Der
Widergänger
von Jürgen Mick
Seinen
Schweizer Armeerucksack hat er sich über die Schultern geworfen,
seine Hände vergraben in den Taschen des Kamelhaarmantels. Er sieht
sich scheu um, weiß, dass man ihn beobachtet, vermutet es. Das
ist eigentlich sein Metier. Die doppelt geschnürten Wanderstiefel
ziehen lange Schienen durch das morgendlich gefrorene Gras. Er wendet
sich gen Osten, wo jetzt die Sonne bereits mit den ersten Wärmestrahlen
vom Gebäude den Frost abstreift. Der Mantel birgt seinen gedrungenen
Oberkörper, wie ein Panzer. Als er das Gebäude das letzte
Mal verlassen hat, war ihm, als käme er nie wieder hierher. Das
Leben ist ihm seither nicht wohl gesonnen. Als seine Frau stirbt empfindet
er das als ungerecht; mittlerweile ist er darüber unsicher geworden.
Vielleicht ist er auch deswegen heute wieder hier. Er hält sich
von dem Strauchwerk fern, damit ihn niemand für einen Spanner hält.
Er streift dennoch mutig um das Gebäude; unnötig zu hoffen
er bliebe unbemerkt. Er beobachtet aus dem Augenwinkel, vermeidet noch
den direkten Blick in die blinden Glasscheiben. Der Morgen ist neblig,
die Fenster lassen keinen Einblick zu. Wie Brodem schlägt der Körpergeruch
des Gebäudes ihm entgegen. Er ist sich sicher er könnte das
Gebäude am Geruch erkennen. Evozierte Bilder, die sich aus der
Erinnerung mit den heutigen mischen, als liefe er endlich wieder über
den millionenfach gebohnert und gewachsten Stirnholzboden, die Kanten
der Holzklötzchen geschliffen und verkittet mit dem Wachs und dem
Filz von Jahrzehnten, beschlagnahmen blitzartig seine Realität.
Die Augen brennen vor Kälte, weil er weint, - unmöglich -
seit seiner Frau Tod nie mehr, aber vor Rührung - kann ebenfalls
nicht sein -, unvorstellbar. In einigen Zimmern flackert Neonlicht auf.
Immer wieder wendet er sich ab, tut so als ginge er geradewegs seiner
Wege, die ihn nur zufällig hierher verschlagen haben. Die Spuren
im Gras verraten ihn. Er weiß es, in solchen Dingen ist er scharfsinnig
geworden. Wer ihm im Gebäude folgen würde, auf der anderen
Seite, innerhalb des Glas- und Betonwürfels, der könnte ihm
mühelos Absicht unterstellen. Auch das wäre denkbar, zudem
nicht unwahrscheinlich, wie die Tatsache, dass er heute hier ist. Die
Neugier treibt ihn sicher nicht hierher, ihn interessiert nicht, was
hier geschieht. Auf einmal traut er sich an eine Scheibe heran zu treten,
seinen Kopf zwischen seine Hände gesteckt, ertappt er sich, wie
er in Berührung kommt mit etwas Fremdem. Er hatte in all den Jahren
das Gebäude nie von außen berührt. Jedes Bauwerk hat
schließlich vorbestimmte Anrührungspunkte, an denen man naturgemäß
Kontakt mit ihm aufzunehmen hat. Jetzt fühlte er das eisige Glas
eines beliebigen Arbeitszimmers, in dem er niemanden erblickt, das leer
ist von Leben, das ihm leblos Einblick gewährt, wie ein ausgeweidetes
Schiffsfrack. Man kann nie wissen, ob der Tod schon da war. Unverrückbare
Schemen von Alltagsmöbeln, sie könnten seit ewigen Zeiten
da drin stehen, sie stören so wenig, wie sie gebraucht werden.
Nebensächliches taucht vor allem immer dann auf, wenn es unbenützt
erscheint: Stillebeneffekt, denkt er, Huldigung des Nebensächlichen.
Allen Dingen die Anerkennung ihres Eigenwertes zu schulden, wie er gewohnt
ist, es sein Leben lang zu empfinden, erscheint ihm angesichts dieser
versunkenen Büromöblierung, der er sich gegenüber sieht,
erstmals beschämend lächerlich. Ausgeburt sentimentaler Gemütsverfassung,
der es gelingt anderes mit sich in den Sumpf zu ziehen, nichts anderes
will ihm dazu einfallen. Der Anblick der Jahrhunderte, in Grau dahin
dämmernder Kommandozentralen, lässt einzig die rhythmische
Bewegung, der sie belebenden Tiefseevegetation vermissen. Keine einzige
Luftblase kann er ausmachen, in dem toten Inneren. Er zieht seine Hände
vom frostigen Fensterglas, wendet sich im selben Moment mit einer jähen
Drehung vom Gebäude ab. Niemand kann in dem Moment mehr annehmen,
er sei zufällig hier. Das Gebäude kennt ihn und er kennt das
Gebäude und alle in ihm. Der Ort ist in diesem Moment von der Heiligkeit
eines einzigen Lebens, eine sakrale Stätte bar jeder Öffentlichkeit.
Jetzt das Weite suchen, über das unendliche Meer, gekrönt
von Raureif, hinüber zum Stadtteich, gewohntes Territorium. Vielleicht
hat ihn wirklich niemand bemerkt, nicht kommen, nicht gehen. Er selbst
vermag niemandem zu erklären, wie
wie solle denn ein Fremder
in der Lage sein seine eigentliche Motivation zu erkennen. Er geht davon
aus, dass eine Menge Augenpaare ihn beobachtet haben. Ihre Eigentümer
werden bei sich gedacht haben, es kann nicht wahr sein! Wie lange die
Frage über sein Auftauchen noch Nachhall finden würde, will
er nicht weiter erwägen. Er würde es auch nie wieder tun.
Allein der Anflug dieses Gedankens verursacht seinem überreizten
Magen Sodbrennen. Er hat aufgehört sich Fragen zu stellen; bereits
seit langer Zeit.
15.02.12