Form
und Funktion der Stadt
Die Stadt in ihrer Funktion für die Gesellschaft
von
Jürgen Mick
Vom
Wesen zur Funktion
Im Zuge der Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft
2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien hat man begonnen
in Sao Paulo, der größten Agglomeration des Südamerikanischen
Kontinents (aktuell 21 Mio. Einwohner) in einigen der über siebenhundert
Favelas der Drogenmafia ihre Vorherrschaft zu entziehen. Die Stadtregierung
versucht mit sogenannter Friedenspolizei ihr Gewaltmonopol sukzessive
wiederherzustellen, um der Welt zum Anlass der Spiele eine vermeintlich
sichere Metropole zu präsentieren. Auch wenn sich Einwohner positiv
darüber aussprechen, lässt der Zeitpunkt keinen Zweifel, dass
dies vor allem eine Maßnahme in Erwartung zahlreicher Touristen
geschieht. Die dauerhaft vor Ort lebenden Menschen nehmen es mit stoischer
Gelassenheit, in überfüllten, unhygienischen Slums zu leben
und von Drogenkartellen bedroht, erpresst, oder wie einige sagen beschützt
zu werden. Es ist für die sie die Tagesordnung in einem Land, das
offiziell eine Demokratische Republik ist und dessen Staatsflagge das
Motto "ordem e progresso" ziert. Die Frage ist, weshalb tun
Menschen sich das an? Weshalb zieht es sie förmlich in die unüberschaubaren
Agglomerationen, um inmitten von Gewalt und Schmutz ihr Dasein zu fristen?
In Städten sind heute mehr als die Hälfte der sieben Milliarden
Menschen Weltbevölkerung registriert. Unser Planet zeigt sich mittlerweile
gewandet in ein Gespinst aus Agglomerationen und Metropolen. Dass seit
mehr als fünftausend Jahren Städte existieren drängt
zu der Vermutung, dass sie für die gesellschaftliche Entwicklung
eine nicht zu vernachlässigende Funktion haben.
Das belegt wohl auch die Tatsache, dass man seit "Erfindung"
der Stadt nicht mehr von ihr abgekommen ist und sie sich gerade heute
als "Erfolgsmodell" präsentiert, wie es nur wenige Errungenschaften
der kulturellen Evolution gegeben hat. Sie ist in einer Reihe mit Errungenschaften
wie Sprache, Geld, Wissenschaft und Recht zu verorten. Jede Zeit und
Hochkultur seit der neolithischen Revolution hat einen Begriff der Stadt.
Diese Stabilität erstaunt, angesichts des vor allem offensichtlichen
Wandels der Städte in Gestalt und Bedeutung. Unübersehbar
ist wird sie als Stadt permanent von der Gesellschaft problematisiert,
und es bleibt unbestritten: Städte sind nicht ohne Gesellschaft
denkbar.
Funktion
ohne Telos
Norbert Elias stößt uns darauf, dass ontologische Schemata
den Zugriff auf Prozesse verweigern. "Die Neigung von einzelnen
Urhebern her zu denken, die Denkgewohnheit, nach den individuellen Schöpfern
gesellschaftlicher Transformationen zu fragen, oder allenfalls in den
gesellschaftlichen nur die juristischen Institutionen zu sehen und die
Vorbilder zu suchen, nach denen sie von Diesem oder Jenem geschaffen
wurden, alles das machte diese Prozesse und Institutionen so unangreifbar
für das nachdenkende Bewusstsein, wie es ehemals für die scholastischen
Denker die Naturprozesse waren." (Elias 1997, S.46) Erst wenn
wir davon absehen unsere Beschreibungen mit Hilfe von Sein und Nichtsein
durchzuführen, wenn wir zwischen den Dingen die Medien im Sinne
von Fritz Heider, der den Begriff 1926 geprägt hat (Heider 2005),
aufspüren, werden wir Kausalbeziehungen als Spezialfälle entlarven
und Funktion nicht länger mit Zweck verwechseln. "Kausalität,
so glaubte man, vermittelt absolute theoretische Gewissheit. Sie ist
das physische Gegenbild der ideellen reinen Wahrheit." (Günther
2000, S.129) Die traditionelle, ontologische Kausalauffassung, die
entweder teleologische Erklärungen durch Wirkungen oder mechanische
Erklärungen durch Ursachen generiert, gilt es zu erweitern durch
eine funktionale Methode. Die klassische Zweck/Mittelbeziehung basiert
im Wesentlichen auf retrospektiver Interpretation. Die Gesellschaft
wird keinesfalls von einem großen Geist bewegt. Ausschließlich
aus der Retrospektive ist so etwas wie Absicht diagnostizierbar und
der Gesellschaft dann als Historie aufzubürden. Es gibt kein Telos,
auf welches gesellschaftliche Entwicklung abzielt, aber andererseits
hat alles, was gesellschaftlich Relevanz erlangt, eine Funktion für
die Gesellschaft. Mit Luhmann sollten wir als Hintergrund für die
Frage nach Funktion festhalten: "Als funktional gilt eine Leistung,
sofern sie der Erhaltung einer komplex strukturierten Einheit, eines
Systems dient." (Luhmann 1970, S.10)
Herkömmliche
Analysen zerlegen die Stadt als Struktur immer soweit, bis sie in der
Regel in den Differenzen von Gesellschaft und Architektur, Leben und
Verwaltung, Realem und Utopie stranden. Das liegt daran, dass sie in
der Regel auf das Wesen der Stadt abzielen. Das passiert immer dann,
wenn wir mit ontologischen Denkmodellen operieren, die die Stadt als
eine substantielle Entität beschreiben. Gleichzeitig unterstellen
wir dann, wenn wir nach ihrer Funktion fragen ein Telos. In einem solchen
Kontext können Antworten auf die Frage nach der Funktion der Stadt
nur wie Aufzählungen politischer, produktiver und konsumptiver
Absichten formuliert werden. Wir sollten uns an die Vorgabe halten,
dass die Gesellschaft kein Ziel kennt, sondern evolutionistischen Beschreibungsmodellen
folgt. Wenn wir dem nachgeben, und die ontologische Herangehensweise
unseres Denkens überwinden und auf ein "Dazwischen" um-justieren,
werden gesellschaftliche Probleme (Fuchs 2010, S56ff) erst fruchtbar.
Emergenz
des Öffentlichen: Physische Interaktion
Alle historisch gewagten Definitionen von Stadt wurden von den Ereignissen
überrollt. Fruchtbarer als jede Definition, wäre daher die
Frage, welche Funktion hat eine Stadt für die Gesellschaft ? Inwieweit
dient, das, was wir als Stadt bezeichnen der Aufrechterhaltung des komplexen
Kommunikationssystems Gesellschaft? Die Rahmenbedingungen für die
Emergenz von Urbanität setzen wohl ein rapides Anwachsen der Bevölkerung
und die damit einhergehende Steigerung der Unübersichtlichkeit,
insbesondere von Kommunikation voraus. Wie an der einsetzenden Arbeitsteilung
abzulesen, differenzieren sich spezifische Kommunikationen aus, die
mit der Ausdifferenzierung einer neuen Siedlungsweise in Peripherie
und Zentrum im Altertum einhergehen. "Verglichen mit segmentären
Gesellschaften nimmt die Zahl und die Komplexität der Außenkontakte,
die durch Bildung eines Zentrums (aber auch: einer Oberschicht) ermöglicht
werden, immens zu." (Luhmann 1997, S.664) Kommunikation unter
Fremden und Variationsreichtum in Bezug auf den Sinn von Kommunikation
können in der Dichte historischer Ansiedlungen ihre ganze Kontingenz
entfalten. Man kann sich geradezu eine Explosion von Sinnhorizonten
vorstellen, wenn man an die Vielfalt von neuartigen Berufen und Aufgaben
denkt, die eine urbane Gesellschaft produziert. Solange die Kommunikation
vorrangig auf Interaktion, d.h. auf Anwesenheit basiert, und andere
Kommunikationsmittel, wie Schrift und Buchdruck nicht etabliert sind,
stellt die topographische Organisation der Stadt die Bedingungen zur
Möglichkeit der Steigerung von Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher
Kommunikation dar. Das gilt sowohl in Bezug auf die Teilnehmer, als
auch auf die kommunizierten Themen. Häufigkeit, wie auch Zufälligkeit,
wurden durch den gebauten Raum erhöht. Einwohnern, die die Stammeskultur
hinter sich gelassen haben, bieten sich Qualitäten, die einen kulturevolutionären
Schritt bedeuteten. Die Stadt bietet Kommunikationsmöglichkeit
an einem neutralen, d.h. hierarchiefreien Ort, an dem das zufällige
Kommunizieren unter Fremden geradezu provoziert wird. Stehen in den
Dörfern der Raum der Dorfmitte, sowie alle Bereiche zwischen den
Behausungen, vollständig unter der Kontrolle der Einwohner, weicht
die (oftmals als "sozial" bezeichnete) Kontrolle in der Stadt
dem "Voyeurismus", im Sinne des Wortes. Was wir beobachten
ist die Emergenz von so genanntem Öffentlichem Raum. Die Attraktion
geriert sich auf den Straßen und Plätzen. Seit Diogenes von
Sinope (Laertius 1998, S.317) muss es jedem klar geworden sein,
dass sich etwas Grundsätzliches verändert hatte zwischen den
Hütten und Palästen, was vordringlich das Verhalten der Einwohner
prägt. Als Diogenes auf dem Marktplatz Athens onaniert, legt er
auf einprägsame Weise dar: Wer sich hier - im Öffentlichen
Raum - bewegt, darf von allen gesehen werden und muss sich von allen
beobachten lassen! Die Möglichkeiten und Konsequenzen des neuartigen
Raums sind durch diese (heute würde man wohl sagen, Kunst-) Aktion
auf einen Nenner gebracht. Man könnte es auch als den Geburtsakt
der Differenz Öffentlich/Privat bezeichnen. Erstmals ist es möglich
an einem "freien" Ort, ohne Einladung und Aufforderung, ungehindert
Aufmerksamkeit zu akkumulieren. Vor Personen, die man nie zuvor gesehen
hatte, konnte man Dinge preisgeben, ungeachtet der eigenen Position.
Die Kommunikation in der Straße und auf den Plätzen der Antike
wurde zur "Währung" von Aufmerksamkeit. Sie verhalf zu
Karrieren und zu Macht. Sie konnte Verdammung und Ausschluss bedeuten.
Die Menschen wurden unter der Hand zu Personen. Sie lernten ihre Worte
und Handlungen zu wägen sobald sie vor ihre Privat-Häuser
traten. Die Möglichkeit der Veröffentlichung sei es der eigenen
Person oder der eigenen Meinung erteilte allein der städtische
Raum. (Nicht umsonst orientiert sich die Geschichtsschreibung seither
an den Namen von Städten.) Städte werden zum Anziehungspunkt
und Ort der Kumulation von Macht, Geld und Wissenschaft. Die Auszeichnung
der Stadt besteht darin, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit
zur Generierung von Aufmerksamkeit bietet. Ein nicht besetzter Raum
ist die beste Voraussetzung, weil er ein vorgegebenes Attraktionsgefälle
von vornherein ausschließt. Ein solcher Ort bietet Raum für
gleichberechtigte Personen und wird auf diese Weise zur Bühne eines
machtfreien, offenen Diskurses wie auch politischer Auseinandersetzungen.
Das Besondere: Auch wer nichts sagt, kommuniziert, wenn er anwesend
ist! Derjenige, der nichts sagt, gibt zumindest zu verstehen, dass er
nicht zu sagen hat. Anwesenheit bindet den Vollzugszwang zu kommunizieren.
Mit anderen Worten Anwesenheit verpflichtet zur Teilnahme an der Gesellschaft.
Die einzige Entzugsmöglichkeit ist Abwesenheit. (Luhmann 1997)
Um sich dem Zwang zur Kommunikation zu entziehen, muss man also Rückzugsmöglichkeiten
schaffen. Eine andere Seite: Das Private. Aus Gründen der Interaktion,
des Zusammenspiels von Körper und Kommunikation, stellt für
die abendländische Gesellschaft die Stadt in ihrem Zivilisationsprozess
insofern einen Kristallisationspunkt dar. Der Körper der Beteiligten
spielt dabei die zentrale Rolle. Zu beobachten auch an der gesteigerten
Disziplinierung mit Ausdifferenzierung der Sensibilität im Laufe
der sozio-kulturellen Evolution. (Foucault 1977) Wenn Anwesenheit Kommunikation
bedeutet, entwickelt sich ein reflexives Gespür für den visuellen
Code. Es kommt zu jenem Doppelprozess von Wahrnehmung und Kommunikation.
(Luhmann 1984, S.563) In der Schlüsselfunktion der Interaktion
zeigt sich die Stadt als den körperlichen Anforderungen dienend
und gleichzeitig die gesellschaftliche Funktion des Aufmerksamkeitsgewinns
befördernd. In ihrer ersten Artikulation kann man die Stadt in
der Doppelrolle eines körperlich-gesellschaftlichen Mediums beobachten.
Die Stadt erlaubt über ihre materielle Manifestation und ihre generalisierte
Form (öffentlich/privater Raum) die Gesellschaft mit ihrer Umwelt,
den körperlich Anwesenden, zu koppeln. Mit dieser Form erscheint
gleichsam ein "Link" auf der Bühne kultureller Evolution,
der das System der Gesellschaft mit seiner Umwelt - den physischen Systemen
- strukturell koppelt. Die funktionale Betrachtung der Stadt legt die
Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Mensch als physisch-psychologischem
Organismus offen. Der Stadt "entspringt" sozusagen das Öffentliche,
während sie das Körperliche in sich "verwahrt".
In auf diese Weise vollzogener symbolischer Generalisierung des Mediums
Aufmerksamkeit in der öffentlichen Kommunikation wird die ansonsten
nicht beobachtbare Differenz öffentlich/privat erstmals beobachtbar.
Zusammenfassend
müssen wir festhalten, dass der Kern der Stadt nicht in einer substanziellen
Entität zu finden ist. Die augenscheinliche Stabilität der
Organisationsform Stadt parasitiert an der Relation ihrer Bewohner,
oder besser: an der Stabilität sozialer Systeme. In diesem Sinne
folgt sie in ihrer Form den Veränderungen der Kommunikation. Immer
im "Blick", welche Erwartungen an die physische Präsenz
(als die Umwelt der Gesellschaft) sozialer Adressen gestellt werden.
Die Funktionalität der Stadt wird dann überboten sein, sobald
sich für das Problem der Kommunikation unter Anwesenden eine bessere
Lösung andeutet, oder das Problem als solches keines mehr darstellt.
Stadt als Form und Medium
"Stadt" ist sowohl als Medium, als auch als Form zu begreifen.
Einerseits ist sie als Medium die Offenheit einer Vielzahl möglicher
Verbindungen (Luhmann 1995, S.168). Sie stellt als lose Kopplung die
Bedingung für die Möglichkeit zur Selektion, ist also Bedingung
für die Tatsache, dass niemand wissen kann, was sich als nächstes
ereignen und verändern wird. Wohingegen die Stadt als Form eine
feste Kopplung der im Medium bereitgestellten Elemente darstellt; eine
spezielle Selektion sowohl zeitlich als auch sachlich. Gerade die Option
zur Stadtgestaltung (politisch, wie architektonisch) legt also einen
Begriff des Mediums als fruchtbar nahe. Die systemtheoretische Unterscheidung
Medium/Form stellt einige Deutungsmöglichkeiten bereit. (1) Die
Unterscheidung besagt, dass sich die Form manipulieren lässt und
nicht schon alles festgeschrieben steht (Lose/feste Kopplung). (2) Die
(historische) Konditionierung der Form erfolgt durch die (vorausgehende)
Form. (3) Die Unterscheidung verweist auf einen Verweisungsüberschuss
und die Redundanz, die in der losen Kopplung ihrer Elemente liegt. Die
Form ist dabei nur die aktualisierte Potentialität. (4) Die Unterscheidung
kann analog der Unterscheidung Information/Träger genutzt werden.
Wie am Beispiel der Sprache gut darzulegen: Sprache besteht sowohl aus
phonetisch-linguistischen (sozusagen körperlichen) Bestandteilen,
andererseits finden wir sie als Sinnstruktur vor. (5) Es gibt zwischen
Form und Medium einen temporalen Aspekt: "
das Medium ist
stabiler als die Form
. Formen können also in einem Medium
wie immer flüchtig oder längerfristig gebildet werden, ohne,
dass das Medium dadurch verbraucht würde oder mit Auflösung
der Form verschwände." (Luhmann 1997, S.171) (6) Symbolisch
generalisierte Medien weisen symbiotische Züge auf. Sie "vermitteln"
zwischen abstraktem, unbeobachtbarem Medium und einer körperlichen
Bedingtheit sozialer Akteure. Der Form kommt dabei eine sogenannte Ableitfunktion
zu. Sie folgt ganz praktischen, materiellen Anforderungen. Der Aspekt
der Symbiose ist für die Stadt von besonderer Bedeutung, da sie
zweifellos als materiales Phänomen nicht ausschließlich kommunikativ
reduzierbar ist und somit nicht vollständig in der Gesellschaft
abbildbar wäre. Andererseits erlaubt die Unterscheidung Information/Träger,
ein Kommunikationsmedium durchaus in materieller Form zu beobachten.
Beispielhaft sei hier noch einmal der Verweis angeführt auf die
Analogie zur Sprache, die als Text und Worte erscheint, und dem Geld
in Form von Münzen und Scheinen. Weil grundsätzlich gilt:
Das Medium an sich können wir nie beobachten, es bleibt abstrakt
und "erscheint" ausschließlich als Form. Nur als diese
Form (konkrete Stadt) ist das Medium (Stadt als Urbanität) dann
beobachtbar. Bleibt man bei dem Sprachgebrauch Urbanität ließe
sich allgemein für die Stadt formulieren, eine konkret erlebbare
Stadt ist die zu bestimmter Gestalt "geronnene" Form des Mediums
"Urbanität", aber eben immer nur eine von unendlich vielen
Möglichen. Als theoretische Ergänzung ist darauf hinzuweisen,
dass auch ein Medium eine Form sein kann. So wie das Medium der Sprache
in der Sinnstruktur Form annimmt, sind ihre phonetisch-linguistischen
Elemente auch eine Form im Medium der Schwingungen. Das Medium Stadt
(Urbanität) - so die Hypothese - ist eine Form im Kommunikationsmedium
der Aufmerksamkeit. Aus den obigen Überlegungen, die die Stadt
als "Öffentlichkeitsgenerator", welcher Aufmerksamkeit
innerhalb der Gesellschaft in spezifischer Weise, nämlich als Öffentlichkeit
ausdifferenziert, könnte man ihr eine Stellung unter den Kommunikationsmedien
zumuten. Mit den genannten systemtheoretischen Prämissen lässt
sich die Stadt also als eine Form im Medium der Aufmerksamkeit darstellen.
Stadt
als Form der Aufmerksamkeit
So aber auch die Stadt nur eine Form ist, die von anderen Formen abgelöst
werden kann, soll nicht dem Niedergang der Städte das Wort geredet
werden, sondern im Gegenteil genauer akzentuiert werden, worin die originäre
und wie bereits angedeutet lange Zeit konkurrenzlose Funktion der Stadt
zu finden ist. Was können wir also gewinnbringend schließen
aus einer Betrachtung der Stadt als Medium der Aufmerksamkeit? Die seltene
Ressource, die uns befähigt zur Kommunikation, zu interaktivem
Verhalten wie auch ganz allgemein zur Erzeugung sinnhafter Zusammenhängen
ist Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist für den Einzelnen eine begrenzte
Ressource. Auf die Gesamtheit aller Bewusstseinssysteme bezogen könnte
man sie sich aber auch als unbegrenzt vorhanden vorstellen. Aufmerksamkeit
wird so zu einem unverbrauchbaren Medium, über welches sich Kommunikation
generieren lässt. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit brachte
eine Reihe symbolisch generalisierter Medien hervor. Unter anderem den
hier hervor gehobenen Öffentlichen Raum. In der Stadt der Antike
wird über Aufmerksamkeit das politische System ebenso generiert,
wie die Wissenschaft und das Rechtssystem. Mit den technischen Entwicklungen
haben im Bereich der Kommunikation die sogenannten Massenmedien ihre
Karrieren begonnen. Der Schrift folgten Buchdruck, Telegrafie und als
bislang letztes das Internet. Veränderungen der Form sind eben,
wie wir gesehen haben, unausweichlich in einer an Komplexität zunehmenden
Umwelt, wenn das System (Gesellschaft) evoluiert. Augenscheinlich kommt
es dadurch zu Verschiebungen in den Zuständigkeiten. Funktionen
werden durch andere Medien übernommen. Die Stadt tritt sozusagen
in ein "Konkurrenzverhältnis" zu Buchdruck, Zeitung,
Television und Internet. Das "Kerngeschäft" der Aufmerksamkeitserregung
im Bereich der Interaktion unter Anwesenden allerdings - wie man es
sehr gut zu Beginn ihrer "Einführung" beobachten kann
- liegt bei der Stadt. Zwar bedeutete für sie das Auftreten weiterer
Kommunikationsmedien eine Art der Spezialisierung, doch verbleiben ihr
andererseits auf diese Weise konkrete Funktionen. Eine zunehmende Verstädterung
des Planeten scheint die Tendenz zu belegen. Eine global vollständig
durchgesetzte Funktionsdifferenzierung wird vielmehr weiterhin voraussetzen
dürfen, dass alle an der Gesellschaft teilnehmenden urbanisiert
sein werden. Was an der spezifischen Besonderheit des Kommunikationsmediums
Stadt liegt: Ihre Sonderstellung für die Gesellschaft an der Schnittstelle
zwischen physischen Systemen und Kommunikationssystemen. Die Stadt stärkt
sich in der Position als "Interface". Die Unterscheidung Medium/Form
erlaubt die Beschreibung dieses Wandels plastisch, weil sie, ohne sich
dafür oder dagegen Position beziehen zu müssen, darlegt, wie
die Stadt als Form des Mediums Aufmerksamkeit zwangsläufig in Bewegung
geraten musste. Und dabei selbst als Medium den Wandel der Form überlebte.
"Wenn die Form verschwindet (der Fußabdruck im Sand, die
Welle im Wasser, das Gesicht der Sphinx), bleibt das Medium für
neue Formungen erhalten (damit setzt es jede Form "selektiv",
also kontingent), es sei denn die Formen (Elemente), aus denen es sich
selbst zusammen setzt, werden in dem Medium, die seine Elemente tragen,
"amorphisiert". Dann verschwinden Form und Medium für
jeden Beobachter." (Fuchs 1994, S.23)
Die
Ausführungen der Verschiebungen würden den Rahmen dieses Aufsatzes
sprengen, dennoch sollte diese unwahrscheinliche Entwicklung als Erfolgsgeschichte
befragt werden. Wir sollten nachvollziehen welchen Verschiebungen in
unserem Aufmerksamkeitsmanagement welche Formveränderungen im Städtebau
folgten, und welche Veränderungen unseres Kommunikationsverhaltens
den jeweiligen Veränderungen der Form Stadt voraus gingen.
Symptomatisch
sei hier die aktuelle "Kollision" mit dem Internet kurz anskizziert.
Spürbare Verschiebungen in unserem, wie auch dem Konsumverhalten
der anderen, verunsichern aktuell und finden in der Tagespresse als
Untergangsvermutung Niederschlag: Die Verdrängung des Konsumenten
aus der Innenstadt auf Grund des verstärkten Aufkommen des Internet-Handels
lässt unsere Städte aussterben, so die in der Presse nachzulesende
These. (Siehe Franka Nagel: Am Niedergang der Städte ist nur einer
schuld, Süddeutsche Zeitung 16.12.11) Es löst offenbar Erschrecken
aus, wenn Shopping nicht länger ausschließlich in physischer
Präsenz erledigt wird, da der Preiskrieg zunehmend Online und nicht
länger in den Schaufenstern der City gewonnen wird. Man fürchtet
das Verschwinden der letzten öffentlichen Tätigkeit, wie bereits
von Rem Koolhaas zu Ende des 20. Jahrhunderts charakterisiert. (Koolhaas
2001) aus unseren Städten. (Was es bedeutet, dass gerade Koolhaas
in diesen Tagen den Auftrag erhalten hat in Venedig für die Benetton-Holding
das historische Warenkontor und bis vor kurzem als Postgebäude
genutzte Fondaco die Tedeschi unmittelbar neben der Rialto-Brücke
in einen Megastore für die Kaufhauskette Rinascente zu verwandeln,
darf an dieser Stelle für Deutungen offen bleiben.) Wir registrieren
hier die Auswirkungen einer erneuten Zuspitzung gesamt gesellschaftlicher
Verhaltensverschiebungen. "Eine immer größere Zahl
unserer sozialen Beziehungen nimmt einen auf merkwürdige Weise
körperlosen, "entleiblichten" Charakter an."
(Metzinger 2010, S.329) Man sieht wieder einmal, dass nichts bleibt,
wie es ist, und in jedem Fall muss und wird die Stadt darauf reagieren.
Der oftmals prognostizierte Niedergang der Stadt war oft nur das Wahrnehmen
dessen, was wir als einen Scheibchenweisen Wandel des öffentlichen
Lebens registrieren können. Fraglos zog das für die Stadt
nicht selten einen rigorosen Umbau nach sich, besiegelte jedoch bislang
nie ihr Ende. Das hat den einen Grund, dass sie trotz Schwinden aller
öffentlichen Interaktion, weiterhin physische Systeme beherbergt.
Wenden wir uns an das soziale System der Medizin, der Erziehung oder
auch der Wohlfahrt (Ist nicht der Landstreicher eine längst überkommene
und vollständig vom Stadtstreicher bzw. Obdachlosen ersetzte Existenzform.),
dann finden wir uns in den meisten Fällen in einer Stadt wieder.
Aber auch in punkto Liebe und Politik verschafft man sich in urbanen
Räumen größere Erfolgschancen, als in nicht urbanen
Regionen. Letzteres belegen die Proteste des arabischen Frühlings
(Siehe Tahrir to Zuccotti, The Power of Place. The New York Times,
October 24, 2011) ebenso, wie der Tumult um die Tieferlegung des
Hauptbahnhofes in Stuttgart, oder die von New York in zahlreiche Metropolen
ausufernde Occupy-Bewegung. In Sachen Liebe schlägt sich die Reflexion
des Dilemmas in einschlägigen TV-Shows nieder. (In "Big Brother"-Formaten
und allen anderen Kuppel- und Casting-Shows wird der Mangel an Urbanität
kolportiert, in dem man Provinzialität (lokal wie auch qualitativ)
mit Massenmedien "kurzschließt", um über das Ziel
hinaus schießend, schlaglichtartig multimedial kompatible Personen
zu generieren.) Gerade bei Systemen der Gesellschaft, die den Körper
betreffen wird deutlich, wie die Anwesenheit in der Stadt zunehmend
zur Eintrittskarte für die Teilnahme an der Gesellschaft wird.
Naturgemäß geraten dabei die Bevölkerungsgruppen in
den Focus, deren "entleiblichte" Teilnahmemöglichkeiten
(aktuell immer noch) eingeschränkt bleiben. Die sich daraus andeutende
gesellschaftliche Benachteiligung sollte ins Auge stechen und den Verantwortlichen
Anlass sein Teilnahmegerechtigkeit als Motiv für Stadtgestaltung
gelten zu lassen. Veränderungen der Stadt stellen aus systemtheoretischer
Sicht nicht ein Qualitätsmerkmal an sich dar, sondern können
vor allem als ein Verweis auf die Formänderung eines Mediums gelesen
werden. Praktischerweise erklärt sich die Veränderung der
Form dann über ihre Funktion für die Gesellschaft und nicht
über die Abweichung von einem, wie auch immer gearteten, Ideal.
10.10.2012
Siehe auch:
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ISBN
9-783743-167469
384
Seiten, Paperback, € 27,00
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