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15.12.15

Touchscreen & Intimrasur

21.11.15

Das Große Grinsen geht

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Wie die Erfindung des Touchscreen die Intimrasur beförderte: Die Oberfläche ist die Botschaft
von Jürgen Mick

Steve Jobs hat uns verkündet, dass wir nicht geschaffen sind für ein taktiles Dasein. Dass das Unkörperliche nicht erst im Jenseits seine Berechtigung finden wird. Ob ihn davon seine adoleszenten Expeditionen ins Reich indischer Weltbefremdlichkeiten überzeugt haben, sei dahin gestellt. Er hat uns die Welt als Oberfläche anempfohlen. Der rollkragenbewehrte Soziophobiker aus Kalifornien hat Berührungsängste in technoide Unbegreiflichkeit gemünzt; ganz im pekuniären Sinne. Es scheint geradezu eine Affinität digitaler Medien darin zu bestehen, dass sich mit ihnen ohne weiteres Defizite sozialer Kompetenz in massenkompatible Spielzeuge übersetzen lassen. Dass also der Umgang mit anderen Personen substituiert werden kann, indem man über eine Grenzfläche hinweg Sozialität antäuscht, ohne physisch selbst dabei angreifbar zu werden. Mit anderen Worten, man sollte sich Gedanken machen, ob sich die Digitale Revolution nicht jenen psychischen Defiziten andient, von denen man einst die Individuen zu befreien wünschte.

Mit anderen Worten, verstellt eine digital geprägte Reifung die freie, selbstbestimmte Entfaltung des Einzelnen, indem sie ihm vormacht, schon so weit zu sein, wie er es werden sollte? Erfährt nicht stattdessen eine Generation von Duckmäusern und Stubenhockern, dass sie sich ungestraft zu Großmäulern generieren darf und sie ihre zivilisatorischen Defizite in vermeintliche Überlegenheit umdeuten kann? Auch der junge, sozial minderkompetente Zuckerberg hat seine Unfähigkeit an der Universität mit fremden Mädchen face-to-face in Kontakt zu treten, kurzerhand in digitale Algorithmen gegossen und so allen Versagern auf diesem Terrain das Vergnügen antiseptischer Freundschaftsanfragen beschert. Und ganz nebenbei die Möglichkeiten geschaffen, hinter den Masken von Kobolden und Avataren Shitstorms zu entfachen, und dass es nur noch Sekunden dauert bis unreflektierte Meinungen und purer Hass massenhaft Adressaten finden, wofür man die Feiglinge früher einfach auf dem Schulhof hätte in den Schwitzkasten nehmen können.

Hinzu kommt das große Missverständnis in punkto Wissen. Soll man wirklich Verständnis dafür aufbringen, dass ein Gros der Smartphone-Junkies das eigene Denken bereits erfolgreich eingestellt haben? In dieser unserer überkomplexen Zeit, in der sich keiner auch nur die rudimentärsten Dinge merken will, aus dem paradoxen Grunde, weil man sich ja nicht alles merken kann! - Das nannte man früher Selektion. Die Fähigkeit das Wichtige von Unwichtigem zu unterscheiden. Es ist der erste Schritt zum Wissen. Damit oft verwechselt wird die Auslagerung von vermeintlichen Fakten in gehirnfremde Festplatten. Ein Kunstgriff unserer überkomplexen Zeit, die sich aus Gründen der Überforderung ein Wolkenkuckucksheim bastelt, das unselektiert den Auswurf von Milliarden Gehirnen aufbewahrt. Womit man früher - nicht ohne physisches Risiko - nur sein direktes Umfeld belästigen konnte, das belastet heute mit Fastilliarden an Terrabyte - ganz physisch - die Umwelt. Wenn man sich einst wenigstens sicher sein konnte, dass mit dem Hirntod alles vergessen sein würde, vergiftet uns der digitale Restmüll dauerhaft den Datenorbit. Halbwertszeiten unbekannt. "Die Woge des zugänglichen Wissens türmt sich ebenso hoch auf wie die Woge des Geschwätzes", mit Michel Serres gesprochen.

Aller Oberflächlichkeit Anfang ist der Touchscreen. Und die Oberfläche ist die Botschaft. Was wir berühren, begreifen wir. Der etymologische Hintergrund dieser Aussage kommt nicht von ungefähr. Heute bestätigen Neurowissenschaftler, dass es sich exakt so verhält. In den ersten Jahren unseres Lebens hängt das Begreifen vor allem mit dem Zugreifen und Tasten unserer Hände zusammen. Körperkontakte, räumliche Vorstellung, handwerkliches Geschick, das Erspüren von Beschaffenheit sind rudimentäre Kontaktaufnahmen mit der Außenwelt, die für die vollumfängliche Ausbildung unseres Präfrontallappens nötig sind. Und die bestehen heute Großteils nur noch aus einer glatten Glasfläche? Dürftig kompensiert in Erlebnis-Parcours für Therapiepatienten und in Erlebniskindergärten. Stattdessen fordert man die Einführung des iPads in Kindergärten. Da lernt man dann, auf die Schnauze fallen, muss nicht mehr wehtun. Auf Niederlagen folgt einfach der RESET.

Das Pseudo-Wissen aus dem Wischen verweigert uns einen beträchtlichen Teil an Erfahrungen, es ist kontaminiert mit globalem Nonsense und vor allem entkoppelt es das Verstehen vom Haptischen. Bildung ist auch die Ausbildung unseres Denkapparates und bedeutet dort die maximale Verknüpfung einer Billion Gehirnzellen. Doch für eine ganze Generation beschränkt sich alles Taktile auf die unspezifische Glätte einer Gorillaglasscheibe.
Als wollten wir die Welt nur noch auf Distanz aushalten, ohne uns die Finger schmutzig zu machen. Wir fahren auf und ab, auf einer widerstandslosen, nichtssagenden Grenzfläche eines elektromagnetischen Wunschknochens. Wir bilden uns ein Kälte und Wärme zu fühlen, aber auch Weichheit bei aller unzerbrechlichen Härte, wir fühlen die unendliche Ruhe und von Zeit zu Zeit leichtes Vibrieren bei Aufmerksamkeitsanfragen. Wir rühren, schieben und ziehen und bleiben doch oben auf, außen vor, obgleich wir meinen einzutauchen.

Was das alles mit Intimrasur zu tun hat? Asimov soll einmal gesagt haben, wir werden mit Sicherheit nicht von Maschinen beherrscht werden, weil wir vorher so werden wie die Maschinen. Unsere Erfahrungen ergreifen Besitz von unserem Habitus. Unsere Reinheit ahmt die der Maschinen nach. Hat das schwerfällige Hämmern auf Tasten noch Widerstand akzeptiert und jeder Druckknopf sie noch eingefordert, bleibt abgelöst von abweisender Glätte alle Griffigkeit gleichsam unbeantwortet. Die Haltlosigkeit will nicht berühren, anrühren oder aufrühren, sie zielt ab auf die gleiche Gültigkeit aller noch so verschiedenen Ereignisse. Eingeschlossen der eigenen Existenz, die sich in letzter Konsequenz selbst nur als Code verstehen darf.

Auf dem perfekten Nährboden "Konsumgesellschaft" platziert, die sich laut Zygmunt Baumann gerade durch "das Verwischen und letztlich die Beseitigung" der Unterscheidung von Konsumenten und Konsumgut definiert, bewirkte der Touchscreen die Kernschmelze von Ware und Konsument, von Subjekt und Objekt. Verwischt die Grenzen zwischen dem Wahrnehmen und dem Benutzen, dem Aneignen und Verwerfen, dem Erzeugen und Verbrauchen. Sind wir die Nachfrage oder das Angebot? Wisch, das Nächste!

Unter Marktgesichtspunkten erzwingt die Steigerung der Kompatibilität von potentiellen Geschlechtspartnern seit jeher Assimilation in Kommunikationsverhalten und Körpergestaltung. Alter Ego mutiert traditionell in Paarungszeiten zum massenkompatiblen Bestseller. Die Homogenisierung aller Oberflächen zum Touchscreen macht uns alles zur selben Erfahrung, was wir im besten Fall auf den Geschlechtsverkehr ungestört übertragen können. So vermeidet man in heiklen Momenten Irritationen, die den Paarungserfolg gefährden. Haptische Konformität steigert die Kompatibilität. Wie der Computer allgemein dazu befähigt, alle Tätigkeiten mit denselben Körperbewegungen zu bewerkstelligen, so ist der Touchscreen dabei autosuggestiv das strikteste Körperideal aller Zeiten zu generieren. Man könnte es antiseptisch bezeichnen. Von der Vorfreude, die sich in Schambehaarung andeutet, ist da bereits eine ganze Generation entwöhnt.

By the way: Unter dem Stichwort "Digitale Demenz" wird derweil diskutiert, welche Wirkungen der massive, frühkindliche Gebrauch digitaler Medien zeitigen wird. Man geht davon aus, dass Gehirne von in früher Kindheit massenmedial geprägten Erwachsenen, mit dem Risiko leben müssen, dass der als Alzheimer bekannte Verfallsprozess des Gehirns bei diesen ungleich rascher zu bemerkbaren Resultaten führen wird.

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