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Form und Funktion der Stadt
Die Stadt in ihrer Funktion für die Gesellschaft

von Jürgen Mick

Vom Wesen zur Funktion
Im Zuge der Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien hat man begonnen in Sao Paulo, der größten Agglomeration des Südamerikanische
n Kontinents (aktuell 21 Mio. Einwohner) in einigen der über siebenhundert Favelas der Drogenmafia ihre Vorherrschaft zu entziehen. Die Stadtregierung versucht mit sogenannter Friedenspolizei ihr Gewaltmonopol sukzessive wiederherzustellen, um der Welt zum Anlass der Spiele eine vermeintlich sichere Metropole zu präsentieren. Auch wenn sich Einwohner positiv darüber aussprechen, lässt der Zeitpunkt keinen Zweifel, dass dies vor allem eine Maßnahme in Erwartung zahlreicher Touristen geschieht. Die dauerhaft vor Ort lebenden Menschen nehmen es mit stoischer Gelassenheit, in überfüllten, unhygienischen Slums zu leben und von Drogenkartellen bedroht, erpresst, oder wie einige sagen beschützt zu werden. Es ist für die sie die Tagesordnung in einem Land, das offiziell eine Demokratische Republik ist und dessen Staatsflagge das Motto "ordem e progresso" ziert. Die Frage ist, weshalb tun Menschen sich das an? Weshalb zieht es sie förmlich in die unüberschaubaren Agglomerationen, um inmitten von Gewalt und Schmutz ihr Dasein zu fristen? In Städten sind heute mehr als die Hälfte der sieben Milliarden Menschen Weltbevölkerung registriert. Unser Planet zeigt sich mittlerweile gewandet in ein Gespinst aus Agglomerationen und Metropolen. Dass seit mehr als fünftausend Jahren Städte existieren drängt zu der Vermutung, dass sie für die gesellschaftliche Entwicklung eine nicht zu vernachlässigende Funktion haben.
Das belegt wohl auch die Tatsache, dass man seit "Erfindung" der Stadt nicht mehr von ihr abgekommen ist und sie sich gerade heute als "Erfolgsmodell" präsentiert, wie es nur wenige Errungenschaften der kulturellen Evolution gegeben hat. Sie ist in einer Reihe mit Errungenschaften wie Sprache, Geld, Wissenschaft und Recht zu verorten. Jede Zeit und Hochkultur seit der neolithischen Revolution hat einen Begriff der Stadt. Diese Stabilität erstaunt, angesichts des vor allem offensichtlichen Wandels der Städte in Gestalt und Bedeutung. Unübersehbar ist wird sie als Stadt permanent von der Gesellschaft problematisiert, und es bleibt unbestritten: Städte sind nicht ohne Gesellschaft denkbar.

Funktion ohne Telos
Norbert Elias stößt uns darauf, dass ontologische Schemata den Zugriff auf Prozesse verweigern. "Die Neigung von einzelnen Urhebern her zu denken, die Denkgewohnheit, nach den individuellen Schöpfern gesellschaftlicher Transformationen zu fragen, oder allenfalls in den gesellschaftlichen nur die juristischen Institutionen zu sehen und die Vorbilder zu suchen, nach denen sie von Diesem oder Jenem geschaffen wurden, alles das machte diese Prozesse und Institutionen so unangreifbar für das nachdenkende Bewusstsein, wie es ehemals für die scholastischen Denker die Naturprozesse waren." (Elias 1997, S.46) Erst wenn wir davon absehen unsere Beschreibungen mit Hilfe von Sein und Nichtsein durchzuführen, wenn wir zwischen den Dingen die Medien im Sinne von Fritz Heider, der den Begriff 1926 geprägt hat (Heider 2005), aufspüren, werden wir Kausalbeziehungen als Spezialfälle entlarven und Funktion nicht länger mit Zweck verwechseln. "Kausalität, so glaubte man, vermittelt absolute theoretische Gewissheit. Sie ist das physische Gegenbild der ideellen reinen Wahrheit." (Günther 2000, S.129) Die traditionelle, ontologische Kausalauffassung, die entweder teleologische Erklärungen durch Wirkungen oder mechanische Erklärungen durch Ursachen generiert, gilt es zu erweitern durch eine funktionale Methode. Die klassische Zweck/Mittelbeziehung basiert im Wesentlichen auf retrospektiver Interpretation. Die Gesellschaft wird keinesfalls von einem großen Geist bewegt. Ausschließlich aus der Retrospektive ist so etwas wie Absicht diagnostizierbar und der Gesellschaft dann als Historie aufzubürden. Es gibt kein Telos, auf welches gesellschaftliche Entwicklung abzielt, aber andererseits hat alles, was gesellschaftlich Relevanz erlangt, eine Funktion für die Gesellschaft. Mit Luhmann sollten wir als Hintergrund für die Frage nach Funktion festhalten: "Als funktional gilt eine Leistung, sofern sie der Erhaltung einer komplex strukturierten Einheit, eines Systems dient." (Luhmann 1970, S.10)

Herkömmliche Analysen zerlegen die Stadt als Struktur immer soweit, bis sie in der Regel in den Differenzen von Gesellschaft und Architektur, Leben und Verwaltung, Realem und Utopie stranden. Das liegt daran, dass sie in der Regel auf das Wesen der Stadt abzielen. Das passiert immer dann, wenn wir mit ontologischen Denkmodellen operieren, die die Stadt als eine substantielle Entität beschreiben. Gleichzeitig unterstellen wir dann, wenn wir nach ihrer Funktion fragen ein Telos. In einem solchen Kontext können Antworten auf die Frage nach der Funktion der Stadt nur wie Aufzählungen politischer, produktiver und konsumptiver Absichten formuliert werden. Wir sollten uns an die Vorgabe halten, dass die Gesellschaft kein Ziel kennt, sondern evolutionistischen Beschreibungsmodellen folgt. Wenn wir dem nachgeben, und die ontologische Herangehensweise unseres Denkens überwinden und auf ein "Dazwischen" um-justieren, werden gesellschaftliche Probleme (Fuchs 2010, S56ff) erst fruchtbar.

Emergenz des Öffentlichen: Physische Interaktion
Alle historisch gewagten Definitionen von Stadt wurden von den Ereignissen überrollt. Fruchtbarer als jede Definition, wäre daher die Frage, welche Funktion hat eine Stadt für die Gesellschaft ? Inwieweit dient, das, was wir als Stadt bezeichnen der Aufrechterhaltung des komplexen Kommunikationssystems Gesellschaft? Die Rahmenbedingungen für die Emergenz von Urbanität setzen wohl ein rapides Anwachsen der Bevölkerung und die damit einhergehende Steigerung der Unübersichtlichkeit, insbesondere von Kommunikation voraus. Wie an der einsetzenden Arbeitsteilung abzulesen, differenzieren sich spezifische Kommunikationen aus, die mit der Ausdifferenzierung einer neuen Siedlungsweise in Peripherie und Zentrum im Altertum einhergehen. "Verglichen mit segmentären Gesellschaften nimmt die Zahl und die Komplexität der Außenkontakte, die durch Bildung eines Zentrums (aber auch: einer Oberschicht) ermöglicht werden, immens zu." (Luhmann 1997, S.664) Kommunikation unter Fremden und Variationsreichtum in Bezug auf den Sinn von Kommunikation können in der Dichte historischer Ansiedlungen ihre ganze Kontingenz entfalten. Man kann sich geradezu eine Explosion von Sinnhorizonten vorstellen, wenn man an die Vielfalt von neuartigen Berufen und Aufgaben denkt, die eine urbane Gesellschaft produziert. Solange die Kommunikation vorrangig auf Interaktion, d.h. auf Anwesenheit basiert, und andere Kommunikationsmittel, wie Schrift und Buchdruck nicht etabliert sind, stellt die topographische Organisation der Stadt die Bedingungen zur Möglichkeit der Steigerung von Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Kommunikation dar. Das gilt sowohl in Bezug auf die Teilnehmer, als auch auf die kommunizierten Themen. Häufigkeit, wie auch Zufälligkeit, wurden durch den gebauten Raum erhöht. Einwohnern, die die Stammeskultur hinter sich gelassen haben, bieten sich Qualitäten, die einen kulturevolutionären Schritt bedeuteten. Die Stadt bietet Kommunikationsmöglichkeit an einem neutralen, d.h. hierarchiefreien Ort, an dem das zufällige Kommunizieren unter Fremden geradezu provoziert wird. Stehen in den Dörfern der Raum der Dorfmitte, sowie alle Bereiche zwischen den Behausungen, vollständig unter der Kontrolle der Einwohner, weicht die (oftmals als "sozial" bezeichnete) Kontrolle in der Stadt dem "Voyeurismus", im Sinne des Wortes. Was wir beobachten ist die Emergenz von so genanntem Öffentlichem Raum. Die Attraktion geriert sich auf den Straßen und Plätzen. Seit Diogenes von Sinope (Laertius 1998, S.317) muss es jedem klar geworden sein, dass sich etwas Grundsätzliches verändert hatte zwischen den Hütten und Palästen, was vordringlich das Verhalten der Einwohner prägt. Als Diogenes auf dem Marktplatz Athens onaniert, legt er auf einprägsame Weise dar: Wer sich hier - im Öffentlichen Raum - bewegt, darf von allen gesehen werden und muss sich von allen beobachten lassen! Die Möglichkeiten und Konsequenzen des neuartigen Raums sind durch diese (heute würde man wohl sagen, Kunst-) Aktion auf einen Nenner gebracht. Man könnte es auch als den Geburtsakt der Differenz Öffentlich/Privat bezeichnen. Erstmals ist es möglich an einem "freien" Ort, ohne Einladung und Aufforderung, ungehindert Aufmerksamkeit zu akkumulieren. Vor Personen, die man nie zuvor gesehen hatte, konnte man Dinge preisgeben, ungeachtet der eigenen Position. Die Kommunikation in der Straße und auf den Plätzen der Antike wurde zur "Währung" von Aufmerksamkeit. Sie verhalf zu Karrieren und zu Macht. Sie konnte Verdammung und Ausschluss bedeuten. Die Menschen wurden unter der Hand zu Personen. Sie lernten ihre Worte und Handlungen zu wägen sobald sie vor ihre Privat-Häuser traten. Die Möglichkeit der Veröffentlichung sei es der eigenen Person oder der eigenen Meinung erteilte allein der städtische Raum. (Nicht umsonst orientiert sich die Geschichtsschreibung seither an den Namen von Städten.) Städte werden zum Anziehungspunkt und Ort der Kumulation von Macht, Geld und Wissenschaft. Die Auszeichnung der Stadt besteht darin, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit zur Generierung von Aufmerksamkeit bietet. Ein nicht besetzter Raum ist die beste Voraussetzung, weil er ein vorgegebenes Attraktionsgefälle von vornherein ausschließt. Ein solcher Ort bietet Raum für gleichberechtigte Personen und wird auf diese Weise zur Bühne eines machtfreien, offenen Diskurses wie auch politischer Auseinandersetzungen. Das Besondere: Auch wer nichts sagt, kommuniziert, wenn er anwesend ist! Derjenige, der nichts sagt, gibt zumindest zu verstehen, dass er nicht zu sagen hat. Anwesenheit bindet den Vollzugszwang zu kommunizieren. Mit anderen Worten Anwesenheit verpflichtet zur Teilnahme an der Gesellschaft. Die einzige Entzugsmöglichkeit ist Abwesenheit. (Luhmann 1997)
Um sich dem Zwang zur Kommunikation zu entziehen, muss man also Rückzugsmöglichkeiten schaffen. Eine andere Seite: Das Private. Aus Gründen der Interaktion, des Zusammenspiels von Körper und Kommunikation, stellt für die abendländische Gesellschaft die Stadt in ihrem Zivilisationsprozess insofern einen Kristallisationspunkt dar. Der Körper der Beteiligten spielt dabei die zentrale Rolle. Zu beobachten auch an der gesteigerten Disziplinierung mit Ausdifferenzierung der Sensibilität im Laufe der sozio-kulturellen Evolution. (Foucault 1977) Wenn Anwesenheit Kommunikation bedeutet, entwickelt sich ein reflexives Gespür für den visuellen Code. Es kommt zu jenem Doppelprozess von Wahrnehmung und Kommunikation. (Luhmann 1984, S.563) In der Schlüsselfunktion der Interaktion zeigt sich die Stadt als den körperlichen Anforderungen dienend und gleichzeitig die gesellschaftliche Funktion des Aufmerksamkeitsgewinns befördernd. In ihrer ersten Artikulation kann man die Stadt in der Doppelrolle eines körperlich-gesellschaftlichen Mediums beobachten. Die Stadt erlaubt über ihre materielle Manifestation und ihre generalisierte Form (öffentlich/privater Raum) die Gesellschaft mit ihrer Umwelt, den körperlich Anwesenden, zu koppeln. Mit dieser Form erscheint gleichsam ein "Link" auf der Bühne kultureller Evolution, der das System der Gesellschaft mit seiner Umwelt - den physischen Systemen - strukturell koppelt. Die funktionale Betrachtung der Stadt legt die Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Mensch als physisch-psychologischem Organismus offen. Der Stadt "entspringt" sozusagen das Öffentliche, während sie das Körperliche in sich "verwahrt". In auf diese Weise vollzogener symbolischer Generalisierung des Mediums Aufmerksamkeit in der öffentlichen Kommunikation wird die ansonsten nicht beobachtbare Differenz öffentlich/privat erstmals beobachtbar.

Zusammenfassend müssen wir festhalten, dass der Kern der Stadt nicht in einer substanziellen Entität zu finden ist. Die augenscheinliche Stabilität der Organisationsform Stadt parasitiert an der Relation ihrer Bewohner, oder besser: an der Stabilität sozialer Systeme. In diesem Sinne folgt sie in ihrer Form den Veränderungen der Kommunikation. Immer im "Blick", welche Erwartungen an die physische Präsenz (als die Umwelt der Gesellschaft) sozialer Adressen gestellt werden. Die Funktionalität der Stadt wird dann überboten sein, sobald sich für das Problem der Kommunikation unter Anwesenden eine bessere Lösung andeutet, oder das Problem als solches keines mehr darstellt.

Stadt als Form und Medium
"Stadt" ist sowohl als Medium, als auch als Form zu begreifen. Einerseits ist sie als Medium die Offenheit einer Vielzahl möglicher Verbindungen (Luhmann 1995, S.168). Sie stellt als lose Kopplung die Bedingung für die Möglichkeit zur Selektion, ist also Bedingung für die Tatsache, dass niemand wissen kann, was sich als nächstes ereignen und verändern wird. Wohingegen die Stadt als Form eine feste Kopplung der im Medium bereitgestellten Elemente darstellt; eine spezielle Selektion sowohl zeitlich als auch sachlich. Gerade die Option zur Stadtgestaltung (politisch, wie architektonisch) legt also einen Begriff des Mediums als fruchtbar nahe. Die systemtheoretische Unterscheidung Medium/Form stellt einige Deutungsmöglichkeiten bereit. (1) Die Unterscheidung besagt, dass sich die Form manipulieren lässt und nicht schon alles festgeschrieben steht (Lose/feste Kopplung). (2) Die (historische) Konditionierung der Form erfolgt durch die (vorausgehende) Form. (3) Die Unterscheidung verweist auf einen Verweisungsüberschuss und die Redundanz, die in der losen Kopplung ihrer Elemente liegt. Die Form ist dabei nur die aktualisierte Potentialität. (4) Die Unterscheidung kann analog der Unterscheidung Information/Träger genutzt werden. Wie am Beispiel der Sprache gut darzulegen: Sprache besteht sowohl aus phonetisch-linguistischen (sozusagen körperlichen) Bestandteilen, andererseits finden wir sie als Sinnstruktur vor. (5) Es gibt zwischen Form und Medium einen temporalen Aspekt: "…das Medium ist stabiler als die Form…. Formen können also in einem Medium wie immer flüchtig oder längerfristig gebildet werden, ohne, dass das Medium dadurch verbraucht würde oder mit Auflösung der Form verschwände." (Luhmann 1997, S.171) (6) Symbolisch generalisierte Medien weisen symbiotische Züge auf. Sie "vermitteln" zwischen abstraktem, unbeobachtbarem Medium und einer körperlichen Bedingtheit sozialer Akteure. Der Form kommt dabei eine sogenannte Ableitfunktion zu. Sie folgt ganz praktischen, materiellen Anforderungen. Der Aspekt der Symbiose ist für die Stadt von besonderer Bedeutung, da sie zweifellos als materiales Phänomen nicht ausschließlich kommunikativ reduzierbar ist und somit nicht vollständig in der Gesellschaft abbildbar wäre. Andererseits erlaubt die Unterscheidung Information/Träger, ein Kommunikationsmedium durchaus in materieller Form zu beobachten. Beispielhaft sei hier noch einmal der Verweis angeführt auf die Analogie zur Sprache, die als Text und Worte erscheint, und dem Geld in Form von Münzen und Scheinen. Weil grundsätzlich gilt: Das Medium an sich können wir nie beobachten, es bleibt abstrakt und "erscheint" ausschließlich als Form. Nur als diese Form (konkrete Stadt) ist das Medium (Stadt als Urbanität) dann beobachtbar. Bleibt man bei dem Sprachgebrauch Urbanität ließe sich allgemein für die Stadt formulieren, eine konkret erlebbare Stadt ist die zu bestimmter Gestalt "geronnene" Form des Mediums "Urbanität", aber eben immer nur eine von unendlich vielen Möglichen. Als theoretische Ergänzung ist darauf hinzuweisen, dass auch ein Medium eine Form sein kann. So wie das Medium der Sprache in der Sinnstruktur Form annimmt, sind ihre phonetisch-linguistischen Elemente auch eine Form im Medium der Schwingungen. Das Medium Stadt (Urbanität) - so die Hypothese - ist eine Form im Kommunikationsmedium der Aufmerksamkeit. Aus den obigen Überlegungen, die die Stadt als "Öffentlichkeitsgenerator", welcher Aufmerksamkeit innerhalb der Gesellschaft in spezifischer Weise, nämlich als Öffentlichkeit ausdifferenziert, könnte man ihr eine Stellung unter den Kommunikationsmedien zumuten. Mit den genannten systemtheoretischen Prämissen lässt sich die Stadt also als eine Form im Medium der Aufmerksamkeit darstellen.

Stadt als Form der Aufmerksamkeit
So aber auch die Stadt nur eine Form ist, die von anderen Formen abgelöst werden kann, soll nicht dem Niedergang der Städte das Wort geredet werden, sondern im Gegenteil genauer akzentuiert werden, worin die originäre und wie bereits angedeutet lange Zeit konkurrenzlose Funktion der Stadt zu finden ist. Was können wir also gewinnbringend schließen aus einer Betrachtung der Stadt als Medium der Aufmerksamkeit? Die seltene Ressource, die uns befähigt zur Kommunikation, zu interaktivem Verhalten wie auch ganz allgemein zur Erzeugung sinnhafter Zusammenhängen ist Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist für den Einzelnen eine begrenzte Ressource. Auf die Gesamtheit aller Bewusstseinssysteme bezogen könnte man sie sich aber auch als unbegrenzt vorhanden vorstellen. Aufmerksamkeit wird so zu einem unverbrauchbaren Medium, über welches sich Kommunikation generieren lässt. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit brachte eine Reihe symbolisch generalisierter Medien hervor. Unter anderem den hier hervor gehobenen Öffentlichen Raum. In der Stadt der Antike wird über Aufmerksamkeit das politische System ebenso generiert, wie die Wissenschaft und das Rechtssystem. Mit den technischen Entwicklungen haben im Bereich der Kommunikation die sogenannten Massenmedien ihre Karrieren begonnen. Der Schrift folgten Buchdruck, Telegrafie und als bislang letztes das Internet. Veränderungen der Form sind eben, wie wir gesehen haben, unausweichlich in einer an Komplexität zunehmenden Umwelt, wenn das System (Gesellschaft) evoluiert. Augenscheinlich kommt es dadurch zu Verschiebungen in den Zuständigkeiten. Funktionen werden durch andere Medien übernommen. Die Stadt tritt sozusagen in ein "Konkurrenzverhältnis" zu Buchdruck, Zeitung, Television und Internet. Das "Kerngeschäft" der Aufmerksamkeitserregung im Bereich der Interaktion unter Anwesenden allerdings - wie man es sehr gut zu Beginn ihrer "Einführung" beobachten kann - liegt bei der Stadt. Zwar bedeutete für sie das Auftreten weiterer Kommunikationsmedien eine Art der Spezialisierung, doch verbleiben ihr andererseits auf diese Weise konkrete Funktionen. Eine zunehmende Verstädterung des Planeten scheint die Tendenz zu belegen. Eine global vollständig durchgesetzte Funktionsdifferenzierung wird vielmehr weiterhin voraussetzen dürfen, dass alle an der Gesellschaft teilnehmenden urbanisiert sein werden. Was an der spezifischen Besonderheit des Kommunikationsmediums Stadt liegt: Ihre Sonderstellung für die Gesellschaft an der Schnittstelle zwischen physischen Systemen und Kommunikationssystemen. Die Stadt stärkt sich in der Position als "Interface". Die Unterscheidung Medium/Form erlaubt die Beschreibung dieses Wandels plastisch, weil sie, ohne sich dafür oder dagegen Position beziehen zu müssen, darlegt, wie die Stadt als Form des Mediums Aufmerksamkeit zwangsläufig in Bewegung geraten musste. Und dabei selbst als Medium den Wandel der Form überlebte. "Wenn die Form verschwindet (der Fußabdruck im Sand, die Welle im Wasser, das Gesicht der Sphinx), bleibt das Medium für neue Formungen erhalten (damit setzt es jede Form "selektiv", also kontingent), es sei denn die Formen (Elemente), aus denen es sich selbst zusammen setzt, werden in dem Medium, die seine Elemente tragen, "amorphisiert". Dann verschwinden Form und Medium für jeden Beobachter." (Fuchs 1994, S.23)

Die Ausführungen der Verschiebungen würden den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, dennoch sollte diese unwahrscheinliche Entwicklung als Erfolgsgeschichte befragt werden. Wir sollten nachvollziehen welchen Verschiebungen in unserem Aufmerksamkeitsmanagement welche Formveränderungen im Städtebau folgten, und welche Veränderungen unseres Kommunikationsverhaltens den jeweiligen Veränderungen der Form Stadt voraus gingen.

Symptomatisch sei hier die aktuelle "Kollision" mit dem Internet kurz anskizziert. Spürbare Verschiebungen in unserem, wie auch dem Konsumverhalten der anderen, verunsichern aktuell und finden in der Tagespresse als Untergangsvermutung Niederschlag: Die Verdrängung des Konsumenten aus der Innenstadt auf Grund des verstärkten Aufkommen des Internet-Handels lässt unsere Städte aussterben, so die in der Presse nachzulesende These. (Siehe Franka Nagel: Am Niedergang der Städte ist nur einer schuld, Süddeutsche Zeitung 16.12.11) Es löst offenbar Erschrecken aus, wenn Shopping nicht länger ausschließlich in physischer Präsenz erledigt wird, da der Preiskrieg zunehmend Online und nicht länger in den Schaufenstern der City gewonnen wird. Man fürchtet das Verschwinden der letzten öffentlichen Tätigkeit, wie bereits von Rem Koolhaas zu Ende des 20. Jahrhunderts charakterisiert. (Koolhaas 2001) aus unseren Städten. (Was es bedeutet, dass gerade Koolhaas in diesen Tagen den Auftrag erhalten hat in Venedig für die Benetton-Holding das historische Warenkontor und bis vor kurzem als Postgebäude genutzte Fondaco die Tedeschi unmittelbar neben der Rialto-Brücke in einen Megastore für die Kaufhauskette Rinascente zu verwandeln, darf an dieser Stelle für Deutungen offen bleiben.) Wir registrieren hier die Auswirkungen einer erneuten Zuspitzung gesamt gesellschaftlicher Verhaltensverschiebungen. "Eine immer größere Zahl unserer sozialen Beziehungen nimmt einen auf merkwürdige Weise körperlosen, "entleiblichten" Charakter an." (Metzinger 2010, S.329) Man sieht wieder einmal, dass nichts bleibt, wie es ist, und in jedem Fall muss und wird die Stadt darauf reagieren. Der oftmals prognostizierte Niedergang der Stadt war oft nur das Wahrnehmen dessen, was wir als einen Scheibchenweisen Wandel des öffentlichen Lebens registrieren können. Fraglos zog das für die Stadt nicht selten einen rigorosen Umbau nach sich, besiegelte jedoch bislang nie ihr Ende. Das hat den einen Grund, dass sie trotz Schwinden aller öffentlichen Interaktion, weiterhin physische Systeme beherbergt. Wenden wir uns an das soziale System der Medizin, der Erziehung oder auch der Wohlfahrt (Ist nicht der Landstreicher eine längst überkommene und vollständig vom Stadtstreicher bzw. Obdachlosen ersetzte Existenzform.), dann finden wir uns in den meisten Fällen in einer Stadt wieder. Aber auch in punkto Liebe und Politik verschafft man sich in urbanen Räumen größere Erfolgschancen, als in nicht urbanen Regionen. Letzteres belegen die Proteste des arabischen Frühlings (Siehe Tahrir to Zuccotti, The Power of Place. The New York Times, October 24, 2011) ebenso, wie der Tumult um die Tieferlegung des Hauptbahnhofes in Stuttgart, oder die von New York in zahlreiche Metropolen ausufernde Occupy-Bewegung. In Sachen Liebe schlägt sich die Reflexion des Dilemmas in einschlägigen TV-Shows nieder. (In "Big Brother"-Formaten und allen anderen Kuppel- und Casting-Shows wird der Mangel an Urbanität kolportiert, in dem man Provinzialität (lokal wie auch qualitativ) mit Massenmedien "kurzschließt", um über das Ziel hinaus schießend, schlaglichtartig multimedial kompatible Personen zu generieren.) Gerade bei Systemen der Gesellschaft, die den Körper betreffen wird deutlich, wie die Anwesenheit in der Stadt zunehmend zur Eintrittskarte für die Teilnahme an der Gesellschaft wird. Naturgemäß geraten dabei die Bevölkerungsgruppen in den Focus, deren "entleiblichte" Teilnahmemöglichkeiten (aktuell immer noch) eingeschränkt bleiben. Die sich daraus andeutende gesellschaftliche Benachteiligung sollte ins Auge stechen und den Verantwortlichen Anlass sein Teilnahmegerechtigkeit als Motiv für Stadtgestaltung gelten zu lassen. Veränderungen der Stadt stellen aus systemtheoretischer Sicht nicht ein Qualitätsmerkmal an sich dar, sondern können vor allem als ein Verweis auf die Formänderung eines Mediums gelesen werden. Praktischerweise erklärt sich die Veränderung der Form dann über ihre Funktion für die Gesellschaft und nicht über die Abweichung von einem, wie auch immer gearteten, Ideal.

10.10.2012

Siehe auch:

 

ISBN 9-783743-167469

384 Seiten, Paperback, € 27,00

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Heider, Fritz: Ding und Medium. Berlin 2005, Original in: Symposion. Berlin 1926.
 
Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd.2, Stichting Amsterdam 1997
 
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1977
 
Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit, München Wien 1998
 
Fuchs/Göbel (Hrsg.): Der Mensch - das Medium der Gesellschaft, 1994
 
Günther, Gotthard: Die amerikanische Apokalypse, München Wien 2000
 
Koolhaas, Rem: Mutations, Bordeaux 2001
 
Laertius, Diogenes: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg 1998
Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 1. Opladen 1970
 
Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt am Main 1984
 
Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997
Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Berlin 2010
 

Nagel, Franka: Am Niedergang der Städte ist nur einer schuld, Süddeutsche Zeitung 16.12.11

 
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