Prometheus´
Reue
Körper zu Daten: Befreiung vom
Selbst
von
Jürgen Mick
Wir
verwenden frei die Werkzeuge, die man uns bereitwillig reicht.
Was tun/sind wir wirklich im Strom der Daten? Wir gestalten gesellschaftliche
Interdependenzen wie nie zuvor, aber ohne das Gefühl zu haben operativ
einzugreifen, im Gegenteil mehrheitlich stellt sich das Gefühl
ein, zur Passivität verdammt zu sein. Und natürlich übersehen
wir, dass wir uns selbst dazu verwenden/benutzen/missbrauchen. Wir tun
es im Glauben an unserer Karrieren und in der Hoffnung auf unsere Unversehrtheit.
Vermeintliche Freiheiten genießend, speisen wir funktionale Kommunikationszusammenhänge.
Solange wir uns in den funktionsdifferenzierten Kommunikationssystemen
der Gesellschaft bewegen, scheint sich tatsächlich nichts Individuelles
zu ereignen.
Und
dass Freiheit sich vereinbaren ließe, sich sagen zu lassen, was
man tun solle, schlimmer noch, sich sagen zu lassen, was einem gut täte,
würden wir strikt verneinen. Wir selbst wissen am besten, was uns
gut tut! Freiheit zur Selbstbestimmung lautete schließlich
ein Credo der Modernen. Eine ernstgemeinte Zwischenbilanz seit Einführung
des Imperativs - jenseits von Beschönigung und Vergessen -, würde
unter dem Strich allerdings nicht viel Erfreuliches daran lassen.
Wie wäre es stattdessen mit einer neuen Variante der Freiheit:
der Befreiung vom eigenen "Selbst"? Entbunden von der postparadiesischen
Bürde zur Selbstbeschreibungspflicht! Klingt beim zweiten Hinhören
richtiggehend befreiend. Ist allerdings (noch) unvereinbar mit der Vorstellung
von einem autonomen "Selbst". Doch seit der Digitalisierung
unseres Alltags besteht berechtigte Hoffnung.
Wir haben uns irgendwann zu der Imagination entschlossen, wir wären
Individuen mit freiem Willen, wieso also sollten wir diese anstrengende
Vorstellung nicht irgendwann (erschöpft) beiseitelegen und für
obsolet erklären? Wenn der Stolz erst einmal wieder hergestellt
sein wird, wird sich die Sachlage ins Marginale verlaufen, wie die hysterische
Diskussion um das Urheberrecht, und geradeso, wie das foucaultsche Gesicht
im Sandstrand.
Die Hypothese lautet: Machte eine vollkommene Kongruenz mit der Gesellschaft
ein individuelles "Selbst" nicht überflüssig? Und
steuern wir mittels Digitalisierung bereits genau darauf zu? Das Versprechen
lautet: Allein die vollständige Überführung der Körper
in Daten stellt in der Logik der Systeme die Vollinklusion des Individuums
in gesellschaftliche Funktionssysteme in Aussicht.
Dazu ist am dringlichsten die Befragung unserer Beziehung zu unserm
Fleisch geboten. Es spricht Bände, wenn unsere Kultur der Fortpflanzung
mittlerweile am trefflichsten so, wie von Manfred Schneider zu charakterisieren
ist: "Es ist Fleisch, das Fleisch erzeugt, das aus seiner genealogischen
Verankerung gerissen wird."(1)
Dabei will offenbar mit einer Abkehr von der Selbstgestaltung bislang
niemand etwas zu tun haben. Wie Jens Jesse in der ZEIT diagnostiziert
gilt heute, mehr denn je: "Fortschrittshoffnung träumt
nicht von der Umgestaltung des sozialen Umfelds, sondern von der Erweiterung
individueller Möglichkeiten."(2) Zu erwägen wäre
allerdings die Möglichkeit, ob nicht beide so ineinander greifen,
dass das eine mit dem anderen sich ereignet, und dieses Ineinandergreifen
auf Basis von Daten operiert.
Gegen die Auflösung des Individuums optiert man mit der vollkommenen
Kontrolle über die Selbstgestaltung, die bis in die bits
und bytes unserer Neuronen hineingreifen soll. Die letzte Bastion
des Fleisches scheint erobert. Mit der Digitalisierung steht ein Instrumentarium
bereit, das uns erlaubt tatsächlich Leben zu gestalten; lebende
Organismen zu manipulieren. Nein größer, das Leben an sich,
ist für uns manipulierbar geworden. Optimisten sehen darin die
Vollendung der Individualisierung in Form einer sukzessiven "Singularisierung"(3)
. Christoph Kucklick prophezeit in seinem Buch Die granulare Gesellschaft
die Überführung des Individuums in ein Singularium durch die
Möglichkeit zur Beschreibung des einzelnen via Datensätze.
Wie er glaubt, befinden wir uns auf einem hoffnungsvollen Weg, wenn
wir uns in Form von bits und bytes in naher Zukunft umfassend
beschreiben können. Seine Hoffnung ist, es könne somit eine
Wiedergewinnung des Individuums durch die Offensichtlichkeit seiner
Einzigartigkeit anstehen. In einer digitalen Deskription unseres Selbst
sähe er die Option zu einem neu erstarkenden Selbst-Verständnis.
Wenn es denn hülfe sich als Singularität anzuerkennen, dann
müsste man allerdings hinnehmen, dass man damit "den Status
von Monstren" reklamierte, "vom Schlage eines Typhon"(4)
, wie Sloterdijk darlegt. Individuum zu sein, setzt eine Spezies voraus,
in deren Genealogie man seinen Platz findet. Ob es dem Selbstfindungsprozess
da nicht kontraproduktiv entgegensteht, wenn wir "
eine
neue Auflösung" erleben? Viel eher sehen wir ganz richtig:
"Diese neue Auflösung (im Sinne präziserer Daten) erzeugt
eine neue Welt."(3)
Wenn wir davon ausgehen, dass eine Welt immer eine Weltbeschreibung
ist, müssen wir nüchtern betrachtet konstatieren, handelt
es sich wieder nur um eine neue Methode der Beschreibung. Diese Beschreibung
stellen auch wieder wir, respektive unsere gesellschaftlichen Agenten
an. Darin zu berücksichtigen wäre die Frage, welche
Daten (und vor allem welche nicht) ein vollständiges Ich
ergeben? Was unterschlage ich, was übergehe ich? Damit soll nicht
von einer Unzulänglichkeit die Rede sein, es handelt sich vielmehr
um ein unumgängliches Prinzip jeder Beschreibung: Abgrenzung. Jede
Bewerbung auf eine Stellenausschreibung folgt diesem Prinzip. Eine Beschreibung
ist immer eine Grenzziehung aus prinzipieller Sicht. Ohne etwas auszublenden,
würden wir nichts sehen! Wenn wir uns also nicht vollständig
auflösen wollen, müssen wir eine (kontingente) Grenze zur
Umwelt hochhalten. Diese Grenzziehung ist unser Akt der Beschreibung,
ob wir digital oder analog, religiös oder rational, moralisch oder
amoralisch operieren. Deshalb ist sie kontingent, wie alle Beschreibungen
zuvor auch. Wir nähern uns andernfalls sehr rasch naiven Vorstellungen
deterministischer Weltbeschreibungsphantasien. Ebenso wie wir mit keiner
noch so umfassenden Datenerhebung der Welt eine Zukunft bestimmen können,
werden wir niemals mit noch so "granulierter" Datenanalyse
zu einem singulär synthetisierten Ich vorstoßen.
Das
"Kern-Problem"
Wir stoßen stattdessen immer wieder auf das Kern-Problem. Und
die Metaphysik ist im doppelten Sinne die Disziplin mit der "Kern"-Kompetenz.
Ihr obliegt es dem Konglomerat aus Überzeugungen und Wünschen,
das wir für uns darstellen, einen Kern zu unterstellen.(5) Unserer
schleichenden Einsicht der Kontingenz unterstellt zu sein, Paroli zu
bieten, ist deren permanentes Bestreben. Der Metaphysiker duldet keine
Beliebigkeit, sondern nur einen letzten Grund. Wie Richard Rorty es
nennt ein abschließendes Vokabular.
Eine Letztbeschreibung steht einer permanenten Neubeschreibung prinzipiell
entgegen. Und nur, wenn man nicht ohne die ontologische Vorstellung
eines Ich auskommt, gibt es erneuten Grund - zum ungezählten Male
- fixieren zu wollen, was uns als Ich ausmacht. Warum spitzt sich die
Situation heute derart zu, dass wir glauben an uns selbst Hand bzw.
Sensoren anlegen zu müssen? Alles eine Reaktion auf die Tyrannei
der Vollinklusion der Gesellschaft, könnte man vermuten. Ein Erahnen
der einzigen Möglichkeit zur Identitätswahrung jenseits aller
Gesellschaft, könnte dahinterstecken.
In der Selbstmanipulation eröffnet sich die allerletzte Perspektive
einer "Selbst"-Beherrschung. Allein der sich selbst kreierende
Mensch scheint wirklich autonom. Doch nichts ist instabiler als der
Fluss aus Daten. Man ist versucht Heraklit zu bemühen, den man
in diesem Zusammenhang mittlerweile auch invers lesen muss: "DU
steig(s)t nie zweimal in den selben Fluss." Niemand ist für
sich in der Lage die Digitalisierung seiner selbst zu betreiben, noch
sie zu nutzen, um dem eigenen Selbst auf den Grund zu gehen. Die Digitalisierung
scheint sogar ein denkbar ungeeignetes Vehikel auf der Reise zum eigenen
Ich, weil ihr die Grenzenlosigkeit gleichsam immanent ist. Jeder Algorithmus
und jedes Gadget sind von vornherein ein Tentakel am Instrumentarium
eines Massenmediums.
Aus Datenfluss wird da schnell Datenabhängigkeit, und das bedeutet
an die Schläuche der Versorger gekettet zu sein, wie an den Tropf
der Götter. Begegnet uns, was als Verheißung von Individualität
daherkommt, nur wieder als trojanisches Pferd, das im Dienste einer
Vergesellschaftung aller Lebensbereiche ausgesandt? Eine List der Götter,
das stibitzte Feuer einzukassieren? Das Trojanische Pferd ist diesmal
auf dem Prinzip des Netzes gegründet. Einerseits besteht von gesellschaftlicher
Seite der Imperativ zur Vollinklusion, anderseits überwältigen
uns die neuen Beschreibungsformen digitaler Art. Sie betören mit
Funktionen, die auf Datenerhebung basieren, und die ihre Potenz wesentlich
im Transfer entfalten. Zurzeit befindet man sich in guter Gesellschaft,
wenn man die großartigen Möglichkeiten gegen die unbekannten
Gefahren der Datenerhebung erwägt. Es handelt sich ja auch um eine
Tautologie, weil Daten sind neutral. Aber sie sind "flüssig",
sie entstehen gleichsam erst in der Bewegung. "Das Medium ist
die Message" , wie McLuhan klarstellte. Man wird fortan immer
sein, was andere daraus (aus den Daten) machen.
Die Obsession vom Neuen Menschen, der sich selbst optimiert,
sitzt, wie alle anderen zuvor, dem Irrtum auf, es gäbe einen substantiellen
Kern des Egos. Und ein solcher Kern könne/dürfe nicht verloren
gehen, man müsse ihn nur ab und an wieder ausgraben. Weil er verschüttet
wird von den Belagerungen durch die anderen. Erneut irritiert von der
ontologischen Worthülse des Menschseins konzentrieren sich die
Vorstellungen des Neuen Menschen seit dem Mythos vom Freizeit-Schöpfer
Doktor Frankenstein auch - und immer hysterischer - auf das physische
System; ein operativ kontrollierter Zellhaufen, der beliebigen Verfahren
unterzogen werden kann. Mittlerweile glauben Wissenschaft und Technik
bei den Grundbausteinen angekommen zu sein und sehen sich in der Lage
wirkungsvoll die Flickschusterei des Ingolstädter Medicus ansehnlich
zu Ende zu bringen. Der Mensch ist im aktuell sich etablierenden Menschenbild
logischerweise das, was die Gene determinieren und die Neuronen vorantreiben;
schlussendlich das, was in Stammzellen kopiert werden kann. Ein neues
Faszinosum, eine neue Beschreibung, wieder ohne Kern und bodenlos. Eigentlich
sollte deutlich werden, dass den Menschen nichts Wesentliches ausmacht.
Wir sollten uns zufrieden geben: Shakespeare hat ihn erfunden! Ansonsten
handelt es sich um ein Konglomerat, das sich je nach Aufwand in biochemische
und digitale Informationseinheiten dechiffrieren ließe oder nach
Belieben in Leib und Seele, res extensa und res
cogitans.
Der Körper will überwunden werden. Das will uns unser Umgang
mit unserem Fleisch unmissverständlich deutlich machen. Er löst
sich auf in die Restinformation, der wir ebenso entbehren, wie wir über
sie vollkommen verfügen können. Dass alle manipulativen Vorläufermodelle
bereits die Eintrittskarten in einen Menschen-Verfügungs-Park waren,
steht außer Zweifel. Das gilt seit wir im Zeichen der Gerste die
Krüge erheben und dem Sieg der Genmanipulation über die Jagdgesellschaft
huldigen. Die Genmanipulierer und Züchter sind lediglich einen
Schritt vorangekommen. Sie kennen jetzt effektive Abkürzungen.
Die Manipulation der Physis ist in den Olymp der Verfügbarkeit,
in die Profiliga der autochthonen Weltbildner aufgestiegen. Und die
Digitalisierung erlaubt das Dabeisein aller, sie stiftet an zur massenkompatiblen
Laienteilnahme an der Verflüssigung unserer Welthaftigkeit.
Sind wir nicht längst ein "weißes, vom Arbeitgeber
beliebig beschriftbares Blatt Papier, geruchlos, gesichtslos -"
, wie Jessen es als das zeitgenössische Fortschrittsideal (sic!)
vermutet. Weniger Ideal als Bürde, darf man kritisch anmerken,
der zu entledigen wir leider nur auf Reflexe vertrauen. Gefangen in
unserem Glauben Omnipotenz für die Ausschöpfung alles dessen
zu halten, was machbar ist, tut auch der Neue Mensch nur, was
ihm ermöglicht.
In Verschmelzung mit dem Imperativ der Selbstbeschreibung der Modernen,
greift er hemmungslos auf sich selbst zu und Neu-Beschreibung läuft
auf die Manipulation der Eckdaten biologischer Komponenten hinaus. Euphemistisch
unter dem Begriff "Selbst-Optimierung" subsummiert,
betreibt er auf der Suche nach sich selbst, die Aufhebung dessen, was
ihn ausmacht. Der Mensch ist eben Mensch, allein indem er über
Leben und Tod verfügt, das nicht in seine Welt passt.
Möglicherweise hat er nicht damit gerechnet, dass ihm auch seine
"Selbst-Auslöschung" nicht verwehrt bleiben würde.
(Im Olymp darf bereits gekichert werden.) Dabei sollte streng genommen
Omnipotenz immer die Option zur Verweigerung miteinschließen.
So wird der Mensch tun, was er tun kann, bis er schlussendlich aufgehen
wird in der Datensuppe, aus der er einst aufstieg, das Feuer entgegenzunehmen.
Prometheus wurden die Ketten schon einmal gelockert. Er hat sich bereits
reumütig bereit erklärt, sein Diebesgut zurückzubringen.
21.01.15