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Anderssehen
unter den Bedingungen der Moderne

von Jürgen Mick

Eine Begabung ist für die Kreativität notwendige Bedingung: Das aufmerksame Beobachten. Nein, das kann nicht jeder, bestenfalls kann man es erlernen, doch ist es meist eine Gabe. Es ist deshalb für die Kreativität so wichtig, da man für gewöhnlich nur sieht, was man immer schon sieht, beziehungsweise sehen will. Für gewöhnlich lenkt die Erwartung unsere Ansichten. Nur der aufmerksame Beobachter wird etwas erblicken, was sonst niemand sieht. Es stellt einen kreativen Akt dar, einen Stein nicht nur als Ganzes zu erblicken, sondern ihm die Klinge anzusehen! Die Dinge nicht so zu sehen, wie man sie sieht, bedeutet kreativ sein. Dazu ist es unabdingbar eine Grenze unvorstellbarer Dimension zu überwinden. Man weiß schließlich nie davon, wovon man nichts weiß. Sich dorthin zu begeben wirft Rätsel auf und flößt Angst ein. Aber man könnte auch annehmen, dass es einfach Lust bereitete, immer wieder dorthin aufzubrechen.

Von der anderen Seite die Welt erblicken, die Dinge verrückt zu betrachten, blitzartig die Grenze zu durchbrechen, bedeutet gedanklich über eine Klinge zu springen. Den mentalen Tod zu riskieren. Gefahr und Lust verschmelzen dort im kreativen Akt. Wir kennen das prickelnde Gefühl, aus dem Vorgang, wenn man uns einen Witz erzählt. Erst folgt der Gedanken dem konservativen, dem üblichen, dem selbstverständlichen Weg auf den er - natürlich in voller Absicht - geführt wird. Der Witzerzähler verhält sich, wie der Zauberer, wenn er den Blick des Publikums auf das Gewohnte lenkt. Nur um möglichst keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass darunter ein unvorstellbarer Abgrund lauert. Erst wenn das Timing es erfordert, wird das Ungesehene demonstrativ vor Augen geführt. Plötzlich bricht man durch das Glatteis und schüttelt sich vor Lachen, weil bei allen Versuchen sich auszumalen, was kommen könnte, man auf diese Pointe gerade nicht gekommen war. Für einen Moment wird das konservative Gedankengut durchbrochen und man befindet sich unverhofft - wie durch Zauber - auf der anderen Seite wieder. Im nächsten Moment wird aus der Verblüffung Beschämung über die eigene Blindheit, und sofort wird - um die geistige Enttarnung zu überspielen - diese mit einem Lacher quittiert. Aus diesem Grunde funktioniert jeder Witz auch nur ein einziges Mal. Niemand lässt sich mit derselben Tatsache zweimal überraschen. Von dem man weiß, kann man nicht nichts wissen. Man kann sich nicht unwissend machen, allenfalls vergessen. Dieser Switch ist ein Mechanismus im Denken, der Kreativität und Humor gleichermaßen beflügelt. Charlie Chaplin wird unterstellt, er habe behauptet, der Mensch lache nur, weil er vom Tod weiß, was ihn wiederum vom Tier unterscheide. Wer darüber nachdenkt weiß, auch der Tod ist nichts anderes, als in jedem Falle eine unvermeidbare Überraschung, die Pointe des Lebens sozusagen.

Man muss die Dinge anderssehen, will man zu neuartigen Ansichten kommen. Das ist keine billig getarnte Tautologie, sondern ein anspruchsvoller Imperativ. Es scheint belegt zu sein, dass unser alltägliches Dasein sich wesentlich auf konservatives Denken stützt. Aristoteles hat das Lachen nicht zu Unrecht als Besonderheit behandelt. Verbirgt sich dahinter doch ein Schema, das in abgeänderter Variante bereits in den Paradoxien des Zenon vorliegt. Ein Paradoxon entsteht durch den Versuch zwei unvereinbare Anschauungen eines Sachverhaltes gleichzeitig zu denken. Was aus natürlichen Gründen unmöglich ist, wird dazu verbal oder schriftlich temporal so auseinander gezogen und in eine Form gebracht wird, die das Unerwartbare blitzartig als Mögliches erscheinen lässt, um sich im nächsten Augenblick auch schon wieder dem gedanklichen Zugriff zu entziehen. Dieses Changieren zweier Denkzustände bewirkt das prickelnde Gefühl, das wir einem Paradoxon verdanken. Der bemühte Denker empfindet dabei einen stimulierenden Reiz, Unmögliches gleichzeitig als möglich und unmöglich zu denken. Nur in einer "Auswicklung" der Umstände in zeitlicher Abfolge, lässt sich deshalb ein Paradoxon "entfalten".

Gesellschaft verlangt nach Vertrauen, das heißt Erwartbarkeit und so gehört Konservatismus zu ihrem Wesenszug. Auf diese Weise versucht sie sich auf lange Sicht hin abzusichern. Dazu gehört es, Instabilitäten ihres Weltbildes tunlichst zu vermeiden, um sich in den Köpfen einer Mehrheit eines Kulturkreises zu stabilisieren. Was sie relativ stabil macht gegen Einflüsse von außen, macht sie in gleichem Maße zäh nach Innen. So wäre es dem auf Sicherheit konstruierten Massenverhalten geschuldet, wenn man kollektiv in den Abgrund rennt, obgleich einige zuvor davon wussten. Eine allzu rasche Übernahme von Innovationen hingegen würde ein System in derartige Fluktuationen versetzen, dass ein langfristiges Überleben in geordneten Verhältnissen nicht gewährleistet wäre.

Nichtsdestotrotz ist auch dem konservativen Denken ein - wenn auch gemächlicher - Wandel zu attestieren. Andernfalls wären Entwicklungen in der Kulturgeschichte überhaupt nicht erklärbar. Das beweist ganz nebenbei, dass die kreativen, die störenden, die vermeintlich nutzlosen Geister überproportionalen gesellschaftlichen Einfluss genießen. Die Abweichung von der Norm erzeugt über einen langen Beobachtungszeitraum einen Attraktor inmitten eines konservativen Kontinuums, an welchem sich durch Reibung, Ablagerung und Verwirrung Fluktuationen erzeugen. Zeigen sich die Abweichungen dann als fruchtbar, sickern sie in den Strom des Konservativen und werden schlussendlich in den Kanon eingegossen.

Mit anderen Worten, das Überleben einer Population ist nur gesichert durch die Auffrischung, die durch Abweichung in das konservative Gedankengut Einlass findet und über die Restabilisierung der Operationsbasis durch konservative Kräfte.

Konstruktionsproblem der Moderne
Nicht ganz zu Unrecht könnte man behaupten, wenn die Moderne an etwas leidet, dann am Imperativ des immerwährenden Anderssehens. Oder am permanenten Fall nach Vorn, wie Sloterdijk es in seinem jüngsten Buch nennt. Der Appell fordert von jedem Einzelnen "Künstlergeist". Er lautet zu jeder Zeit, erfinde dich neu! Es muss immer weiter gehen! Es darf nicht verwundern, dass sich dem nicht jedermann gewachsen sieht.

Auch der Moderne blieb bislang nichts, als ihr Gleichgewicht zu suchen in einem Austarieren von Konservatismus und Inventionen. Dass es dabei zu unkontrollierbaren Fluktuationen und in der Folge zu den bekannten Katastrophen kam, zeigt die Labilität des vermeintlichen Gleichgewichts, die sich durch die Verschiebung von Stabilität hin zu Irritation in der Moderne ergaben. Die bekanntermaßen heftigste Eruption des Konservatismus erfolgte mit dem europäischen Faschismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihm war der Zulauf geebnet, durch die bis dato umfassendste Haltlosigkeit einer an Inventionen überfrachteten Kultur. Und aus Scheu vor dem nächsten Schritt in die Abstraktion, die Selbstironie, das Lachen über sich selbst, probierte man den großen Schritt zurück in den "völkischen Geist" der Unmittelbarkeit und der Unreflektiertheit.

Erspart blieb den Modernen die Parole ihrer Existenz dennoch nicht. Der Geist war aus der Flasche: Hin- und hergerissen zwischen zwei Antworten sollt ihr leben! Heißt das: Hinnehmen sich permanent gedemütigt zu fühlen durch die andauernde Zerstörung der ererbten Sprachspiele und unserer sozialisierten Überzeugungen? Oder heißt es, unsere Kontingenz akzeptieren und endlich zu beginnen über uns zu lachen? Wer diesen Hiat bändigen will, kann ihn nur mit reflexiver Distanz bewältigen.

Distanz und Abstraktion, der Abstand und das Absehen von haben sich zu Grundtechniken der Neuzeit etabliert. Die im mittelalterlichen Vernunft-Diskurs eingeübte Fähigkeit Argumente auszutauschen, die man als Position bezieht, deren Erwiderung man nicht länger als persönliche Beleidigung zu empfinden braucht, war ein eklatanter emanzipatorischer Schritt vom Mittelalter in den Humanismus. In der Zuspitzung dessen folgten mit der Verschriftlichung schließlich die Lob- und die Spottrede, der Roman, die Kritik und die Karikatur. Stehen wir in der Moderne vor der Aufgabe der Bewältigung einer neun Abstraktionsstufe? (Sehr wohl sehend, dass Manchem bis heute nicht vergönnt ist, die erste Hürde genommen zu haben.) Analog zu einst erforderte dies heute nichts weniger, als die Ablösung von fixen Positionen.

Das spräche für die Variante des Lachens, insbesondere des Über-sich-selbst-Lachens. Richard Rorty´s Figur der "Ironikerin" könnte dafür Pate stehen, um sich zwar ernst, aber nicht zu ernst zu nehmen. So würden Positionswechsel leicht von der Hand gehen. Ein Verfahren, das man zuerst aus der Diplomatie kannte, ehe es ganz allgemein zum Duktus der Politik wurde: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern", hieß das dann bei Konrad Adenauer

Ohne Ironie ist ein solcher Ausspruch nicht erträglich. Nur mit der nötigen Selbstvergessenheit kann man damit zurechtkommen. Die Akzeptanz der Kontingenz, die Tatsache also, dass alles auch anders sein könnte, ist nur von einem Beobachtungspunkt höherer Ebene zu goutieren. Sie verlangte von den Akteuren nicht nur eine Person darzustellen, sondern auch eine Teilzeit-Gesinnung zu repräsentieren. Diejenigen, die sich heute selbst als die "Vergessenen" und die "Beleidigten" bezeichnen, sind jene, welche schon vor der ersten Hürde der Abstraktion erschrocken zurück blieben und denen man endlich in den Stegreif helfen sollte; am besten mit einer Anleitung zur "Schizophrenie". Denn eine einzige Antwort kann es keinesfalls geben: Totalitarismus, der Gegenspieler des "Anderssehens", er muss aus Alternativlosigkeit immer scheitern.

Wer von Wahrheit spricht, der erhebt den Anspruch auf die Deutungshoheit über das Gesagte. Was wir als Wahrheit hinnehmen, bezeichnet einen unhintergehbaren Sachverhalt. Das Sprechen von der Wahrheit will die andere Seite überblenden und zielt eigentlich immer auf Bestandschutz und Besitzstandwahrung. Drängt man aber auf Veränderung und Weiterentwicklung, geht es einst um geschickte, später dann um rational plausible und mittlerweile um ironische Umdeutung. Das will uns klar machen, dass die als alternativlos dargelegten Verhältnisse keineswegs Gegebenheiten, sondern Auslegungen rhetorischer Vorherrschaft sind. Und man muss immer erinnern, dass jede Deutung das Zeug dazu hat die Stellung einer Wahrheit einzunehmen, was sie für den Augenblick immunisiert gegen vorschnelle Umdeutung.

Wenn über der Moderne die Innovation als Paradigma prangt, wird das Anderssehen zwar schwierig, da ihm droht, unterzugehen in einem Meer der Beliebigkeit. Andersehen bedeutet aber mehr, als nur "alles neu!", und daran ließe es sich eventuell ausmachen. Es bleibt unverzichtbar. Für die Erneuerung der Gesellschaft ist das Ausbrechen und das Abweichen überlebenswichtig, wie die Mutation in der biologischen Reproduktion. Es sollte jedes Mal wieder eine Lust sein, von der anderen Seite die Welt erblicken. Nur Anderssehen heißt werden.

25.03.15

 

 

 
(1) Valéry, Paul, Tanz, Zeichnung und Degas, Frankfurt am Main 1996, S.67
 
(2) Sloterdijk, Peter, Streß und Freiheit, S.37
 

(3) Ehrenberg, Alain, Das erschöpfte Selbst, Frankfurt am Main, 2004/1998

 
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