steht nach Optimierung und Enhancement! Niemand legt mehr Wert auf Berufung und Glück im Sinne eines gelingenden Lebens. Das "gute Leben" in "Gerechtigkeit und Freiheit" wird nicht einmal mehr als Fernziel artikuliert. (allenfalls als Fernreiseziel.)

Vielleicht ist niemandem der Heutigen ein Vorwurf zu machen, der Zwang nicht mehr persönlich und physisch erlebt hat, der Willkür und Manipulation am eigenen Leib nie erleben musste. Aber ihnen sei gesagt, spätestens dann sollte in jedem ein Verdacht aufkeimen, wenn er in der Bevormundung die Geborgenheit zu schätzen beginnt. "Versorgt und abhängig" ist ein schlechtes Label für eine Generation, die Herausforderungen in globalen Dimensionen anzupacken hat, in einer hybriden und ambivalenten Weltgesellschaft, der jegliche Ordnung als beliebig erscheint. Vielleicht beliebt es gerade aus diesem Mangel heraus, alles in Ordnungen zu zwängen. Die Dinge des Lebens einzuschließen, um noch irgendetwas im Griff zu haben? Es gelingt auch immer, aber mit der Willkür im Gepäck. Denn es ist per definitionem jede Ordnung möglich. Wir können das Rauchen verbieten, wir können patriarchale Dominanz untersagen, wir können die Freier kriminalisieren. (Allesamt ins Feld geführt zum Wohle und Schutze Dritter!) Mit der Argumentationslinie über die Absicht zum Besten Dritter wird der Willkür der Wertevermittlung Tür und Tor geöffnet. Man kennt diese Strategie nicht umsonst aus dem Repertoire des gerechten Krieges. Zumindest die Politik in einer Demokratie sollte darin Grund genug sehen ihre Finger aus dem Geschäft der Lifestyle-Beratung zu ziehen.

In der Konsequenz müssten wir uns allerdings auf wahrlich existenzielle Entscheidungen gefasst machen. Man müsste wieder selbst bestimmen, ob man Zigaretten raucht oder gegebenenfalls nur in Lokalen speist, in denen niemand qualmt, ob man den Mut oder den Leichtsinn besitzt, mit dem Fahrrad ohne Helm zu fahren, ob man eher zu Fleisch oder zu Gemüse tendiert. Das alles aber ohne die Drohung im Nacken, dass man den Versicherungsschutz entzogen bekäme und die Gesundheitsversorgung und Pflege verweigert, oder Rentenpunkte gestrichen würden. Das sollte es unbedingt wert sein.

Man wäre vor so banale wie existenzielle Fragen gestellt, was man empfindet, was man riskiert, was man für gut oder böse hält, oder schlicht wann es Zeit ist zu Schweigen und zu gehen. Man müsste sich wirklich die Mühe machen sich selbst zu fragen, welche Vorlieben man besitzt. Rock & Roll oder Betreutes Wohnen? Nicht die Entscheidung umgehen. Auch widerstehen, wenn die All-Inclusive-Varianten im Angebot sind: Betreut zum Rock ´n´ Roll! Das muss der Moment gewesen sein, da man erste Zweifel bekam, als bekannt wurde, dass Pop-Akademien gründet werden und man die Bedenken nicht wieder loswurde, ob man jetzt auf der Metaebene des gelingenden Lebens angekommen sei? Die Perversion einer Freiheit unter Anleitung nahm zwingend Gestalt an: Der Rockstar mit Diplom!? Die Weiterentwicklungen laufen heute quotenträchtig auf PRO7 und SAT1 unter den auguralen Augen eines Anerkennung genießenden Pop-Establishments (!) ab.

Nun gut, Lou Reed muss die weiteren Auswüchse nicht mehr miterleben, aber man möchte zu gern mit beiden Händen die Telecaster auf die Bretter schmettern und dazu seufzen: "Take a walk on the wild side!" Das aber wäre ein peinlicher Reflex, der auf eine Zeit zurück geht, in der Rock noch existenzielle Bedeutung hatte.

04.12.13

 

 
1) Harald Schmidt im Interview Vis a Vis, 3sat, 03.12.12
 
2)vgl. Postman, Neil, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt am Main 1983
 
3) Rössler, Philipp, Staatsminister der Bundesrepublik Deutschland, im Rahmen der Massenentlassungen bei der Insolvenz der Firma Schlecker, 2013
 

4) zit.n. Frasch, Timo, Das neue Athen, FAZ 02.12.2012

 
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