Wir
in Europa sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Deshalb liegt
es in unserer Natur, sich nur schwer auf etwas zu einigen. Die Vielfalt
ist schließlich unsere Basis. Die Migration unsere Leidenschaft.
Seitdem die Römer damit begannen, die "Barbaren" nicht
länger auf Abstand zu halten, sondern sie - im Rahmen ihrer aus
der Not geborenen "Integrationspolitik" - als brauchbare
Söldner zu schätzen, ist kaum mehr Stillstand eingekehrt
auf dem stürmisch umkämpften Kontinent. Das auf Römischem
Recht konstituierte und nach innen homogenisierte Imperium öffnete
einst - zugegebenermaßen mehr widerwillig als willig - seine
kostspielig errichteten, hermetischen Grenzzäune. Angesichts
einer zahlenmäßig nicht länger zu ignorierenden Schar
an Fremden auf der anderen Seite befand man die Annäherung an
die sogenannten "Barbaren" als die bestmögliche Zukunftsoption
und legte damit den Grundstein für Europa als soziokulturelle
Einheit, - wie wir es heute noch verstehen wollen.
Der bunte Haufen umschloss im Laufe der nächsten Tausend Jahre
neben der römisch-christlichen Kultur die unterschiedlichsten
Ethnien und Kulturen. Der Chronist Isidor Pacensis aus dem 8. Jahrhundert
wurde als derjenige identifiziert, der den Begriff "Europäer"
als erster benutzt haben soll. Und zwar hielt er ihn für nötig,
um die bunt zusammengewürfelten Heerestruppe eines gewissen Karl
Martell in der Schlacht bei Tour um 732 n.Chr. beim trefflichsten
Namen zu nennen.
Allein es setzte sich der Begriff "Europäer" nicht
sogleich durch, sondern für die meisten der Kontinentalbewohner
war der Begriff "Christentum" langfristig gesehen plausibler
und griffiger in der Anwendung, ließ sich auf diese Weise von
der ungeeigneten halbinselförmigen Landmasse abstrahieren und
zudem ließ es sich personell eindeutig zuschreiben und nötigenfalls
inquisitorisch nachweisen. Das christliche Abendland, konnte sich
so wenigstens transzendent eindeutig gegen das islamische Morgenland
abgrenzen. Abgrenzung war also wieder hergestellt, wenn auch mit deutlich
großzügigerem Selbstverständnis.
Der Vorgang aber zeigt, ein Selbstverständnis bedarf von Zeit
zu Zeit einer Erneuerung. Gefolgt von blutigen Jahrhunderten gegenseitiger
Verständigungsbemühungen, sollte es ein gutes halbes Jahrtausend
dauern, bis man einsah, dass es praktikabler wäre, sich von dem
Branding Christentum zu distanzieren und sich der gesinnungsfreien
Begrifflichkeit der Europäer wieder zu besinnen. Weil der Bunte
Haufen ist doch noch immer ein solcher geblieben. Er mauserte sich
ganz ordentlich irgendwann zu einem friedliebenden und streitbaren
Haufen mit weltoffenem Horizont. Hier gelten die Menschenrechte.
Die Verbindlichkeit der Menschenrechtscharta unterläuft jegliche
Art der Abgrenzung, sondern muss dank ihr, die Menschenrechte auch
allen zugestehen. Als man die Unterscheidung Christ zugunsten der
Menschheit fallen lässt, wird beispielsweise auch der Moslem
zu einem Menschen mit lediglich fremdem Glauben und ist nicht länger
ein Ungläubiger. Wir müssen sehen, dass seit der Zeit, als
die Römer an ihre Grenzen gestoßen sind, alle Grenzen und
Unterscheidungen immer zugunsten Europas fallen. Eine dringend anstehende
nächst größere Expansionsstufe lautet neuerdings Globalität.
Immer dann, wenn etwas vollendet ist und sich Neues anbahnt, steigen
die Fluktuationen im Innern des vermeintlich Vollendeten. Und ehe
die Fluktuationen eines offenen Systems zu groß werden und nichts
als Chaos droht, war Europa immer so clever, eine neue Organisationsleistung
in auf die Bahn zu bringen. Das heißt, dass es nichts weniger,
als völlig neue Ordnungsstrukturen hervorbrachte. So formten
wir dereinst aus desolaten Reichsstrukturen und Fürstentümern
die Nationalstaaten. An solchen Frevel hätte davor niemand gedacht.
Europa ist nicht nur geografisch nicht abzuschotten. Die Metapher
von der "Insel der Seeligen" ist allein deshalb nicht allzu
wörtlich zu nehmen. Aber auch deshalb nicht, weil es zu viele
Menschenleben kostete, bis dass sich eine Streitkultur wie der Parlamentarismus
etablieren konnte. Vielleicht wäre es hilfreich Europa historisch
als großangelegtes, soziokulturelles Integrationsunternehmen
zu begreifen. Das sich jeweils nach jeder Schockwelle in eine größere
Dimension schaukelt. Und dabei jedes Mal von neuem plausibel machen
muss, dass Grenzen immer wieder nur temporäre Muster darstellen,
die niemals für immer gelten können. Dazu gehört es
zu akzeptieren, dass immer, wenn wir gerade im Begriff sind, verstehen
zu wollen, was wir sind, die Entwicklung uns zu Neuem drängt.
Weil wir eben ganz gute Erfahrungen damit gemacht haben. Weil uns
die Vielfalt retrospektiv niemals geschadet hat. Weil es vielleicht
evolutionskulturellem Paradigma entspricht, den soziokulturellen Genpool
zu erweitern. Das Zusammenraufen haben wir geübt und letztendlich
probiert das traditionelle Köpfe-Einschlagen durch rhetorischen
Meinungsaustausch zu ersetzen. Das kommt dem "Seelig-Sein"
doch schon ziemlich nah.
In diesem Sinne könnte man Heraklits Merksatz, "der Streit
ist der Vater aller Dinge" gelten lassen, wenn man Streitkultur
als den Kern demokratischer Lebensformen begreift, in der es immer
auch darum geht, die Vielfalt zu pflegen und jeder Monokultur den
Kampf anzusagen. Auch wenn sich abzeichnet, dass die Probleme der
Gegenwart der Demokratie kaum noch Zeit zur Erörterung lassen
und allenfalls ein Reagieren provozieren, so dürfen wir uns jederzeit
darauf besinnen, dass wir in Europa in Übung sind, zu wissen,
dass Positionen aufgegeben und Meinungen geändert werden und
Grenzen fallen dürfen.
Eines darf der Bunte Haufen Europa nie vergessen, dass es ihm nur
gut geht, weil er sich stets in der Veränderung beweist, nicht
Trotz ihrer. Nur das "Herzstück der Demokratie" - wie
es Martin Seel formuliert - steht nicht zur Disposition: "Die
Bereitschaft die eigenen Positionen (...) zur Disposition zu stellen
...".
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