EXIT 
          II
          oder: 
          Vom richtigen Zeitpunkt 
          von Günter Schweigard
        Gestern 
          Abend bekam ich eine E-Mail von der Schwester meines Freundes, mit der 
          ich im letzten Jahr, in Santiago de Compostela, auf extra für Pilger 
          hart gehaltenen und somit reichlich unbequemen Betten, mehrmals geschlafen 
          hatte und die es daraufhin, obwohl religiös durchaus ungebunden, 
          vermieden hat, mich wieder zu sehen. - Weißt du noch, letztes 
          Jahr in Santiago de Compostela? Für mich, als ausgesprochenen Nicht-Gläubigen, 
          war der "Camino Primitivo" lediglich eine weitere Gelegenheit 
          gewesen, meinen Freund, trotz der Tatsache, dass seine Hinwendung zum 
          Glauben nun doch so gut wie vollzogen war, dazu zu bewegen, die von 
          ihm einseitig gelöste Vereinbarung, uns, im Bedarfsfalle, gegenseitig 
          Sterbehilfe zu leisten, wieder zu erneuern. Stattdessen unternahm er, 
          seinerseits, alles nur erdenkliche, um mich unterwegs mit seiner Schwester 
          zu verkuppeln. Nach unserer Rückkehr wollte sie eine Beziehung. 
          Ich nicht! - Weil sie es auch weiterhin vermeiden wolle, mich persönlich 
          zu sprechen, sähe sie sich veranlasst, mir per E-Mail mitzuteilen, 
          dass mein Freund, auf dem Weg nach Zürich, auf einem nicht auf 
          der Hauptroute liegenden Streckenabschnitt, kurz vor erreichen seines 
          Zieles, mit seinem Porsche gegen einen Alleebaum, eine Grau-Pappel, 
          geprallt und noch im Rettungswagen, auf dem Weg ins Krankenhaus, seinen 
          Verletzungen erlegen sei. Obwohl seither nahezu über ein Monat 
          vergangen sei, könne der Unfallhergang von der Schweizer Polizei 
          noch nicht abschließend geklärt werden. Mit großer 
          Wahrscheinlichkeit handle es sich um einen Fall von Fahrerflucht, da 
          sich der Unfall um kurz vor Mitternacht ereignet hatte, und man also 
          davon ausgehe, dass mein Freund von einem entgegenkommenden Fahrzeug 
          geblendet worden war. Daraufhin müsse er dann die Gewalt über 
          sein Fahrzeug verloren haben. Die Trauerfeier sei im engsten Kreis der 
          Familie abgehalten worden. Eine Beisetzung habe es nicht gegeben. Die 
          Asche meines Freundes sei, wie er dies selbst, vor Jahren schon, gegenüber 
          seiner Ehefrau eingefordert habe, der Natur (in seinem Falle: den Wassern 
          des Zürichsees) übergeben worden. Abschließend bat mich 
          die Schwester meines Freundes, ihr, vorzugsweise per E-Mail, mitzuteilen, 
          ob ich mich dazu bereit erklären würde, drei, sich im Keller 
          des Wohnhauses meines verstorbenen Freundes befindlichen Garnelen-Aufzuchtbecken 
          (W110xD60xH60) zu übernehmen - wovon sie sicher ausgehe, habe ich 
          doch, wie ihr bekannt geworden sei, vor geraumer Zeit, das große, 
          von ihr so überaus geliebte, Panoramabecken (W710xD110xH120) ihres 
          Bruders übernommen.
          
          Von der linken Schmalseite des Aquariums aus, setzt sich eine Amanogarnele 
          in Bewegung. Ganz Garnele, tänzelt sie, mittels ihrer drei Schreitbeinpaare, 
          in Richtung der Lichtung, die sich etwa mittig in dem gut sieben Meter 
          langen Panoramabecken befindet. Weitere vier Artgenossen der Amanogarnele, 
          die von der rechten Schmalseite des Aquariums aufgebrochen waren, werden 
          ihrerseits wohl in Kürze auf der Lichtung eintreffen. Geschickt 
          benutzen sie ihre Schwanzfächer und die mit kleinen Scheren ausgestatteten 
          vorderen Beinpaare, um ihre Körperposition während der Vorwärtsbewegung 
          auszutarieren. Immerwährend sind sie mit ihren kleinen Scheren 
          auf der Suche nach Essbarem. Sie lassen sich nicht einmal von den asiatischen 
          Zwergfischschwärmen, die sich über ihre Köpfe hinwegbewegen, 
          dabei stören. Amanogarnelen begnügen sich mit ihrem Leben 
          in einem von vier Glasscheiben begrenzten Panoramabecken, ohne, dass 
          sie einen auch nur annähernd unzufriedenen Eindruck machen würden. 
          Allem Anschein nach, haben Amanogarnelen keine Vorstellung von Zeit 
          und Raum.
        Man 
          solle, was Krankheiten betrifft, nicht an Wunder glauben. Eher mache 
          man den Hauptgewinn in einer Fernsehlotterie, als dass man als Todgeweihter 
          mit dem Leben davonkommen könne, hatte mich mein Freund vor einigen 
          Monaten aufgeklärt und mir anschließend das Versprechen abgerungen, 
          die Sache mit dem Krebs für mich zu behalten. Niemand sonst solle 
          davon erfahren, nicht seine Ehefrau und seine Kinder und auch nicht 
          seine Schwester. - Weißt du noch, letztes Jahr in Santiago de 
          Compostela? Auch, nachdem er nun also unheilbar krank zu sein schien, 
          wollte er unsere Vereinbarung, die Sterbehilfe betreffend, nicht erneuern, 
          er bat mich (vorausschauend) lediglich, sein gut sieben Meter langes 
          Panoramabecken, samt Inhalt, zu übernehmen, da ihn die täglich 
          notwendige Pflegearbeit sicherlich irgendwann kräftemäßig 
          überfordern werde.
          
          Bis in jedes kleinste Detail hatte mein Freund (wie es sein Naturell 
          war) die Umsetzung des in kostspieliger Sonderanfertigung aufgebauten 
          Panoramabeckens, sowie des umfangreichen Equipments, geplant. Mehrmals 
          habe er dafür mit Takashi Amano, dem, wie er mir versicherte, 
          Papst der Aquarianer, geskypt, der ihm wertvolle Tipps, sowohl 
          für die aufwendige Demontage, als auch für das, ausschließlich 
          in Vor-Ort-Verklebung machbare, Wiederzusammenfügen der übergroßen 
          Panoramascheiben, geben konnte. Mehrere Wochen verbrachten wir nun gemeinsam 
          damit, das Aquarium, an einer von mir frei geräumten fensterlosen 
          Längswand meines Wohnzimmers, neu aufzubauen. Die gestalterische 
          Umsetzung sollte, sehr sorgsam, nach den Grundsätzen der Kunst 
          des "Aquascaping" ausgeführt werden; eine Kunst, 
          die mein Freund, vor Jahren, bei einem der seltenen Takashi-Amano-Workshops 
          eingehend erlernt hatte. Sowohl in der linken, als auch in der rechten 
          Beckenhälfte mussten, jeweils, duzende, teils kleinkindgroße, 
          Lavasteine verdichtet arrangiert werden, so dass der Eindruck bizarrer 
          Gebirgsformationen entstehen konnte. Da der Beckengrund nicht mehr betreten 
          werden durfte - dies hätte die, sich bereits im Feinnivellement 
          befindliche, Bodensubstratfläche unwiederbringlich zerstört 
          - musste ich die kräfteraubende Aufgabe übernehmen, über 
          den oberen Rand des Beckens gebeugt und mich an vorher auf den Scheibeninnenseiten 
          des Beckens angebrachten Gummisaugern festhaltend, auf die ständigen 
          Anweisungen meines Freundes reagierend, Stein um Stein, unzählige 
          Male, mitunter auch nur um Bruchteile von Millimetern, zu kippen, zu 
          drehen, oder in der Höhenlage zu verändern, bis die endgültige, 
          in der vorherigen Planung festgelegte Position erreicht war. Im Zentrum 
          des Beckens musste ich anschließend, nach Vorgabe meines Freundes, 
          eine zirka meterbreite Lichtung ausbilden, die den Blick auf einen Hintergrund 
          freigab. Der Hintergrund sollte die unendliche Tiefe des Meeres suggerieren. 
          Hierfür wurde ein ausgeklügeltes Überkopf-Beleuchtungssystems 
          installiert, das genauestens berechnete Lichtreflexionen hervorrief, 
          die den Hintergrund, fließend, von einem blendenden Weiß 
          im oberen Bereich, in das strahlende Blau des Meeres, am Grund des Beckens 
          übergehen ließen. Der Vordergrund sollte, laut Planung, von 
          einem, die komplette Breite des Beckens einnehmenden und sich im Lichtungsbereich 
          bis zum Hintergrund ausbreitenden, dichten hellgrünen Haargrasbewuchs 
          dominiert sein. Dieser Eindruck würde sich allerdings erst im Laufe 
          eines knappen Jahres einstellen, da sich der Haargrasbewuchs im Becken, 
          bei regelmäßiger Düngung, noch um ein Vielfaches ausdehnen 
          werde, wie mir mein Freund glaubhaft versicherte. Der große Fehler 
          von Einsteigern in die Kunst des "Aquascaping" sei 
          es, anfänglich, die Pflanzen zu dicht zu setzen. Nach einem exakt 
          ausgearbeiteten und peinlichst einzuhaltenden Zeitplan und unzähliger 
          vorgegebenen Schritte erfolgte schließlich noch die Umsiedelung 
          der gut ein Duzend Amanogarnelen und der annähern einhundert asiatischen 
          Zwergfische. Ob die Umsiedelung erfolgreich sein werde, die Tiere also 
          am Leben bleiben würden, könne man, nach Aussage meines Freundes, 
          ebenfalls frühestens nach mehreren Monaten sagen. 
        Ich 
          erinnerte mich: Mein Freund war oft stundenlang damit beschäftigt 
          gewesen, mit einer extra dafür angeschafften japanischen Trimmschere 
          (mit Verlängerungsgestänge) das hellgrüne Haargras schneiden. 
          Ich werde wohl jemanden dafür bezahlen müssen, der dies für 
          mich übernimmt. 
        Unsere 
          Arbeit war also fürs Erste getan. Zufrieden über die gelungenen 
          Umsetzaktion, schwärmte mein Freund, bei unserem letzten Treffen, 
          nach dreiwöchigem gemeinsamem "Aquascaping", dass 
          er beim letztjährigen "ADA International Aquatic Plants 
          Layout Contest", mit einem ganz ähnlichen Gestaltungskonzept, 
          unter 1603 Teilnehmern aus 55 Ländern, einen beachtlichen zweihundertsiebenundzwanzigsten 
          Platz belegt hatte (die Asiaten sind sowieso nicht zu schlagen). Er 
          überreichte mir das 156-seitige Contestbook, in dem alle 
          Aquarien-Layouts der Wettbewerbsteilnehmer ausführlich, mit Bild 
          und Angaben zu Pflanzen und Tieren, dokumentiert waren und wie er wohl 
          hoffte, würde auch ich, als Nicht-Aquarianer, mich künftig 
          von den vielen gelungenen Beispielen des "Aquascaping" 
          inspirieren lassen. Als ich mehrere Tage später das Booklet durchblätterte, 
          fand ich darin, verteilt, auf mehreren Seiten, den Ausdruck einer Straßenroute, 
          mit dem Zielort Zürich, eine sehr detaillierte photographische 
          Senkrechtaufnahme einer mir unbekannten Allee, mit diversen handschriftlichen 
          Eintragungen und die Kopie eines Schreibens, mit der Information, dass 
          nun das Rezept für das tödlich wirkende Medikament, zuhanden 
          von DIGNITAS ausgestellt worden sei und dass nun ein Termin für 
          die Freitodbegleitung vereinbart werden könne. Wiederum seine gewohnt 
          akribische Vorplanung hatte ihn genau diese eine Grau-Pappel, im zweiten 
          Drittel der Allee, auswählen lassen. Ein kräftiger, gesunder 
          Baum. Sein Porsche war schon ein älteres Modell und, um nach der 
          Einhundertachziggrad-Kurve, die der Allee unmittelbar vorausgeht ausreichend 
          Fahrt aufnehmen zu können, brauchte es eine Weile. Eine Geschwindigkeit 
          zwischen einhundertfünfundsiebzig und einhundertachtzig Stundenkilometern 
          hatte er sich ausgerechnet. Jedenfalls hatte er diese Eintragungen an 
          dem, mit einem roten Kreuz versehenen Baum, auf dem Luftbild, vorgenommen. 
          Wäre er aber an jenem Baum, den er sich ausgesucht hatte, vorbeigefahren 
          und hätte er nicht zum richtigen Zeitpunkt nach rechts gelenkt, 
          dann hätte er, zur Sicherheit, immer noch den Termin in Zürich 
          gehabt. Perfekt! Doch was wäre gewesen, hätte sein Herz nicht 
          auf dem Weg ins Krankenhaus aufgehört zu schlagen und wären 
          nicht alle Reanimationsversuche, die noch während der Fahrt im 
          Rettungswagen durchgeführt worden waren, erfolglos geblieben? Das 
          restliche Leben im Rollstuhl? Von der Familie gepflegt werden? Mit mir 
          zusammen beobachten, wie die Amanogarnelen unermüdlich die mit 
          hellem Haargras bedeckte Lichtung abweiden? Stundenlang? Letztendlich 
          klappte es ja dann doch mit dem Porsche! Ich glaube nicht, dass er zögerte, 
          nach rechts zu lenken. Und wie hatte er sich verabschiedet, vor er losgefahren 
          war? War sein Abschied, Zuhause, ein ganz normaler Abschied gewesen? 
          Wie jeden Tag? Ich denke er hat sich zu einem Takashi-Amano-Workshop, 
          nach Zürich, verabschiedet. 
        Eine 
          mehr als glaubhafte Geschichte! Außer für mich, der ich die 
          Wahrheit kenne! Niemals darüber reden! Die Vereinbarung einhalten! 
          Die Schwester würde sowieso nicht mit mir sprechen. - Weißt 
          du noch, letztes Jahr in Santiago de Compostela? Keinen BH unter der 
          leichten Sommerbluse getragen und in der Sonne gelegen. - Bloß 
          schnell weg! 
          
          Ich begnügte mich nicht (wie sonst üblich) mit der Welt von 
          "Google Earth 7", denn für jene Allee, die sich 
          mein Freund ausgesucht hatte, war kein 3D-Viewer aktivierbar, und auch 
          beim Überflug mit einer "Cirrus SR22", mittels 
          Flugsimulator, hatte sich kein ausreichend wirklichkeitsnahes räumliches 
          Bild der Vor-Ort-Situation ergeben. Ich folgte also der von meinem Freund 
          peinlichst genau geplanten Straßenroute. In die Allee einbiegend, 
          dem geradlinigen Verlauf der Straße ausgeliefert, darauf konzentriert, 
          das Wie? ergründen zu wollen, beschleunigte ich. Mit hoher Geschwindigkeit, 
          flogen Alleebäume rechts und links an den Wagenscheiben vorbei. 
          Von rechts blickte mich, aus dem Augenwinkel heraus, eine Grau-Pappel 
          mit stark beschädigtem Stamm und mehreren roten Farbmarkierungen 
          warnend an. Die Warnung: Es ist alles eine Frage der Angemessenheit. 
          Jederzeit ist der richtige Zeitpunkt! Wenn ich mich entscheiden müsste, 
          würde ich dann auch nach rechts lenken? Für diesmal war es 
          zu spät. Krampfhaft hielt ich das Lenkrad gerade. Auf Sicherheit 
          bedacht reduzierte ich merklich die Geschwindigkeit. Kontinuierlich 
          fließt das Leben dahin (Alltag). Erst wenn Außergewöhnliches 
          geschieht nimmt man die Zeit wahr. Ganz im Ernst: Während man eine 
          Allee durchfährt, bleibt allerhand Zeit für metaphysische 
          Spekulationen. 
        Die 
          weitere Fahrt, bis in das, in der Nähe von Zürich gelegene, 
          Industriegebiet, verlief ohne weitere Zwischenfälle. Kurzzeitig 
          etwas zu eigennützig denkend, spekulierte ich darüber, ob 
          das Haus in dem man einen Giftcocktail bekommen kann, im Bedarfsfalle, 
          vielleicht auch eine Alternative für mich darstellen könnte. 
          Um mich nicht festlegen zu müssen, beschloss ich, vorab, ausgiebige 
          Vor-Ort-Recherchen zu betreiben. Ich wollte meine Entscheidung davon 
          abhängig machen, ob das dort angebotene Getränk nicht zu dickflüssig 
          ist, oder ob sich nicht sogar scheußliche Klumpen bilden (klumpt 
          Natrium-Pentobarbital?). Am frühen Nachmittag steuerte ich einen, 
          mit blauem Trapezblech verkleideten, Industriebau an. Unvermittelt stand 
          ich im Inneren des Gebäudes, wohl in einem der Sterbezimmer. Wie 
          ich hereingekommen war, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich von hinten, 
          um nicht aufzufallen. Erstmal hinten rein, wenn dort kein Hund angeleint 
          ist. Wenn doch, extra (vorausschauend) "Frolic Django Knochen 
          mit Rind" in der Jackentasche. Die Frolic konnte ich, 
          im Sterbezimmer stehend, immer noch spüren. Die Hand roch auch 
          danach. Langweilige Bauträger-Innenarchitektur. Kunststofftüren. 
          Türdrücker, ebenfalls Kunststoff. Unangenehm, aber für 
          den Zweck ausreichend. Hygienisch einwandfrei und leicht zu desinfizieren. 
          Ein Duft, der aus feinen, in die Decke eingelassenen Düsen strömte, 
          verteilte sich im Raum. "Claire Keim: Veith", wie mich 
          eine nicht allzu gutaussehende DIGNITAS-Mitarbeiterin sofort 
          aufklärte. Ich kenne den Duft nicht. Angenehm aber wenig lebensbejahend. 
          Warum auch? Ich ließ zu viel Zeit verstreichen, um, - wie dies 
          Michel Houellebecq (der von "Karte und Gebiet") vorschlägt 
          - ihr zumindest einen kräftigen Fußtritt in die Magengegend 
          zu verpassen. Zu viel Zeit, um nicht an die möglichen Konsequenzen 
          solch einer Tat denken zu müssen. In der Ecke eine Stehlampe. Butterfarbene 
          Tapeten. Auf dem Weg in die Lobby traf ich auf eine zweite DIGNITAS-Mitarbeiterin. 
          Sie war jung und hübsch. Ich ging nach draußen. 
          Der Geruch einer Straße in einem Industriegebiet. Ich konnte nicht 
          sagen, wie es in einem Industriegebiet zu riechen hat. Heutzutage haben 
          Industriegebiete keinen typischen Geruch mehr. Aber hier: Der Geruch 
          nach Wäscherei. Gerüche sind echt! Die Wäscherei war 
          gleich nebenan. Großwäscherei Blum: Waschen-Reinigen-Pflegen-Textilleasing. 
          Eine Vorwelt zum Jenseits. Ein noch kahles Baumgestänge im Vorgarten 
          der Wäscherei. Hier, wo ich stand, der mit blauem Trapezblech verkleidete 
          Industriebau, in dem man, auf Verlangen, einen tödlichen Giftcocktail 
          bekommt. Ein Seerosenteich (wunderbar) wurde sichtbar. Immerhin der 
          Versuch einer Gartengestaltung. Plötzlich roch es nach Meer. Tatsächlich! 
          Hinter dem blauen Blechgebäude, azurblaues Meer. Eine Statue von 
          Kolumbus am Strand. Die Veranda begann sich zu drehen. Mit mir! Ich 
          bemerkte, das Gebäude stand auf einer riesigen Plattform, die mittels 
          eines Schneckengetriebes gedreht werden konnte. Ich begegnete einem 
          Mädchen, das ich schon seit Jahren täglich treffe, wenn es 
          in das Schwimmbad am Stadtrand geht. Das Mädchen, lediglich mit 
          einem Badeanzug bekleidet, schlenderte auf die Verandatreppe zu. Mittlerweile 
          hatte das Schneckengetriebe das blaue Blechgebäude, mitsamt der 
          Veranda, komplett zum Meer hin ausgerichtet. Täglich eine Stunde, 
          erklärte mir das Mädchen, biete man diesen Service an. Wieder 
          spüre ich diesen Inszenierungsekel. Das Meer schimmerte jetzt türkisfarben. 
          Das Mädchen legte ein Handtuch in den weißen Sand und ging 
          langsam, ohne sich vorher abzufrischen und ohne sich noch einmal umzublicken, 
          immer weiter ins Meer hinaus. Bald hatte ich sie aus den Augen verloren. 
          Um mich abzulenken fütterte ich einen Albatros, bis ich keine Frolic 
          mehr hatte.
          Von der Seite näherte sich ein kräftig gebauter Mann, mit 
          einer dunklen Livree, die mit Goldknöpfen besetzt war. Seine steifen 
          Beine bewegten sich bei jedem Schritt in einem Schwung nach außen, 
          der komplett von der Hüfte ausging, ohne dass auch nur die kleinste 
          Beugung des Knies zu bemerken gewesen wäre (vermutlich Kriegsverletzung). 
          Der Mann blieb schließlich direkt hinter mir stehen und hielt 
          mich mit starker Hand am Ärmel. Ich hätte dem Mädchen 
          sowieso nicht helfen können, beruhigte er mich. Alle Bewohner des 
          blauen Blechgebäudes seien, im Glauben, der richtige Zeitpunkt 
          sei gekommen, entschlossen, zu sterben. Man könne sie nicht mehr 
          davon abhalten. Die überwiegende Mehrzahl der Sterbewilligen begnüge 
          sich jedoch damit, den ihnen verabreichten Giftcocktail zu trinken. 
          Nur wenige von ihnen würden die Kraft dazu aufbringen, ins Meer 
          hinauszugehen. Anstatt ins Meer hinaus zu gehen, stürmte ich zurück 
          in das blaue Blechgebäude. Ich ließ mich in der Lobby auf 
          eine Wartebank fallen und verbarg mein Gesicht in beiden Händen. 
          Der Mann von vorhin war mir gefolgt. Er gab sich freimütig als 
          der Hausherr zu erkennen. Er übergab mir einen Scheck mit einem 
          hohen fünfstelligen Eurobetrag. Im Gegenzug händigte ich ihm 
          ein Adressbuch aus. Namen von Sterbewilligen. Er nahm das Adressbuch 
          an sich, betätigte einen roten Schalthebel und begann ein grausam 
          höhnisches Gelächter. Das Schneckengetriebe lief an und drehte 
          die Plattform mitsamt dem blauen Blechgebäude wieder in seine Ausgangsposition 
          zurück. Noch während das Haus sich drehte, beendete ich meine 
          Recherchen. 
        Ich 
          weiß jetzt, dass der Selbstmord für mich nicht in Frage kommen 
          wird. Der Selbstmord passt einfach nicht zu mir. Ich werde weiter leben, 
          auch wenn ich mich langweilen sollte. Ich muss zugeben, dass ich zu 
          solch einer Aussage fähig bin, liegt daran, dass ich kürzlich 
          den Anfang des Rowland S. Howard-Songs "Shivers" gelesen 
          habe 
        I've 
          been contemplating suicide
          But it really doesn't suit my style
          So I guess I'll just act bored instead
          Who can take the blood I would've shed 
        und 
          doch versuche ich, während ich beobachte, wie die Amanogarnelen 
          unermüdlich die mit hellgrünen Haargras bedeckte Lichtung 
          abweiden, mir jenen Zeitraum vorzustellen, nachdem man den Giftcocktail 
          getrunken hat. "Drink it down in one", würde jemand 
          aus dem blauen Blechgebäude zu mir sagen 
 dann 
 würde 
          ich versuchen, mich zu erinnern, welche Farbe das Getränk gehabt 
          hatte - meine Lieblingsfarbe, bestimmt! Würde ich es merken, dass 
          es Gift war, das ich getrunken habe? Zumindest würde ich im Magen 
          einen stechenden Schmerz spüren und ich wüsste dann, dass 
          ich in Kürze sterben werde. Keine Angst vor dem Ersticken. Glücklicherweise 
          falle man vorher noch in eine Ohnmacht, klärt man mich auf. Verzerrte 
          Bilder, trotz aller Lebenserfahrung. Nichts mehr zu spüren! Dann 
          aber doch, kurzzeitig, die Simulation des Gefühls, im heißen 
          Sand zu liegen und tausende von Heuschrecken über den Körper 
          hinweg, sich an dessen Fleisch heranmachend (obwohl Pflanzenfresser). 
          Solange man den Schmerz spürt, ist man lebendig. Ganz still, die 
          Hände in den Schoß legen und, zuletzt, lebensmüde mit 
          den Augenliedern flattern. 
        24.05.14