Öffentlichen
Raum gibt es nicht geschenkt
Diät und Kontrolle zur Freiheit
von Jürgen Mick
Die
Konkurrenz, die das Internet dem tradierten öffentlichen Stadtraum
entgegen bringt, liegt seit den Neunziger-Jahren des letzten Jahrhunderts
auf der Hand. Die Veränderungen der Innenstädte sind das eine,
die Machtverhältnisse im Cyberspace, die sich reflexartig nach
altbekannten Mustern fortsetzen, sollten andererseits nicht verwundern.
Lebensverhältnisse ändern sich nicht so rasant wie Techniken.
Es muss deshalb anstehen, einen neuen Umgang im virtuellen Öffentlichen
zu finden. Es gilt erneut zu klären, wie weit der "Öffentliche
Raum" sich in die Wohnzimmer erstrecken darf, und wer wann darüber
die Kontrolle haben soll. Es muss offengelegt werden, wer die politischen
Fäden im Ernstfall ziehen darf. Hat es doch zu allem Übel
den Anschein (und das ist vielleicht die größte Revolution),
dass es gar nicht mehr ausschließlich die politisch kontrollierte
Macht ist. Das Gewaltmonopol also nicht unbedingt bei den Nationalstaaten
liegt. Als Alternativen drängen sich Firmen, Konzerne, Globalplayer
und Geheimdienste auf. Das vergegenwärtigt auf drastische Weise:
Bürger und ihre Vertreter sitzen auf einmal im selben Boot! (Die
beiderseits, ratlosen Minen scheinen bester Beleg dafür.) Wer hat
Macht über wen? Eine neue zivilisatorische Vereinbarung steht an,
und die erneute Variation im Habitus jedes Einzelnen. Wenn das Internet
eine Form des Öffentlichen Raums ist, dann haben wir noch nicht
gelernt uns entsprechend zu benehmen. Respekt, Distanz, Vertrauen, Anstand,
Reflexivität, Vorsicht des Handelns u.v.m. will uns abverlangt
sein.(1) Eine Diät und die Kontrolle zur Freiheit
müssen als eine bilaterale Angelegenheit angelegt sein. Die Option
zur Machtergreifung muss in die Hände derjenigen gelegt werden,
die sich bereit erklären sie nicht anzuwenden. Dazu wird vieles
erprobt werden, und nur manches sich erfolgreich erweisen, um der Zumutung
des öffentlichen Virtuellen gerecht zu werden. Öffentlicher
Raum wird einem nicht geschenkt!
Können
wir aus dem "Big Data"-Skandal lernen? - Wie wäre es
damit: Das Internet ist ein öffentlicher "Raum"!? Über
den Begriff Raum ließe sich tunlichst streiten, aber zumindest
öffentlicher, als die meisten gedacht haben, ist das Internet.
Erst einmal ist das Netz für jeden zugänglich. Zum zweiten
kann jederzeit - wie wir gelernt haben sollten - auch über den
"virtuellen Raum" Kontrolle erlangt werden. Und das ist eben
von vielen Seiten möglich, sei es durch einen Nationalstaat, einen
Geheimdienst oder ein Wirtschaftsunternehmen oder einer Kooperation
aus mehreren Akteuren. Die digitalisierte Datenwelt provoziert zur Machtergreifung,
Vorherrschaft und Ausbeutung, wie jedes neuartige, zu erschließende
Terrain will auch der Cyberspace kartographiert, die Claims ausgesteckt,
die Deutungshoheit ausgewiesen sein, analog zu allen vorangegangenen
lebensweltlichen Erschließungen. In historischer Abfolge kann
man kurz umreißen, das Internet war zuerst die Terra Incognita,
dann der Wilde Westen, mutierte zum El Dorado und mit
dem Moment da alle Nachzügler angekommen sind, verleitet es zur
Manipulation der Masse. Grundsätzlich herrscht in einem leeren
Raum selten lange die Anarchie. Die Macht saugt es in jedes Vakuum.
Begleitend hat man die Netiquette entwickelt, zu Scham und Misstrauen
aufgefordert, zur Vorsicht bei der Erziehungsarbeit gemahnt und ganz
allgemein an den gesunden Menschenverstand appelliert. Die Privatisierung
des Internet-Contents durch schonungslose Offenbarung intimster Details
ist seit den Anfängen anstößig und, oder gar mit Selbstzensur
belegt. Das wandeln durch den Cyberspace ist alltäglicher als der
Gang zum Friseur. Wir befinden uns öfter im Datenfluss als auf
der Straße. Und es erlegt uns zwangsläufig neue Verhaltensformen
auf: Verhaltensformen der Kommunikation. Der aktuelle Umgang mit unseren
Bio-Daten ist doch erstaunlich, angesichts der gesellschaftlcihen Übereinkunft
einer ärztlichen Schweigepflicht.
Der
Streit um das Maß der Veräußerung von Daten jedes Einzelnen
und seiner Intimitäten ist nicht allein aus der Opposition von
Konservativen (Technik-Skeptizisten und Kultur-Pessimisten) versus Progressiven
(Opportunisten und Zukunfts-Optimisten) zurückzustutzen. Die Mechanismen
zeigen sich nämlich vor allem bereits bei Bevölkerungsgruppen,
denen eine derartige Begrifflichkeit und Differenzierung vollkommen
unbekannt ist, die sich in einem instinktiven Entscheidungsprozess hinreißen
lassen, sich beobachten zu lassen, und sich hemmungslos als Datenpaket
selbst zu versenden: Die Digital Natives. Die Bereitschaft zur Durchleuchtung
und Registrierung, die bereitwillige Annahme der Beobachtung ist Äußerung
des zum festen Bedürfnis gewordenen Beobachtetwerdens. Die eigene
Veräußerung ist zur Stabilisierungspraxis in der Akzeptanz
durch die Gesellschaft geworden. Die Selbstversicherung erfolgt heute
permanent über den Umweg der Gesellschaft.
Die Gesellschaft basiert schließlich auf dem unit act der
gegenseitigen Beobachtung. Seit der Industrialisierung sind wir damit
befasst, uns in Form eines Marktwertes bepreisen zu lassen. In Form
von Arbeitskraft oder in direktem Marktwert eines Prominenten, eines
Stars, eines Sportlers, einer Prostituierten und eines Künstlers.
Die Evaluation und der Äquivalententausch machen vor unserer Person
nicht halt, sondern sie sind ihr Ziel. Der Anspruch liegt im Austausch
gegenseitiger Wertigkeit von gesellschaftlicher Verbrauchbarkeit. Das
gegenseitige Beobachten ist mit der industriellen Möglichkeiten
massenhafter Warenproduktion überführt worden in ein Evaluierungsverfahren,
das sich über Märkte orientiert.(2)
Wir führen im Internet fort, wofür wir lange Zeit den physischen
Öffentlichen Raum benötigten. Wie jedes Tauschgeschäft
gelingt im Zeitalter des Digitalen der Austausch der Personen(-Daten)
im Internet am einfachsten. (Das Gesetz lautet: Alles, was sich digitalisieren
lässt, wird digitalisiert werden! Es geht uns selbst betreffend
allerdings weniger darum, was wir von uns alles in binäre Codes
verpacken können, sondern vielmehr darum, dass wir uneingeschränkt
bereit sind, uns auf noch so unterkomplexe Datenpakete reduzieren zu
lassen. Evtl. um uns selbst besser in den Griff zu haben.) Der Austausch
persönlicher Daten ist eine wesentlich effizientere und umfassendere
Methode der Evaluierung, als der prüfende Blick auf der Straße.
Auch jedem Bewerbungsgespräch geht eine Suchanfrage via Netz voran.
Die Aufmerksamkeitsverteilung kann wesentlich schneller und eruptiver
fluktuieren. Man kann Aufmerksamkeit generieren und seinen Körper
dennoch zuhause lassen. Während die Schauspielerin noch über
den roten Teppich schreitet, verbleibt das Intimste des Videostars verborgen
an unbekanntem Ort.
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit ist in der Dialektik des Analogen
an den Raum gebunden. Objekte, die jedermann zugänglich sind, sind
Objekte der Öffentlichkeit. Objekte, die beobachtet werden können
und auch beobachtet werden sollen. Eine zweiseitige Prämisse muss
erfüllt sein: Erstens müssen öffentliche Objekte so platziert
sein, dass sie zugänglich sind. Zweitens muss jedem der Zugang
zu dem Ausstellungsort nicht nur theoretisch, sondern physisch praktisch
möglich sein. Der wesentliche Unterscheid im virtuellen Medium
ist die Maske der Screens. Die Unentdeckbarkeit (für den gewöhnlichen
User) gibt vermeintlich Sicherheit. Hier sind wir dem Barock ganz nahe.
Erst die Maske bereitet den Weg zur Veräußerung innerer Gefühlswelten.
Durch die äußerliche Vereinheitlichung des barocken Mummenschanzes
wird das individuelle Private dahinter in Kontrast drastischer erlebbar.
So gibt sich das Virtuelle als die potentielle Veräußerung
des Intimen zu erkennen. So ist der "User" eine Figur,
die uns heute allen Tarnung andient und uns gleichmacht. Wie den Städter
auf den Straßen des ancien regime und des 19. Jahrhunderts,
als man dazu überging graue Einheitskleidung zu bevorzugen, um
nicht aus dem Rahmen zu fallen. Hinter Maske und Camouflage entdecken
wir unsere andere Seite als Verlassenheit umso deutlicher. Was wir hautnah
zu spüren bekommen, ist die andere Seite der Gesellschaft, sie
sitzt oder liegt jenseits der screens, auf dem Bett oder dem
Bürostuhl. Als exkludierte Körper bemerken wir uns dann als
biologische Fehlkonstruktion, als Mängelwesen zumeist. An denen
wir gerne Verbesserungen vornehmen dürfen. Enhancement steht an.
An
alle User wendet sich Clay Johnson schon jetzt mit einem Warnhinweis:
"Die Folgen einer schlechten Informationsdiät äußern
sich nicht im Cholesterinspiegel, sondern in kognitiven Effekten wie
Anspannung, Stress, Gedächtnisverlust - oder in der Praxis in Ignoranz.
Genauso wie wir bestimmte Nahrungsmittel wie Fett, Salz, Zucker lieben,
so reagieren wir auch auf bestimmte Informationsreize positiv. Zustimmung
beispielsweise. Menschen gewöhnen sich an salziges Fastfood, aber
auch an Informationen, die sie in ihrem Glauben bestätigen."
Clay verordnet eine Diät: "... praktisch erfordert das
aber eine neue Definition von Bildung. Wenn sich unsere Gesellschaft
im Informationszeitalter weiterentwickeln soll, bedeutet Alphabetisierung
nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch die Fähigkeit zur bewussten
Informationsverarbeitung. Wer in 50 Jahren die Welt der digital vernetzten
Computer nicht versteht und sich in ihr orientieren kann, wird als Analphabet
gelten. Ich sehe die Gefahr, dass wir weite Teile der Gesellschaft zurücklassen,
wenn wir das nicht als grundsätzlichen Bildungsauftrag identifizieren."(3)
Was er beschreibt, ist nichts anderes, als das Suchtpotential eines
neuartigen gesellschaftlichen Vehikels zur Evaluierung unserer Person,
dem ein neu zu erlernendes Verhalten in einem öffentlichen Kontext
Not tut. Weil wir andernfalls leiden werden an den Nebenfolgen: An dem
uns verbliebenen Selbst. Das sich uns immer unerbittlicher aufdrängt.
Die
Gefahr ist aber prompt schon thematisiert, vom Medium selbst: Eine immer
schnellere lückenlose Übereignung unserer persönlichen,
nun auch physischen Daten, will uns beistehen unser Selbst zu überwinden.
Logischerweise kann allein die Überführung der Körper
in Daten eine Fortentwicklung bedeuten, hin zu einem restlos inkludierten
Individuum. Die Funktionssysteme der Medizin, der Erziehung und des
Sports drängen auf Vollinklusion. Die Überführung des
Körpers in die Kommunikation steht in Aussicht. Dafür muss
garantiert werden, dass alle Versorgungsprobleme gelöst werden.
Man arbeitet unter Hochdruck daran. (Google, Apple, Amazon,
Facebook, Alibaba, Netflix, NSA, GHCQ,
BND um nur die bekanntesten zu nennen.) Es verfügt mittlerweile
der größte Teil der Menschheit über einen Zugang zum
Internet, zumindest wird aktuell jede Anstrengung unternommen, über
kurz oder lang dies zu garantieren. Zu diesem Zweck testet Google
zurzeit über bislang unzugänglichen Gegenden unseres Planeten
mittels Ballonen die letzten Knoten ins weltweite Netz zu knüpfen.
Die vollständige, lückenlose Registrierung ist das erklärte
Ziel, und, wie allseits bestätigt wird, die einzige Möglichkeit,
wie irgendwann die intelligenten Versorgungssysteme funktionieren können.
Wir
sollten dabei im Auge behalten und davon ausgehen, dass all die Dinge,
die dort geschehen, und die Daten die man hier aufsammelt so öffentlich
sind, als passierten sie auf offener Straße. Einer Straße,
auf der sich eine Weltöffentlichkeit zeigt und beobachtet. War
einst der Raum das Medium der Öffentlichkeit, so sind es jetzt
die Server, die wir das Netz nennen. Das Netz ist kein dialogisches
Medium. Auch wenn es sich hartnäckig darin versucht, sich diesen
Anschein zu geben. Der Adressat aller Netzkommunikation ist eine virtuelle
Gesamtheit, die einer Cyber-Öffentlichkeit. Das Motto lautet per
definitionem: Alle lesen! Und am besten potente Organisationen. Die
E-Mail ist die Postkarte des Cyberspace. Sie wird symptomatischer Weise
schon jetzt zum obsoleten Medium. Soziale Netzwerke, Blogs und Kommentarplattformen
sind ihre Nachfolger und darauf angelegt follower & friends
zu generieren. (Auch diese Begriffe bedürfen einer Entschlüsselung
und der Entkopplung von ihrer etymologischen Herkunft) Wie im physischen
Öffentlichen Raum, stehen unzählige Adressaten einer
schier unerschöpflichen Aufmerksamkeitskapazität zur Verfügung.
Die Masse steht allzeit bereit.
Wie
auch der Beobachtete nicht alle seine Beobachter kennen kann, kann der
Beobachter nicht alles im Blick haben. Man kann sich passiv durchs Netz
zappen ohne eine Kommunikation anzuzetteln, man kann jederzeit auf sich
aufmerksam machen, oder man kann es beim Beobachten belassen. Allerdings
"anwesend" ist man dennoch immer. All dies liegt im Bereich
des Möglichen all derer, die das Netz nutzen. Das erinnert nicht
nur entfernt an die Bewegung in einem urbanen Kontext. Wir sehen uns
in dieser Analogie einem Medium ausgesetzt, das damit unerfahrene Menschen
mit Sicherheit genauso in Konzentration, Aufmerksamkeit und Kontrolle
beansprucht, wie der Eintritt ruraler Bevölkerungen in urbane Lebensverhältnisse.
Die "Erfindung" des Öffentlichen Raums verlangte
den Menschen unvermittelt einen neuen Habitus ab. Eine verfeinerte,
sensibilisierte Umgangsweise musste erprobt, erlernt und etabliert werden.
Weil es deutlich wurde, dass es einer Zumutung gleichkommt, wenn man
im öffentlichen Raum all die Dinge tut, die man persönlich
für wichtig oder auch unwichtig hält. Man musste den Spieß
umdrehen. Man erklärte alles, was im öffentlichen Raum geschieht,
als grundsätzlich für die Augen des anderen bestimmt! In der
Folge sollten alle dort nur tun, was dieser Zumutung gerecht werden
kann. Dies könnte man den Imperativ des Öffentlichen
bezeichnen. Man lernte unter dieser Prämisse vor allem das Wegsehen!
Aber auch das Sich-bedeckt-halten. Ebenso könnte es ein neues Bewusstsein
wecken, wenn man den Datenfluss im Netz als grundsätzlich für
alle bestimmt einordnen würde.
Selbstbeschränkende Macht
An dieser Stelle interessieren im Moment vor allem die vorherrschenden
Machtverhältnisse. Dabei bemerkenswert - im historischen Rückblick-,
dass sich im Idealfall dem Imperativ des Öffentlichen tatsächlich
sowohl "Untertanen", als auch die "Mächtige"
unterwarfen. Die Macht "erlernte" das "Absehen",
spätestens als sie begriff, dass Freiheit (der Untertanen) produktiv
sein wird und jede Gesellschaft befördert. Auch wenn potentiell
"die Macht" jederzeit das "Hausrecht" über
den Öffentlichen Raum inne hielt und behaupten kann, steht zuerst
der Öffentliche Raum in der Absicht der Freiheit jedermann
zur Verfügung. Alles dies ist mit dem Aufkommen des Öffentlichen
in den Anfängen der Urbanisierung probiert und etabliert worden.
Man
hat im Netz zu entscheiden, was man veröffentlicht, ein Recht darauf,
nur das zu zeigen, was man will, ebenso wie eine Pflicht, nur das zu
zeigen, was gesehen werden soll. Mit dem jüngst juristisch eingeforderten
"Recht auf Vergessen" ist beispielhaft eines der jüngsten
Gerichtsurteile der öffentlichen Form des Netzes gerecht geworden.
Vorsicht ist deshalb immer geboten, weil auch der Cyberspace als ein
"neuer Raum", ebenso zwanghaft unter Kontrolle gebracht werden
will, wie jeder andere Flecken in unserem Universum. Öffentlicher
Raum ist per definitionem machtfreier Raum, wenn auch nur in
geliehener Form oder temporär. Aber keineswegs a priori
gegeben; sondern gleichsam hinein geschlagen in den Dschungel von Machtverhältnissen.
Als eines der Urtraumata kann das Drama vom 4. Juni.1989 am Tiananmen-Platz
in Peking bezeichnet werden. Es ist ein derart kräftiges Exempel,
weil es bezeugt, dass die gewaltsame Machtergreifung über einen
Öffentlichen Raum sogar in einer ausgewiesenen Diktatur, einen
nicht hinzunehmendem Tabubruch bedeutet. Ein derartiges Verständnis
muss entsprechend für den Cyberspace noch entwickelt werden. Vielleicht
ist das Bewusstwerden von "Big Data" eine ebensolche Chance
einzusehen, wie kostbar die Errungenschaft des Öffentlichen
Raums im Netz für unsere Freiheit ist. Wenn uns nicht vorher
das Gespür dafür verloren geht, wie fragil die erteilte "Erlaubnis"
zu offen gelebter Kommunikation ist. Die Bilder von den Plätzen
dieser Welt zeigen uns täglich verschrobene Verhältnisse dieses
Gleichgewichtes und belegen gleichzeitig, dass Freiheit zwar als ein
Grundrecht definiert ist, in Räumen, die man jederzeit als rechtsfrei
deklarieren kann, aber nicht unbedingt realisiert wird. Für den
Rechtsstaat kämpfen derzeit viele Menschen auf den Straßen
und Plätzen ihrer Städte.
Die
Art der Restriktionen politischer Macht bestimmt die Freiheitsgrade
der Bevölkerung. Ein politisches System definiert sich über
die Option zur Kontrolle der Macht. Wir verfolgen es täglich in
aller Welt, wenn in Städten die Straßen und Plätze von
Ordnungskräften und Staatstreitmächten geräumt werden.
Wenn Wasserwerfer und berittene Polizisten zwischen Demonstranten ihre
Schneisen pflügen. Nur die Option zum Ergreifen der Kontrolle nicht
auszuüben, signalisiert wirkliche Macht und sichert gleichzeitig
Freiheit. Man beobachtet aus genau diesem Grunde, wie vor allem in Fällen
des Schwindens von Macht reflexartig mit der Verschärfung der Kontrolle
des Öffentlichen reagiert wird. Voraus geht der Versuch der Manipulation
der öffentlichen Meinung, die Besetzung von Radio- und Fernsehstationen,
neuerdings die Zensur und das Hacken von Servern. Der Zugriff auf die
öffentlichen Plätze ist dann der letzte Prankenhieb der Mächtigen,
die ihr Ende kommen sehen. Ein Öffentlicher Raum ist eine fragile
Angelegenheit.
Es
sei ein Irrtum, sagt der Politikberater Simon Anholt, dass das Internet
als freier Kommunikationsraum automatisch zu mehr Freiheit führe:
"Weil es frei ist, ist es eben nicht immun gegen Manipulation."(4)
Oder umgekehrt: Weil es Manipulationen offen steht, zeigt es an, dass
es prinzipiell frei ist von Herrschaft, also Qualitäten einer Öffentlichkeit
aufweist. Es war jedenfalls eine naive Annahme, wenn je jemand geglaubt
hat, das Internet wäre ein freier und gleichzeitig privater Raum
für alle. Das wäre so kindisch, als hätte man geglaubt,
der Wilde Westen wäre die manifestierte Freiheit auf Erden.
Es war nur temporär spärlich besiedeltes Terrain, in dem sich
Desperados austoben durften und jeweils nur der schnellere und der stärkere
von ihnen überlebte. Im Wesentlichen war es ein rechtsfreier Raum,
der kurzzeitig zum Missbrauch einlud, was sich äußerst blutig
zurechtrückte.
Zu glauben, dass man in den öffentlichen Datenverkehr private Tunnel
graben könne, die gewappnet seien gegen Veröffentlichung,
ist und war nicht mehr als Gutgläubigkeit in wohlmeinenden Zeiten
der Expansion und des Aufbaus. El Dorado ist ein Phantom. Über
jeden Raum müssen die Beherrschungsverhältnisse verhandelt
werden.
Man
spricht auch im Netz von "Geheimtüren" und "Losungen"
und begreift erst jetzt, dass es hier gilt Besitzstand und Machtverhältnisse
zu sichern und zu ordnen. Das erinnert an die Geheimtüren der Geschichte.
Die versteckten Schlupflöcher und Gänge, die den Mächtigen
im Ernstfall das Leben und ihre Macht retten sollten. Für den Fall,
dass die öffentliche Stimmung auf dem Platz vor dem Palazzo kippte
und ihm der Fluchtweg abgeschnitten wäre. Ebenso wenig kennt man
einen wirklich öffentlichen Raum unter diktatorischen Machtverhältnissen,
der diesen Namen verdiente. Dort gehören die Zensur und die Kontrolle
über "öffentliche Räume" zum Werkzeugkasten
des Regimes (siehe Tiananmen-Platz). Die Macht und der freie Öffentliche
Raum stehen in einem paradoxen Verhältnis der freiwilligen
Nicht-Kontrolle, das man unter dem Paradox von der "Kontrolle
zur Freiheit" verbuchen muss.
17.09.2014