Das
Individuum ist müde
Ängste einer selbstlosen Gesellschaft
von Jürgen Mick
I.
Reflexion: Unter Druck von innen und außen
Ist es den beredten Krisenszenarien geschuldet, die uns täglich
verfolgen, dass der Freiheit jeglicher Reiz abhanden gekommen ist? In
einer Weltgegend und einer Zeit, die auf nichts mehr gründet, als
der Idee der Freiheit? Foucault spricht bereits vom "Zeitalter
der genügsamen Regierung"(1,51) . So genügsam, ist
man geneigt zu glauben, dass sie vergessen hat, ein Teil des politischen
Systems zu sein. Die Politik wirkt ratlos, die Regierungen getrieben.
Das Managen ist ihre Beschäftigung, die Krise ihr Antrieb.
Oder sind wir der vielen Freiheit müde, nachdem wir beinahe siebzig
Jahre in Frieden leben? Schüchtert die Furcht vor Unbekanntem,
der Möglichkeit von Unregelmäßigkeiten mittlerweile
die Gemüter so weit ein, dass man nur noch darum streitet, wie
man versorgt sein will? Hat man es sich schon so gut eingerichtet, dass
man nur noch Wohlstandsgewährleitung verhandelt. Die Krise als
Beschäftigungsstrategie? Wagnis ade, wir pfeifen auf Autonomie!
Der Umgang mit Freiheit bedeutet nicht zuletzt, den Blick auf den anderen,
das Gegenüber, zu richten. Legen wir tatsächlich bedenkenlos
ein so hoch erspieltes Gut wie Eigenverantwortung in die Waagschale,
wenn es darum geht, unsere Selbst-Enttäuschungen zu verhindern?
Spielen wir lieber mit dem Fegefeuer der Disziplinargesellschaft? Ist
das Individuum müde geworden über seinen Autonomieanforderungen
(2) , dass es sich sehnt nach Bevormundung?
Fragen,
Fragen, Fragen: Der Reflexionsdruck ist hoch, manchen zu hoch, sollte
man nicht einen Ausweg in Aussicht haben. Als da wären: "den
Weg in die "freie Liebe" und den Untergang, den Weg in die
Gosse, den Weg ins Verbrechen und den Weg in den Erfolg, den man haben
kann, wenn man das Spiel durchschaut und mitspielt." (4, 127f)
Die Inszenierung von Individualität also, die sich absetzt und
Andersheit für sich proklamiert, ist zu einer Anforderung geworden,
die der moderne Mensch keineswegs in der Lage ist, so einfach von sich
zu weisen. Der gesellschaftliche Druck von außen ist reziprok
gekoppelt mit dem psychischen Druck von innen.
Als
Damoklesschwert gilt dem Individuum die Verweigerung der Inszenierung
seines Selbst. Erfolg ließe sich dann gesellschaftlich kaum mehr
einstreichen und anderseits bliebe man - was vielleicht schwerer wiegt
-in der Reflexion gefangen. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Exit,
die Erlösung, wie sie in religiöser Transzendenz noch gegeben
war. So kann man sich zwar bemühen, das Nachdenken abzustellen
(mit welchen Hilfsmittelchen auch immer), oder man wird den Schmerz
ständig spüren, verursacht durch eine unhintergehbare Reflexion.
Die Bodenlosigkeit der Reflexion, dass man anders sein sollte, als die
anderen, das Besondere in sich aber nicht ausmacht, weil dort nichts
vermag Widerhalt zu geben, so - sagt Luhmann - bleibt nur die Kopie!
Wir müssen uns bemühen in der Kopie, als die bessere zu gerieren.
Der zwangsläufig einzige von der Gesellschaft goutierte Weg aus
der Reflexionsqual ist gesellschaftlicher Erfolg.
"An die Stelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich
vorgeschriebenen Rollen ist die Erwartung der kreativen Selbstverwirklichung
getreten." (5,172) Nur obliegt auch die Bestätigung des
Gelingens dieser Anforderung zur Selbstverwirklichung den gesellschaftlichen
Institutionen. Da funktioniert "Seelenheil" wiederum nur über
äußere (gesellschaftliche) Bestätigung. Während
die Gesellschaft eigentlich nicht in der Lage ist Transzendenz herzustellen.
Und operativ über keinerlei Zugang zu Innerlichkeit verfügt
machen wir uns glauben, dass Anerkennung, die sich aus Funktionssystemen
generiert, etwas mit unserer Verwirklichung zu tun hätte. Unser
selbst, unsere Unperson, bleibt uns jedoch als unmarkierte Rückseite
der Adresse, die wir darstellen, erhalten.
Eigentlich liegt es in der Natur der Idee vom Individuum, dass es jenseits
der Masse in Erscheinung tritt, dass es aus der Population heraustritt.
Die Wertschätzung der Unverwechselbarkeit individueller Eigenschaften
sollte betonen, dass es neben den Rollen für die Gesellschaft eine
Instanz gibt, die für diese nicht erreichbar ist. Sie bezweckte
ein Recht auf "individuelles" Glück und Unglück,
abseits des Kollektivs.(7,1003) Und letztlich ist der Gang in Freiheit,
erst durch die funktionsdifferenzierte Gesellschaft als freie Meinung
kommunizierbar und ermöglicht worden. Vorher war sie kein Thema.
Das Individuum ist ein Produkt der Gesellschaft und nicht die Gesellschaft
ein Produkt von Individuuen. Ein Korrektiv möchte man sagen.
Die
daraus resutlierende Alleinstellung des Individuums, das sich außerhalb
der Gesellschaft platziert sieht, weil es bemerkt, dass es jeglicher
"naturgegebener" Positionen entledigt ist, hat dann den Reflexionsdruck
zu schultern. Der darauffolgende streckenweise frustrierende Langstreckenlauf
der Selbstfindung kulminiert schließlich in der Sorge um sich
selbst: "biologisch, psychotechnisch und religioïd."
(7,1004)
"Entscheidend ist, dass der Bezugspunkt der Reflexion von Identität
auf Differenz umgestellt werden muss; dass Reflexion also Systeme voraussetzt,
die sich selbst als Differenz von System und Umwelt beobachten und beschreiben
können; und dass die soziostrukturelle und semantische Individualisierung
dieser Selbstbeschreibung die Form eines Anspruchs gibt." (4.129)
Der Anspruch ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Der Umgang damit
ist die Herausforderung. Einen Anspruch, dem wir allerdings mehr oder
weniger unreflektiert huldigen, indem wir dem Druck zur Inklusion folgend
unser Selbst immer öfter auf der Gesellschaftsseite suchen: Wir
nennen es dann euphemistisch Selbstoptimierung. Ausdruck findet
das Vorgehen mittlerweile durch die Selbstbeobachtung mittels externer
(technischer) Systeme und zunehmend auch funktionaler Systeme, die an
den Beobachtungen parasitieren. Der entstandene Reflexionsdruck durch
die Umstellung auf Differenzbeobachtungen baut sich auf diese Weise
dann durch die Hilfestellungen zur Selbstbeobachtung ab. Auch bekannt
geworden unter dem Begriff Self-Tracking.
Allein wollen wir es einfach nicht schultern. So schreibt mittlerweile
die Gesellschaft, bereitwillig Hilfestellung leistend, an unserer Selbstbeschreibung
mit. Hierbei erzeugen sich neue Identitäten allein aus dem Abgleich
von Datenerhebungen und den daraus erzeugten Differenzen. Auf diesen
Krücken lädt das Individuum nun die ganze die Last der Kreativität.
Das Individuum ist müde, wie es scheint. Aber es darf nicht einschlafen!
II. Selbstoptimierung
Zugegebener Maßen werden heute die Schwierigkeit und damit die
Gefahren der Entmündigung dem Individuum selbst in die Schuhe geschoben.
Das wiederum gebietet dem Individuum wachsam zu bleiben: "Selbstverfügung
und Optimierung sind, (
), das Hochamt der Individualisierung -
" (6,74) Das Reflexionsvermögen ist ein von der
Gesellschaft formulierter Anspruch an den Einzelnen und andererseits
wird es - soll sie funktionieren - zur Pflicht der Selbstbeschreibung
als Individuum. Dazu greifen uns allzeit unliebsame Ratgeber unter die
Arme. Sie sind instruiert durch die Gesellschaft. Ihnen lechzt danach,
an uns zu parasitieren, sprich zu verdienen, während wir ihnen
reichlich egal sind. Sie sind nicht aus Fleisch und Blut, auch wenn
sie uns so begegnen. Wir haben es nur mit den Agenten der Funktionssysteme
der Gesellschaft zu tun. Die uns paradoxer Weise am Leben erhalten wollen,
obgleich wir ihnen nicht am Herzen liegen. Jene Agenten sind hinter
ihrer menschlichen Erscheinung, die Androiden, vor denen wir uns immer
gefürchtet haben, jene gefühlskalten, rational kalkulierenden
Roboter der zahllosen Sience-Fiction-Erzählungen. Das wird nur
dann nicht weiter beunruhigen, wenn wir jederzeit die Unterscheidung
Person/Selbst parat halten. Sonst stellt sich schnell das Gefühl
ein, der Betrogene zu sein.
So sollten wir tunlichst denen misstrauen, die alles versuchen die Differenz
unbemerkt zu lassen. Sprich verdächtig ist der, der authentisch
zu sein vorgibt. Wir müssen uns eben hüten den Mephistopheles-Pakt
zu unterzeichnen. Das sollte seit Goethe auch nicht länger ein
Problem darstellen:
"Goethe hat die drohende Zerstörung von Kultur, Zivilisation
und Humanität in einer durchkommerzialisierten Gesellschaft bereits
lange vor Marx mit verblüffender Klarheit vorhergesehen. Ihm graute
vor Verhältnissen, in denen sich alles rechnen muss. Eine gesellschaftliche
Ordnung, die die wertvollsten Eigenschaften des Menschen - Liebesfähigkeit,
Sehnsucht nach menschlichen Bindungen, nach Harmonie und Schönheit
- verkümmern lässt und seine schlechtesten - Habsucht, Egoismus,
soziale Ignoranz - gnadenlos kultiviert, musste Goethe als Affront gegen
den Kerngedanken seiner Literatur empfinden. Der Homo oeconomicus, der
Mensch als von niederen Instinkten angetriebener roboterhafter Nutzenoptimierer,
ist die fundamentalste Infragestellung des klassischen Menschenbildes,
die sich denken lässt. (
) Wo nur noch ökonomische Effizienz
und erzielbare Rendite entscheiden, hat der Mensch seine Souveränität
aufgegeben. Er ist jetzt da, wohin Mephisto ihn haben wollte, er frisst
Staub und lässt sich einreden, er hätte ein Festmahl vor sich."
(9)
Was dem Feingeist Goethe aufstieß, ist jene Differenz, die sich
seinerzeit bemerkbar machte. Eine Differenz, die das Individuum in Person
und Selbst zu zerlegen beabsichtigte. Eine gesellschaftliche
Kraft, die durchaus Abwehrhaltungen rechtfertigte. Was Goethe nämlich
nicht ahnen konnte, ist dass wir zu unterscheiden lernen werden. Der
Sachverhalt ist nicht länger tragisch, wenn man lernte, dass beispielsweise
der homo oeconomicus - wie übrigens auch alle anderen homos
(was aus politisch-strategischen Überlegungen in Fraktionskontroversen
gerne unterschlagen wird) - nichts mit der anderen Seite zu tun haben
muss. Die Diversität liegt in unserer Person "ge-eint"
vor. Sie getrennt zu halten ist die schizophrene Kunst der Entparadoxierung.
Ein "gesellschaftliches ICH", wenn man so will. Es ist die
Einheit der Zweiheit, die wir durch die Welt tragen, als Adressen der
Gesellschaft. Dabei die andere Seite des Selbst zu verleugnen, machte
Androiden aus uns. Was Goethe sich eben noch nicht auszumalen vermochte,
war, dass wir es als Individuen auch noch in der Hand haben werden,
beides in einem zu sein. Dass das Auftreten des rationalen Kalkulierens
nicht heißen muss, dass Liebesfähigkeit, Sehnsucht und Harmonie
auf die Verlustseite einer Homo-Bilanz abzuschreiben sind. Das gälte
allenfalls, für den, der das Individuum als unteilbar verteidigen
wollte.
Das Dividuum zählte daher zu den treffenderen Beschreibungen unserer
Verfasstheit. Zwei "Seelen" wohnen in unserer Brust, beinahe
ohne Schwierigkeit. Nur waren sie uns noch nie so drastisch vor Augen
geführt. Die "Exkommunikation des Menschen aus der Gesellschaft",
wie Luhmann es nennt, birgt die Risiken einer Zerreisprobe, wenn man
nicht willens ist, von der Forderung nach Einheit als Einzigheit abzulassen.
In diesem Sachverhalt kontraproduktiv ist die Maxime der Selbstoptimierung.
Sie zielt wiederum darauf ab, uns vorzugaukeln, dass wir Eins sind.
Sie funktioniert nämlich auf der Verdeckung der Differenz. Sie
ist ein Mechanismus der Ausbeutung, der ein letztes Mal die Idee vom
Individuum für sich versucht zu instrumentalisieren. Indem der
Imperativ zur Selbstoptimierung unser Selbst für die Sache der
Person zu mobilisieren drängt, dringt er tief in unsere Selbstbeschreibung
ein, die eigentlich dafür verantwortlich zeichnet, auf der Exklusionsseite
ein stimmiges Bild von uns selbst zu generieren.
So verstärkt und beschleunigt wird der Sog zur Zerreisprobe, dem
wir so nicht länger gewachsen sind. Das Individuum gibt sich als
erschöpft zu erkennen, weil es infiziert ist nicht loszulassen
vom Gedanken der Einheit des ICH. Unter dem Begriff Authentizität
wird dieses Bestreben verklausuliert zur Heldenmetaphorik westlicher
Verhaltensmodi. Wer aber nicht in die extraordinäre Lebenssituation
gelangt und wahrlich einen "Heldenstatus" (als Künstler,
Politiker, Sportler o.ä.) erlangt, der wird sich redlich mühen,
aber dem wird mit gesteigerter Mühe zur Kenntnis gebracht, wenn
das Individuum nicht beide Seiten zulässt, muss es brechen. Erst
wenn es zwei Seiten zulässt und diese operational wie funktional
getrennt hält, ist es in die Lage versetzt mit seiner wahren Freiheit
zu handeln. Es ist die Freiheit, die ihm freistellt, zu entscheiden,
wie es die Gewichtungen auf die beiden Seiten, Gesellschaft und "Selbst"
verteilt. Die Paradoxie des "gesellschaftlichen ICH" bietet
die Möglichkeit immer wieder die Seiten zu wechseln und bei Schieflage,
die eine wie die andere anzumahnen. Ist man beispielsweise gesellschaftlich
nicht erfolgreich, kann man den Akzent auf seine "Freizeit"
legen.
Dennoch ist nicht zu leugnen, dass es so etwas, wie einen gesellschaftlichen
Imperativ zur Inklusion gibt. Die Inklusionsseite dominiert die Exklusionsseite.
Die Wende, die sich durch den Willen zur Selbstoptimierung einleitet,
verkehrt das Einpassen in gesellschaftliche Rollen in eine Auslese verwertbaren
Lebens. Hilfsbereit zur Seite stehen neuerdings die Optionen zum Enhancement
(Mind-Doping) und führen die Spirale in eine neue Runde. Die Entwicklung
hin zum gedopten Individuum verschärft schließlich die Selektion
ein weiteres Mal. Chancengleichheit verkommt unter diesen Vorzeichen
zum beruhigenden Euphemismus, der gerade in seiner Utopie als Camouflage
funktioniert. Mit dem ewigen Streben nach dem Unerreichbaren, werden
im Namen der Gleichstellung, weitere Hürden und Restriktionen eingebracht,
dem Besten nahe zu kommen. An der Wegkreuzung, an der man zwischen den
Pfaden der Optimierung einerseits und dem Guten andererseits wählen
konnte, sind wir da schon lange achtlos vorübergegangen.
Selbstbeschreibung ist zu einem schweren Geschäft geworden, auf
dessen Belastungen einen bislang in der Erziehung niemand explizit vorbereitet.
Der Weg in die Optimierung ist einfach naheliegend. Aber er kommt etwa
so sinnvoll daher, wie die wohlmeinende Aufforderung an einen Prüfling
unter Prüfungsstress: "Jetzt sei doch mal locker!" Dabei
sollten wir Autonomie vor allem gegen uns selbst wahren. In einer Selbstknechtung
durch den Willen zur Selbstoptimierung kommt nur die "Gouvernmentalität"
zu sich selbst.
III. Das "Individuum" ist ein hohes Gut
"Für
das folgende ist vor allem wichtig, dass man die Autopoiesis sozialer
Systeme und die Autopoiesis psychischer Systeme sorgfältig unterscheidet."
(3,355) Luhmann
Die
Unterscheidung sozialer Systeme von psychischen Systemen und man könnte
ergänzen von physischen Systemen, und die durch ihre jeweilige
operative Geschlossenheit erzeugte, rigorose Getrenntheit, muss voraus
geschickt sein, wenn man die Errungenschaft und die Unüberwindbarkeit
von Individualität operationalsieren will. Diese Unterscheidung
ist konstituierenden Charakters. Und sie geht davon aus, dass es sich
wirklich so verhält und nicht nur theoretischer Sprachgebrauch
evoziert. Ausgehend von einer operativen Geschlossenheit ist eine unmittelbare
Verbindung ausgeschlossen. Nur eine mittelbarer, über Medien, ist
denkbar. "Über Differenz und Limitation nötigt das
Bewusstsein sich selbst, seiner Umwelt Rechnung zu tragen. Es muß
an seinen Reibungsflächen mit der Umwelt Informationen erzeugen,
die ihm nächste Vorstellungen, wenn nicht aufzwingen, so doch nahe
legen. Seine Geschlossenheit erzwingt Offenheit." (3,358) Wir
setzen also voraus, Individuum bedeutet unbedingte Getrenntheit zu anderen
Individuen, wie auch zu einer Umwelt. Erlebbar wird dies in diversen
Bewusstseinen (psychischen Systemen), die ihre jeweiligen Körper
überall mithin nehmen müssen, als autonome Organismen (physischen
Systemen) und als soziale Wesen in der Gesellschaft (soziale Systeme).
Ein Individuum ist mithin permanent damit beschäftigt so zu tun,
als ob diese Unterscheide nicht existierten. Es spricht sozusagen mit
einer Stimme.
Das Individuum ist ein hohes Gut. Und dafür gibt es womöglich
nicht nur gesellschaftliche Gründe, sondern auch evolutionäre
Überlegungen, die weit über die gesellschaftliche Verfasstheit
hinausgehen, messen ihr Bedeutung zu. So meint zum Beispiel der Evolutions-
und Zellbiologe Wolfgang Wieser, dass die "Erfindung der Individualität"
mithin ein "Naturprojekt" ist, das von hohem Wert
ist, für die Überlebenschancen von Populationen: "Bei
der Auseinandersetzung mit der Umwelt präsentieren Organismen und
Populationen gleichsam unterschiedliche Lösungsvorschläge,
..." Individualität ist beispielweise die Bedingung für
die "sexuelle Selektion". Schon Darwin unterschied
sie von der "natürlichen Selektion": "Individuen
zeigen auf die Gestalt von Reizen auftretenden Forderungen spezifische
phänotypische Reaktionen. Diese werden als Anpassung bezeichnet,
wenn sich nachweisen lässt, dass sie die Überlebenswahrscheinlichkeit
der Individuen erhöhen. Populationen reagieren auf die Forderungen
der Umwelt, indem die jeweils am besten angepassten genetischen Varianten
die größte Zahl von Nachkommen produzieren. Als Überlebensstrategie
setzen Lebewesen also den Ansprüchen der Umwelt einerseits Flexibilität
des phänotypischen Repertoirs von Individuen und andererseits die
Variabilität der genotypischen Zusammensetzung von Populationen
entgegen." (10,428f)
Doch wie stellt sich die Aufgabe für das psychische System dar,
ein Individuum zu sein? Das heißt als soziales Individuum auftreten
zu müssen. Individualität erreicht über die Reflexion
des Bewusstseins einen Status im psychischen System. Das Individuum
muss sich seiner Individualität nämlich erst selbst bewusst
werden. Vorstellungen von Dualismen wie Körper/Geist, Materie/Leben,
Leib/Seele rühren daher. Man beobachtet, dass der "Mensch"
als autonomer Organismus agiert und dennoch mehr ist oder anders ist
als beispielsweise ein Tier. Der "Mensch" ist also in erster
Linie immer ein gesellschaftliches, d.h. kommunikatives Konstrukt. Angestiftet
von der materiellen Erscheinung, sollte dann ein Wesen des Menschen
dessen Natur erklären. Wenn man Beobachtung aber von Wesen auf
Operationsfunktionen umstellt, kann man Systeme identifizieren, die
autopoietisch operieren. Und die auf Umwelten angewiesen sind. Die Unterscheidung
System und Umwelt hat zur Folge, dass der komplizierte Begriff "Mensch"
in ihr nicht vorkommt. Aus dem einfachen Grund da der Mensch in seiner
Heterogenität keine Systemeigenschaften aufweist.
Für
Systeme gilt, sie werden so reagieren, dass sich ihr Überleben
für sie selbst als wahrscheinlich darstellt. "Umwelt",
so Wieser, "gleicht dabei einer stummen Instanz, die Forderungen
stellt, aber nicht mit sich handeln lässt." (10,428f)
Umwelt ist immer indifferent gegenüber fremden (nicht in ihnen
enthaltenen) Systemen. Hier sei angemerkt, dass Umwelt nichts ist, das
das Individuen räumlich umschließt. Umwelt ist als alles
zu bezeichnen, was nicht operativ ins System eingebunden ist. Das sind
auch andere Systeme. Das "Behälterdasein" ist lediglich
ein spezifisches Wahrnehmungsproblem; welches sich in der Vorsilbe "Um-"
von Umwelt begrifflich wiederspiegelt. Individualität beobachtet
man also bei autonomen Organismen (biologischen Systemen) und bei gesellschaftlichen
Adressen, an die sich andere Individuen in ihrer Umwelt wenden können.
"Und hier stellt sich die Frage, ob und unter welchen gesellschaftlichen
Bedingungen ihm (dem Individuum) das Insistieren auf Individualität
als Selbstbeschreibung erlaubt oder gar aufgenötigt wird."
(3,361)
Der Unterschied, der uns in der Moderne ereilt, ist der, dass die Grenzlinie
keine mehr ist, die sich eindeutig ästhetisch benennen ließe.
Sondern sie nach Innen verlegt wird, also innerhalb des Individuums
- unsichtbar gemacht -verläuft, als der inhalierte Abstrich von
Privatheit und Öffentlichkeit. "Die Hypothese wäre,
dass die Begriffsgeschichte einen Prozeß widerspiegelt, indem
den Individuen nach ermöglicht wird, ihre Individualität ihrer
Selbstbeschreibung zu Grunde zu legen. Der Heroismus wäre dann
ein erster Versuch gewesen -
. Dem folgt der Geniekult,
"
(3,361) Die Grenzziehung vormals durch Anwesenheit und räumliche
Gegebenheiten eingeführt worden und dadurch relativ einfach verhandelbar:
Über Raum und Zeit. Mit den entsprechenden Räumen konnte man
die Rollen wechseln, die Unterscheidung temporal gegeneinander abschotten.
Gerade die Helden unserer Tage können davon berichten, wie schwierig
eben dies geworden ist. Öffentliches Leben von privatem auseinander
zu halten. Weil in jeder Handlung beides mitgeführt wird, wird
die Beobachtung durch die Medien zu einem Dilemma. Die Kinder müssen
zur Schule, die Frau will geliebt werden, die Krankheit muss behandelt
werden. Mit Verflüssigung der räumlichen und zeitlichen Grenzen
ist man sehr dadurch angestrengt zu entscheiden, wann man welche Position
bezieht. Lässt man die Beziehungen spielen oder verschweigt man
lieber, wer man ist?
In dieses Dilemma ist nicht nur die Prominenz verstrickt, sondern es
schlägt auf jedermann heute durch. Zudem versäumen die Nutznießer
nicht die schwer haltbare Grenze weiter porös zu gestalten. Liegt
es doch in deren Interesse möglichst viel der verwertbaren Substanz
des Individuums zu erhalten. So ist zwischen öffentlich und privat
keine Grenze mehr auszumachen. Die elektronischen Medien (Telefon bis
Tablet) erstrecken sich in unsere "Privaträume", sie
erreichen uns zu jeder Tages und Nachtzeit. Die Arbeitsplätze sind
auch unsere Kindertagesstätten und unsere Wohnzimmer Teil unserer
Arbeitswelten. Die Arbeitszeiten sind flexibel und die Geldgeber legen
Wert auf ganzen Einsatz!
Die Arbeitswelt geriert sich jetzt als neue Lebenswelt. Wo soll hier
das Private hin? Die Grenze ist verlagert ins Intime. Lange her die
Zeit der gesellschaftlichen Distinktionsmittel, mit denen explizit auf
die getrennten Sphären hingewiesen wurde. Arbeitskleidung und Uniformen
dienen der deutlichen Markierung dieser Differenz. Mittlerweile egalisiert,
sind sie eingeebnet und zur Dekoration und Folklore verklärt, in
einer Welt, da wir permanent beides sind. Gesellschaftliche Wesen, die
unbedingt ihre andere Seite hegen.
Wir sollten das Individuum dadurch stärken, das wir die Einübung
"schizophrener" Praktiken trainieren. Nicht die Einübung
gesellschaftlicher Normen kann länger das Ziel darstellen. (Was
natürlich auch die Festlegung verbindlicher Normen vor Neudefinitionen
stellt. Auch hier muss von Gesellschaft differenziert werden. Kann Moral
noch aus der Gesellschaft entwickelt werden?) Und noch weniger die scheinheilige
Farce der Selbstoptimierung.
Eine Wahl zur Norm zu machen heißt, die Grenze zur "Zuchtwahl"
überschreiten. Diese Kenntnis sollte uns immer davon abhalten,
den "Menschen nach dem Bild (...) eigene(...)[r] Vorstellung
gestalten" (8,36f) zu wollen. Das hieße eine "Unvorhersagbarkeit"
zu eliminieren, die wir als Evolution beschreiben, wie sie im physischen
operiert. Werner Stegmeier hebt deutlich hervor, dass es kein geringerer
als Nietzsche war, der dagegen den "Mut" ins Feld führte.
Es ist der Mut des Individuums, der uns auch in Krisenzeiten nie verlassen
sollte, denn "gerade aus Sorge um die Zukunft sucht man Halt
an moralischen Normen." (8,35) Und die Kehrseite einer jeden
Versicherung ist die Versklavung. Hannah Arendt warnte davor, sich zu
weigern Individuum zu sein. Aus einer solchen Verweigerung leitet sie
nämlich die Banalität des Bösen her(11), die ohne nicht-denkende
Menschen nicht hätte praktiziert werden können. Wir sollten
das deshalb beherzigen, weil das extrem Böse es stets zuerst darauf
abgesehen hat Individuen überflüssig zu machen. Hier bekommt
das Ausmaß der drohenden Gefahr ein Gesicht. Dort, wo jenseits
von Logik und Leidenschaften, von Obsessionen und Hass Verbrechen begangen
werden, dort begegnet man dem Bösen in seiner reinen Form. Und
dazu braucht es unabdingbar der Handlanger.
Das Individuum wurde "eingesetzt", oder "erfunden",
wie Wieser sagt, und ins Feld geführt, dort Einhalt zu gebieten,
zu blockieren, wo die Mechanismen von Populationen drohen auf unheilvolle
Bahn zu geraten. Beispielsweise zielt die Bürokratisierung von
Handlungen darauf ab, die Mündigkeit von Einzelnen zu unterlaufen.
Ins Extrem getrieben zeitigt dies die bekannten Folgen. Das schockierend
Neue am Holocaust war dessen bürokratische Operationsweise. Nicht
umsonst findet sich die radikalste Form in der Gehorsamsstruktur des
Militärs wieder. Die Instrumentalisierung des Einzelnen kommt nicht
aus ohne die Auslöschung des Individuums.
Eine Ethik der Selbst-Bildung/-Erziehung müsste vor allem lehren,
dass Individuen dem Willen zur Selbstgestaltung nach herrschenden Vorstellungen
widerstehen. Wir kennen zwar keine Vorbilder/Helden mehr, dafür
leben wir unter einem permanenten Horizont des Optimums. Es droht nicht
weniger, als die eigenmächtige Auslöschung des Individuums,
unter dem Vorwand der Selbstoptimierung. Selbst-Selektion durch Enhancement
führt dann in eine faschistoid gestrickte, selbstlose Gesellschaft,
in einem neuen wörtlichen Sinne: Eine Gesellschaft ohne ihren Widerpart
der Selbste.
27.09.14