Digitale 
          Reunion 
          von Jürgen Mick
        Die 
          Forschung ist schon weit gekommen. Das Genom des Menschen ist vollständig 
          entschlüsselt. Die Kognitionsforschung lokalisiert die Areale meines 
          Gehirns, die mich dies hier schreiben lassen, eben während ich 
          dies schreibe. Und die Forschung geht weiter. 
          Die digitale Revolution und die Nanotechnologie werden nicht aufhören 
          in meinen Körper zu dringen. Die Folge wird sein, Implantate werden 
          meinen Körper überschwemmen. 
          Nächste Woche habe ich meinen ersten Termin. Ein kleiner Eingriff, 
          Dank bester Nanotechnologie. Meine Hirnschale wird nicht einmal geöffnet 
          werden müssen. Unsichtbare Nanorobots werden über die natürlichen 
          Körperöffnungen eingeschleust. Selbstständig werden sie 
          die ihnen angewiesenen Gehirnareale erreichen und dort die operativen 
          Eingriffe erledigen. Man hat mir gesagt, meine Nervenstränge lassen 
          sich problemlos anzapfen. Welches Glück, so wird es bald möglich 
          sein meinen Geist unmittelbar anzusteuern. Über die natürlichen 
          Synapsen sollen Signale dann eingespeist werden und sich in die Reihe 
          der körpereigenen digital bits einreihen. Ob ich Phantomschmerzen 
          verspüren werde? Man hat mich beruhigt. Der Chirurg wird sie auf 
          seinem Monitor mitlesen könne. Falls sie auftreten werden geeignete 
          Programmierungen die Schmerzreize überlagern und aufheben. Das 
          wird dann insgesamt in Zukunft die beste Möglichkeit der Schmerzlinderung 
          für mich sein.
          Gefühle oder Reizmuster, das ist hier die Frage? Was unsere Sprache 
          nicht vermag wird im direkten Zugriff auf den körpereigenen binary 
          code endlich möglich. Wir reden endlich nicht mehr in nebulösen 
          Begrifflichkeiten, wie zum Beispiel vom "sauren" Geschmack 
          eines Apfels. Nein, jeder wird diese Reizung dann zeitgleich mitfühlen 
          können, wenn er sich denn bei mir einloggt. Das Neuro-Network-Implantat, 
          kurz "NNI" genannt, wird immer online sein, und unsere leidigen 
          Prothesen können wir endlich auf den Müll schmeißen, 
          wie ein Lahmer seine Krücken. Monströse Computer und Bildschirme 
          wird nur noch der benötige, dem der Zugang über ein NNI vorenthalten 
          bleibt. Den Teilnehmern am "transnet" stehen die gewünschten 
          Sites und auch die Verbindungen zu allen Teilnehmern auf "Wunsch" 
          - im wörtlichen Sinne - zur Verfügung. Der Wunsch wird in 
          diesem Fall zeitgleich zum Befehl. Neuronale Reize werden simuliert 
          und evoziert unabhängig von materialen Bedingungen. Die Welt ist 
          dann alles was virtuell ist. 
        Kürzlich 
          habe ich gelesen, dass unser sogenannter freie Wille auf einer Illusion 
          neuronaler Verschaltungen beruht. Man hat heraus gefunden, meine persönlichen 
          Entscheidungen sind schon in meinem Gehirn gefallen, bevor ich den bewussten 
          Eindruck einer Entscheidung bekomme. Meine Entscheidungen sind quasi 
          nachträgliche Meldungen, über Steuerungsprozesse damit auch 
          mein Ich, das heißt mein Selbstbewusstessein, informiert ist. 
          Nachrichtlich, quasi. Um dennoch meinen Willen als Gegenwart zu erleben, 
          werden externe Eindrücke verzögert und in einem Drei-Sekunden-Fenster 
          fixiert, das das Ich als Gegenwart zu bezeichnen pflegt, und in dem 
          dann meine Entscheidungen gegenwärtig werden. Immerhin wird das 
          Dilemma so schnell vertuscht, dass meinem Ich der Eindruck von Entscheidungsfreiheit 
          bestehen bleibt, selbst wenn ich davon weiß. Ein Taschenspielertrick 
          der Natur. Es funktioniert zwar offensichtlich in den meisten Fällen, 
          aber ich finde dennoch darin verbergen sich unheimliche Gefahren. Was, 
          wenn ich schon beschlossen habe mich umzubringen ohne davon zu wissen? 
          Dann kann ich mich nur noch vergessen. Kein Ausweg! Nicht herauszudenken! 
          
          Immerhin bleibt mir die Illusion es wären meine Gedanken, die mich 
          das hier schreiben lassen. Oder bin ich degradiert zum Abschreiber der 
          Gedanken meines Gehirns. Wem gehören meine Gedanken? Mir fehlen 
          raffinierter Weise die Möglichkeiten, das alles zu beenden. Ich 
          kann das Ende meines Bewusstseins nicht durch Denken herbeiführen. 
          Mein Denken beruht auf der Tatsache, dass das Denken über jeglichen 
          Gedanken hinaus immer weiterdenkt.
          Dennoch meine Sorge bleibt. Wie kann ich vermeiden, dass mein neuronaler 
          Zellenhaufen beschließt, dass ich mich umbringen werde? Die Reize 
          müssten strenger kontrolliert werden, damit ist nicht zu spaßen. 
          Man sollte Virusprogramme einschleusen, die automatisch suizidale Potenzierungen 
          abbrechen. Sobald ein Korrelationsmuster innerhalb der Verschaltungen 
          aufzukommen droht, muss ein Impuls die Muster zerstören. Alles 
          ohne mein Wissen, natürlich, das wäre ja ansonsten zu spät. 
          Es ist aber auch geradezu leichtsinnig von der Natur mein Selbstbewusstsein 
          zeitlich den Entscheidungen nachzuordnen. Vorausgesetzt Sinn existierte 
          vor allem Denken. Dennoch bin ich der Auffassung mein Gehirn sollte 
          mich wenigstens in die Entscheidung, ob ich sterben will, mit einbeziehen. 
          Die Zahl der psychogenen Sterbefälle soll höher sein, als 
          man vermutet. Kein Wunder!
          Meine ganze Hoffnung liegt auf der Forschung. Vielleicht bietet das 
          NNI in baldiger Zukunft geeignete Verhütungsmethoden, zur Zerstörung 
          von noch nicht stabilisierten Kognitionsmuster. Die Forschung macht 
          immer weitere Schritte. Ich bin zuversichtlich. Die Musterfrüherkennung 
          sollte über regelmäßige Scans kontrolliert werden. Vielleicht 
          sollte ich derartige Gedanken einmal ins Netz bringen. Ich könnte 
          mir vorstellen, da werden sich einige finden, die mitfühlen. Zugegebener 
          Maßen hat man ja schon ein Gespür für suizidale Veranlagung. 
          Man schätzt sich doch selbst immer schon als suizidgefährdet 
          ein oder nicht. Das ist selbstverständlich keine hundertprozentig 
          zuverlässige Angelegenheit. Eine Tendenz gewiss. Aber da könnten 
          verstärkte Untersuchungen und Gehirnscans einiges verhindern, wie 
          ich meine. Ja, ich bin Optimist. Morgen habe ich Termin. 
        29.03.03