Wesentliches 
          zur kindgerechten Früherziehung 
          von Günter Schweigard
        Eine 
          monströse Limousine der Luxusklasse hält Tag für Tag, frühmorgens, vor 
          meinem Haus. Es ist nun schon zwei Monate her, seit die raubtierhafte 
          Fratze des Kühlergrills zum ersten Mal im Küchenfenster auftauchte. 
          Ich beuge mich zu Anna hinunter und gebe ihr zum Abschied ein Küsschen 
          auf die Wange. Anna geht frohgemut hinaus zum Wagen. Sie wird von Franziska, 
          der ausgebildeten Erzieherin und Kinderpsychologin, - Anna nennt sie 
          liebevoll Franzi - in den Fond des Wagens gesetzt. Kindgerecht wird 
          sie in ihren maßgefertigten Kindersitz eingelegt. Franziska bekommt 
          von Anna, als kleines Dankeschön, ein Küsschen auf die Wange. In der 
          staatlichen "Anstalt für kindgerechte Früherziehung" angekommen, wird 
          Anna die eigens für sie hergerichtete Pastille zur Förderung des inneren 
          Gleichgewichtes einzunehmen haben, - nichts Schädliches, wie man mir 
          sagte - worauf sie sich einer Messung zur Feststellung ihrer Gruppentauglichkeit 
          zu unterziehen hat; und sollte das Messgerät es zulassen, so kann sie 
          dann umgehend den Fachleuten für kindgerechte Früherziehung überlassen 
          werden, die, einem bis aufs Letzte ausgeklügelten Plan folgend, dafür 
          zu sorgen haben, dass sich Anna in der genau vorgeschriebenen Art und 
          Weise, nämlich kindgerecht, entwickelt. Anfangs wollte ich meine Zustimmung 
          zur Einnahme der Pastille auf keinen Fall geben. Erst Franziska hat 
          mich von der Notwendigkeit überzeugt. Wie Franziska mir versicherte, 
          müsse man in Annas Fall vor allem konsequent bleiben. Das sei das Wichtigste. 
          Ein schwach dosierter Seelenaufheller sei es, den Anna bekommen soll, 
          weiter nichts. "Es wird ihr helfen und Ihnen auch", hatte Franziska 
          mir gegenüber beteuert. Franziska unterrichtete vor etwa zwei Wochen 
          das Gremium der Anstalt über Annas Verhaltensstörung. Anna sei nur bedingt 
          gruppentauglich und müsse dringend einer Behandlung unterzogen werden, 
          damit sie in den Prozess der kindgerechten Früherziehung eingegliedert 
          werden könne, hieß es übereinstimmend im Gutachten des Expertengremiums. 
          Man befragte mich eingehend über familiäre Verhältnisse. Man befragte 
          mich zu Annas häuslicher Früherziehung und man stellte erhebliche Lücken 
          in der gesetzlich vorgeschriebenen Dokumentation zur Entwicklung von 
          Kleinkindern fest, die wöchentlich von einem der Elternteile auszufüllen 
          und beim "Amt für kindgerechte Frühentwicklung" abzugeben ist. Ich versuchte 
          meine lückenhafte Dokumentation dem Gremium damit zu erklären, dass 
          ich allein erziehend sei und noch dazu voll in der Erwerbsarbeit stecken 
          würde, doch zeigte man sich seitens des Gremiums unnachgiebig, und man 
          legte mir nahe, meinen erzieherischen Auftrag, für Anna, vollständig 
          abzugeben oder zumindest Franziska, die wirklich in allen Bereichen 
          der Erziehung sehr professionell zu Werke gehen würde, hauptsächliche 
          Entscheidungen, die Erziehung Annas betreffend, zu überlassen. Sollte 
          das Messgerät trotz Einnahme der Pastille über den Maximalwert ausschlagen 
          und also Annas Gruppenuntauglichkeit anzeigen, kommt Anna für den Rest 
          des Tages in Quarantäne. Nach einem Tag in Quarantäne ist Anna nach 
          ihrer Rückkehr meist sehr müde. Franziska hebt sie dann sehr sanft aus 
          dem Kindersitz - sie stellt den Motor der Limousine dabei nicht ab - 
          und trägt sie hoch in ihr Zimmer. Franziska kommt hierauf gut gelaunt 
          die Treppe herunter. "Sie schläft", sagt sie freundlich lächelnd zu 
          mir, "sie können beruhigt sein. Es ist schon ein erheblicher Fortschritt 
          bei Anna festzustellen, seit dem Beginn der Therapie." Ich solle mich 
          bloß nicht davon beunruhigen lassen, dass Anna sich nun schon seit Tagen 
          beständig weigert, sich von mir in ihr Zimmer hoch tragen zu lassen. 
          Dies sei ein völlig normaler Prozess der Abnabelung des Kindes von der 
          Mutter, der nur unwesentlich durch die Einnahme der Pastillen verstärkt 
          werden würde, erklärt mir Franziska und sie geht etwas gehetzt hinaus 
          zu ihrem Wagen. Zurückstoßend entfernt sich die raubtierhafte Fratze 
          des Kühlergrills. Franziska fährt Laura, Leni und Lotta, ebenfalls Kinder 
          aus Annas Gruppe, nachhause. Ich gehe in Annas Zimmer und gebe ihr einen 
          Gutenachtkuss. Sie spürt ihn wohl nicht. Sie schläft tief und fest. 
          Ich gehe hinunter in den Garten und schneide die Rosen. Seit Annas Geburt 
          vor drei Jahren habe ich die Rosen sträflich vernachlässigt, das merke 
          ich erst jetzt. Da sich nun Franziska so liebevoll um Anna kümmert, 
          ist alles leichter geworden, wenngleich ich zugeben muss, dass es im 
          Haus vielleicht etwas zu ruhig ist, seit Anna sich sehr viel auszuruhen 
          hat. Doch ich bin voller Zuversicht, dass sich dies nach erfolgreichem 
          Abschluss Annas kindgerechter Früherziehung wieder sehr schnell ändern 
          wird und dass ich neuerlich das nötige Vertrauensverhältnis zu ihr werde 
          aufbauen können, - jenseits jeglicher romantisierender Mutterliebe - 
          so dass es auch Anna wieder ein Bedürfnis sein wird, mir ein Küsschen 
          auf die Wange zu geben.  
        14.05.07