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»Transcity« - Stadt als Inklusionszone
Urbanisierung als Eintritt in die Gesellschaft

von Jürgen Mick

Die Urbanisierung von Lebensweisen ist stets mit der Überwindung von Schwellen verknüpft. Sie verläuft nie kontinuierlich, sondern immer sprunghaft. Vom Land in die Stadt bedeutet für die Betroffenen einen Paradigmenwechsel und eine Steigerung von Inklusionsverhältnissen, insbesondere in Bezug auf die moderne, funktionsdifferenzierte Gesellschaft.

Illegalität ist aller Anfang
Der erste entscheidende Schritt in die Inklusionszone der Gesellschaft geschieht noch heute über schlichte Anwesenheit. In der Interaktion ereignet sich die basale, jedermann zugängliche Form der ersten Teilhabe an Kommunikationszusammenhängen. Anwesenheit provoziert sozusagen Inklusion. Wir erleben es nicht zuletzt in den täglichen Flüchtlingsdramen an Europas Küsten. Hier tritt besonders deutlich zutage, dass am Anfang der Überwindung gesellschaftlicher Schwellen die Querung physischer Grenzen steht und damit oftmals die Illegalität. Der Eintritt der Betroffenen erfolgt über die "Qualifizierung" als "illegale Einwanderer". So zynisch es klingt wird ihre Registrierung als "Illegale" meist zu ihrem ersten "Kontakt" mit der funktionsdifferenzierten Gesellschaft. Dafür riskieren sie ihr Leben. Deshalb ist es ihnen auch egal, in welchem Zustand sie der Lichtkegel der europäischen Suchscheinwerfer erfasst. Einmal erkannt, besteht Hoffnung. Und die Küsten sind hier nur Ausläufer eines durch und durch urbanisierten Kontinents, an dessen Horizont die Kristallisationsherde in Form von Großstädten flackern.

Der kanadisch-britische Journalist Doug Sanders hat in einer brillanten und ausführlichen Recherche das Phänomen des Ankommens in urbanen Randzonen beschrieben. Einer Bewegung, die oftmals ein Ausmaß erreicht, dass er von der Existenz sogenannter "Arrival Cities" spricht. Die informellen Randzonen der Großstädte sind das Ziel einer in prekäre Verhältnisse abgedrifteten Landbevölkerung. Hierbei handelt es sich um einen nicht länger zu übersehenden Teil der Menschheit, dem es nicht länger gelingen will, von den Früchten des Bodens zu leben, wie es ihre Vorfahren immer gewohnt waren zu tun. In ihrer Not fällt ihr Augenmerk immer auf die nächstgelegene großen Stadt. Nichts verheißt ihnen so große Hoffnung, wie die Aussicht irgendwann in der Stadt "anzukommen". Für die Flüchtlinge sind die Randzonen der Megacities die denkbar erwartungsreichste Anlaufstelle. Dafür nimmt man nahezu alles in Kauf.

Im besten Falle ereignet sich das Ankommen selbst möglichst unauffällig, daher vorwiegend bei Nacht. Wie sie sich ansiedeln und wie sie sukzessive Vorrücken, soll vorerst einmal unbemerkt bleiben. Zuerst stößt ein Mitglied der Familie in die urbane Zone vor, welches im Falle des Gelingens später seine Angehörigen nachholt. Zu erkennen will man sich erst geben, wenn man mit den nötigen gesellschaftlichen Medien aufwarten kann. Das heißt in der Regel mit dem ersten Geld. Die Menge der Ankömmlinge allerdings lässt Unauffälligkeit bald nicht mehr zu. Sanders verfolgte die Mechanismen und die Abfolge der Migrationsbewegungen vom Land in die Stadt und er zeigt, wie sie sich weltweit ähneln. Bei der Landbevölkerung wächst die Not bis der pure Wille zum Überleben sie nicht davor abschrecken kann unbekanntes Terrain regelrecht zu erobern. Selbst wenn sie sich dadurch in illegale Lebensumstände zu begeben.

"Gecenkodus" heißt die Ankunftsstadt Istanbuls. Ihre Entstehung ist beispielhaft für viele ihrer Art weltweit. (Sanders, 265ff) Über Nacht werden auf fremdem Land einfache Hütten errichtet und die Behörden und Anwohner vor vollendete Tatsachen gestellt. Jede Nacht kommen dann neue hinzu und die ersteren werden wiederum über Nacht zu Häusern ausgebaut. Es entsteht in kürzester Zeit eine informelle Siedlung, die auf keiner Stadtkarte verzeichnet ist. Durch diese handstreichartige Taktik wird die bestehende "etablierte" Stadt schlagartig mit der Anwesenheit von Migranten konfrontiert. Dem ersten Ansturm folgen über Wochen und Monate auf eben dieselbe unkonventionelle Art Tausende Landbewohner in den Einzugsbereich Istanbuls. Dort bringt ausschließlich ihr Erfindungsreichtum und ihr Unternehmergeist ihnen ihr erstes Geld ein. Nicht zu unterschätzen ist die Inventionsleistung, die sie dabei an den Tag legen. Sie besetzen gewerbliche Nischen und erfinden neue Märkte. Sie müssen unkonventionell operieren, da sie ein Schattendasein fristen und noch nach dem Zipfel, der den Zugang zu den Systemen der Gesellschaft bedeuten könnte, fahnden.

Die Reaktionen der Ansässigen kann einigermaßen erstaunen. Trotz ungeklärter Grundeigentumsverhältnisse legt die Stadt eine "inkonsequente" juristische Verfolgung an den Tag und reagiert verhältnismäßig "tolerant". In diesem juristischen Graubereich werden durch Toleranz Erfolge verbuchbar. Zwar kann es Generationen in Anspruch nehmen, bis eine Familie sämtliche Mitglieder in die urbanen Zonen nachgeholt hat, dennoch wird die Ausdauer der Hartnäckigen meist belohnt. Nicht selten werden die illegalen Siedlungen über kurz oder lang als neue Stadtviertel formal integriert. Die ehemaligen "Flüchtlinge" werden auf diese Weise zu Einwohnern. Was die Migranten mit ihrem Vorgehen, illegale Hütten und Favelas zu bauen, in erster Linie bezwecken ist ihr unerwartetes, plötzliches physische "Auftauchen" in einem funktionierenden Stadtkosmos und damit in den Funktionssystemen der Gesellschaft. Sie wissen nur zu gut, dass es nur über den Gelderwerb irgendwann gelingen wird, ihre Familie in den urbanen Kontext zu implementieren; ihnen eine Gesundheitsabsicherung und eine Aufenthaltsgenehmigung zu erarbeiten. Mit dem Eindringen in die Stadt erscheinen sie zuerst als "Delinquenten". Was sie stoisch über sich ergehen lassen. Das erste Mal im Lichtkegel des Rechtssystem angekommen erkennen sie sich als wahrgenommen. Es scheint die ungewollte Illegalität wert zu sein für ein Wahrgenommenwerden in der Gesellschaft.

Man kann die verhaltenen Reaktionen auf dieses Eindringen dahingehend interpretieren, dass niemandem daran gelegen zu sein scheint mit aller Härte vorzugehen und rigoros die Grenzen der Gesellschaft abzudichten. Der Eindruck stellt sich ein, als achte man darauf die Schwellen der Funktionssysteme semipermeabel zu halten.

Sanders zeigt, man vertreibt die Neuankömmlinge nur in den seltensten Fällen auf physischem Wege. Ehe man Gewalt einsetzt beschäftigt man sich mit den Menschen und mit den zu Gebote stehenden Operationsmöglichkeiten der Gesellschaft. Somit werden sie zuerst illegales Mitglied und erdulden den Zustand in der Hoffnung irgendwann auf die juristisch legale Seite zu gelangen. Die Ankunftsstädte sind für eine hohe Zahl von Familien auf dem Land, denen zunehmend die Existenzgrundlage entzogen ist, die letzte Hoffnung. Und man muss es erfreulich nennen, wenn man sie als Mitgesellschafter behandelt. Anderes könnte man nur behaupten, wenn man sie mit Bulldozern vertriebe, also mit physischer Gewalt auf ihr Eindringen reagierte. Dies käme der hermetischen Verschließung gesellschaftlicher Grenzen und der Zementierung von Exklusion gleich. Die harte Linie einer überwachten und rigorosen Grenze, wie beispielsweise Frontex beauftragt ist sie rund um Europa zu errichten, wäre ein Exempel für eine physische Reaktion die Inklusion in aussichtlose Ferne rückt.

Im Falle von "illegalen" Ankunftsstädten müssen sich die Funktionssysteme des Rechts, der Wirtschaft und der Erziehung und einige mehr mit den Ankömmlingen befassen. In einer Gesellschaft, die auf Kommunikationssystemen beruht, ist Anwesenheit ein unhintergehbarer Sachverhalt. (Nur wer auf Lampedusa gestrandet ist, den kann man nicht mehr "einfach" verschweigen.) Die Akteure der Ankunftsstädte wechseln auf Grund der Tatsache einer weichen, semipermeablen Grenze (der Stadt) von der Exklusionsseite auf die Inklusionsseite. Sobald man auf sie kommunikativ reagiert, ihre Anwesenheit zur Kenntnis nimmt, sie publik macht und darauf verzichtet mit Gewalt auf sie zu reagieren, ermöglicht man ihnen Eintritt zu erlangen in das System der Funktionssysteme, oder anders ausgedrückt, überhaupt einmal Anteilseigner der Gesellschaft zu werden.

Der physische Eintritt in die Gesellschaft
Dass der Weg über physische Präsenz führt, ist die Eigenart jeder Form der Migration aus Not. Die Schwelle ist für Individuen, die über kein Bankkonto, keinen Ausweis und kein Geld verfügen, letztlich nur zu überwinden durch ihre physische Interaktion. Sie werden durch (ungefragte) Teilnahme an der Kommunikation inkludiert, "selbst wenn es in Form der Exklusion aus den Funktionssystemen geschieht, was eine besondere Form der Inklusionsform nach sich zieht". (Nassehi, 101) Selbst wenn sie Restriktionen und Ausgrenzung erfahren müssen, heißt das, dass sie gesellschaftlich "wahrgenommen" werden.

Die Stadt bietet die Möglichkeit zum Aufschließen in die funktionsdifferenzierte Gesellschaft, gerade für die "Schichten", die bislang nicht inkludiert sind. Und das paradoxe daran ist, über die Formseite der Exklusion erscheinen sie auf einmal in der Gesellschaft, als Illegale, als Fremde. Das Prinzip ist immer das gleiche. Es bleibt ihnen keine andere Option, als zuerst die Exklusionszonen der Gesellschaft aufzusuchen. Dort gilt: "Inklusion wird hier über strikte Integration geleistet, über interaktions- und gewaltnahe sowie körperorientierte Ordnungsformen" . (Nassehi, 100) Nichts desto trotz führt von dort und nur von dort, wenn überhaupt, ein Weg in die moderne Gesellschaft. Man kann in zahlreichen Fällen von (Zwangs-)Prostitution und Gewaltverbrechen mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie als Einfallstor in die moderne Gesellschaft betrachtet werden. Soll heißen, die Bereitschaft zu Prostitution bzw. Kriminalität (vor allem in Fällen die mit Einwanderung zusammenhängen), verdecken wahrscheinlich nicht selten die eigentliche Motivation. Den unbedingten Willen zur Integration. Die gewählten Mittel sind Ausdruck großer Verzweiflung und dem letzten Schimmer Hoffnung gegründet. Temporär sinkt bei den Betroffenen die Duldungsschwelle und lässt sie die brutalen und demütigenden Wege ihrer Torturen ausblenden. Daher lässt sich der Unterschied zwischen Zwang und Bereitschaft für den außenstehenden Beobachter kaum noch feststellen. Man hat es mit hochgradig riskanten, indifferenten Kooperationskonflikten zu tun. Es wird hier wie da unmittelbar auf den Gelderwerb und somit auf die Inklusion über das Wirtschaftssystem abgezielt. Wie man sieht, geschieht dies immer unter Einsatz des Körpers. Gewalt, Sex und Sklaverei spielen da in derselben beschämenden Liga des Körperlichen. Es handelt sich um selbstlos initiierte informelle Aufnahmeverfahren: Seht her, mich gibt es; wenn auch billig und illegal bis zur Demütigung. Ob bewusst oder unbewusst strömen die Unterprivilegierten in die Exklusionszonen der Gesellschaft, um endlich in der Gesellschaft aufzutauchen, die ja aus "Sicherheitsgründen" permanent die "äußere Seite" auf Gefahren ableuchtet. Es scheint als sei nur auf diesem Wege der Übertritt auf die "innere Seite" mit akzeptablen Wahrscheinlichkeiten ausgestattet. Man muss umgekehrt darauf achten, dass die Grenzen permeabel bleiben, solange es Individuen gibt, die nichts zu verlieren haben, als ihren Körper. Es krankt erst, wenn die Gesellschaft sich gegen solche Eindringlinge physisch abschottet und gewalttätig wird. Wenn sie Favelas plattwalzt, Stacheldrahtbarrieren errichtet und Krieg führt gegen "Invasoren", wenn sie sich also weigert "gesellschaftliche" Mittel auf die Einzelnen anzuwenden, stirbt die Hoffnung.

Die Ankunftsstadt Madrids nennt sich "Canada Real". Sie erstreckt sich auf einem Landstreifen von 15 km Länge und 30 Metern Breite entlang einer Autobahn. Dort haben 10.000 Einwohner seit dreißig Jahren ihren Lebensmittelpunkt. Sie wurden zuerst übersehen, dann ignoriert und schließlich toleriert. Zwar gab es zwischenzeitlich immer wieder einmal Unternehmungen die besetzten Grundstücke zu räumen. Man schickte das ein oder andere Mal Bulldozer, wenn ihre informellen Bewohner verreist waren, um deren mittlereile stattlichen Häuser niederzuwalzen. Schließlich ließ man immer wieder davon ab, den schwerverwertbaren Landstreifen konsequent abzuräumen. Erst in jüngster Zeit maroder Haushalte wurde die Bestrebung das Land zu kommerzialisieren drängender. Nun beabsichtigte die unter Druck geratene Kommune dieses Land zum Kauf anzubieten. Man räumte den "Informellen" sogar ein Vorkaufsrecht ein, wobei man geflissentlich übersah, dass kaum einer der aktuellen Bewohner sich ein erschlossenes Grundstück würde leisten können. Unter juristischer Anleitung durch einen selbstlosen Anwalt reichte man gegen die Absichten der Kommune Madrid Klage beim Gerichtshof für Menschenrechte ein. Mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass das Urteil des Gerichtes eine derart kommerzielle Umwandlung solcher Flächen unter Gesichtspunkten der Menschenrechte untersagte. Die bereits eingeleiteten Abrissvorhaben wurden eingestellt. Das Recht auf Teilhabe am urbanen Leben für die Unterprivilegierten stellte dieses Urteil über die Verwaltungsinteressen der Metropole.

Die Ankunftsstädte, die sich vor den Toren der größten Metropolen seit Beginn der Moderne angelagert haben, legen eine geduldige, anstrengende und hartnäckige Form des Anklopfens an den Tag, welche über "minderschwere" Illegalität die rigorosen Schwellen der Funktionssysteme versucht zu unterlaufen. "Arrival Cities" bieten die Möglichkeit über informelle Siedlungsweise und inoffizielle Erwerbstätigkeit unter dem Radar der Empörung zu bleiben und einen Weg in die Anerkennung aufzuzeigen. Die Stadt ist der Ort, an dem sie sich bemerkbar machen, weltweit, wie Sanders eindrucksvoll nachzeichnet und das seit vielen Generationen. Die, wie er es nennt größte Migrationsbewegung in der Menschheitsgeschichte, ist vor allem eine Migration von der Exklusions- auf die Inklusionsseite der modernen Gesellschaft. Man bekommt zudem mitgeteilt, dass die Unterscheidung Stadt/Land seit geraumer Zeit nicht länger eine geografische ist, sondern eher eine soziale markiert, die ausschließlich auf die Subsistenzwirtschaft basierte Landbevölkerung anzuwenden wäre. In der westlichen Hemisphäre insbesondere in Mitteleuropa ist diese radikale Form der Exklusion kaum noch anzutreffen. Aber wie Sanders auch zeigt, sind diese Zeiten noch nicht lange vorbei. Im 19. Jahrhundert waren in eben dieser Form London, Paris und Berlin betroffen. Und, wie wir gesehen haben, findet man schon an den Rändern Europas die Phänomene bis heute virulent. Bei "ländlichen" mitteleuropäischen Gebieten handelt es sich längst um "urbanisierte Regionen" mit industrialisierter Landwirtschaft. Landbevölkerung, die ausschließlich und nur abhängig ist von ihrem landwirtschaftlichen Ertrag lässt sich hier nicht mehr finden. Hier kongruieren die Großstadt und die moderne Gesellschaft längst im Subventionsdschungel.

Transnationale Identitäten
In der Moderne verbirgt sich als Movens nicht zuletzt die Aufforderung zum Erhalt, beziehungsweise der Wiedergewinnung von Identität, die da lautet "gegen Ambivalenz und für Eindeutigkeit", also "Gegen das Nicht-Identische!", wie Armin Nassehi den Schlachtruf der Moderne formuliert. "Was man im ökonomischen Feld Deregulierung nennt, ist gewissermaßen zum gesamtgesellschaftlichen Zustand einer aus den Fugen geratenen Welt (sic!) geworden, die alle Ordnungen als das entlarvt, was sie nach dem Gusto der tradierten Moderne nicht sein durften: nämlich arbiträre und hoch kontingente, in diesem Sinne: sinnlose Strukturen, die weder einem Plan noch einer Notwendigkeit, weder einem Willen noch einer Vorstellung folgten." (Nassehi, 203f) Die Kontingenz aller Existenz zu akzeptieren, ist mit so heftigem Geburtsschmerz verbunden, dass eine ganze Epoche wie hypnotisiert nach einem Rezept des Widerstandes forscht. Da will es nicht verwundern, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch Städte nach Identität suchen. Dabei ist Kontingenz geradezu ihre Domäne. Wir erleben Städte ja gerade heute als unbeherrschbar, scheinbar einer "Eigenlogik" unterworfen und ihre Gestalt bestimmt durch beliebigen Wandel. Sie sind die Generatoren zur Auflösung der Ängste, die die Grundströmung der Moderne hervorgebracht hat. Wenn Doug Saunders dokumentiert, wie Städte als Ankunftsstädte fungieren, können wir einen Eindruck gewinnen, wie sich Städte aus Sicht der Unterprivilegierten darstellen: Als Chance. Aber mehr noch reflektiert sich darin die Auflösung von stigmatisierenden Kategorisierungen der Privilegierten. So können "Migrationsfolgen nicht mehr in nationalstaatlichen Aufbruchs- und Ankunftsszenarien gedacht werden (...). Es entstehen durch Migration vielmehr "transnationale Räume" (Pries 1996) und, wie man hinzufügen muss, transnationale Identitäten und "soziale Lebens- und Handlungszusammenhänge, für die ein Hier-wie-Dort, ein Sowohl-als-Auch gilt (Beck 1997, S.58)". (Nassehi, 205)

Es kann also kaum verwundern, dass sich als bevorzugte Orte dieser Verwerfungen die offenen Städte der Moderne erweisen. Die Stadt des 21. Jahrhundert generiert noch den physischen Raum, der hier soziologisch benannt wird. Dort, wo die Unterscheidungen nicht mehr festgeschrieben stehen, da kann man sich keiner Seite sicher sein. Auch der nicht, von der aus bevorzugt kategorisiert wird. Wenn die eine Seite einer Unterscheidung verschwindet, besitzt auch die andere kaum noch Wert. Dieses Dilemma verbirgt sich hinter jedem progressiven Vorgehen gegen Differenzen. Belege dafür sind reich an der Zahl zu finden von der Gender-Debatte bis zur Kapitalismus/Sozialismus-Kontroverse seit 1989 und vieler mehr. Beispielsweise stellte in den USA die gesellschaftliche "Aufwertung" der Schwarzen in Form einer "Gleichstellung" nicht per se ein Problem dar. Nur für die Weißen entstand dadurch in erster Linie ein existentieller Verlust an Definitionsmöglichkeit ihrer eigenen Identität. Die Frage, wann ist ein Mann ein Mann, taucht erst auf, wenn man die Unterschiede zum Frau-Sein einebnen will. Man weiß heute, dass die Integration von Migranten nicht dazu führt, dass diese sich bis zu Unkenntlichkeit assimilieren. Es geht nicht um die "Um(Auf-)wertung" vorgängiger, festgeschriebener Zuschreibungen, sondern um Auflösung von Beobachtungsschemata, um dem "stahlharten Gehäuse der Zugehörigkeit" (Nassehi) zu entkommen. Das Verrückte dabei ist, dass hinterher keine der beiden Seiten noch die gleiche ist. Es fällt dann jedermann ins Auge, dass die eigene Identität keineswegs festgeschrieben steht, wie vormals angenommen. Die meisten beklagen Veränderung daher als Verlust.

Damit sind Städte zu den zentralen Schauplätzen von Kämpfen um die Positionierung in der Gesellschaft geworden, sie stellen die Orte für Hoffnungen, Ängste, Erfolg und Enttäuschungen. Die Stadt ist die "Docking-Station" für die subkulturellen Organisationen und Privatsphären. Mit anderen Worten: Sie ist Anlegestelle für die "bunte(n) Flotten aus Archen aller Größenordnungen, die in der nie mehr sinkenden Flut der Umweltkomplexität selbstbezüglich navigieren." (Sloterdijk, 263) Aus den Hoffnungen gerieren sich unter anderem Ankunftsstädte, aus den Ängsten hingegen resultieren neue Grenzlinien. Die Stadt verkörpert immerhin auf Grund ihres Favorisierens von Kontingenz den Ort der Unsicherheit, dem sich die Moderne mit allen Mitteln zu verweigern versuchte. Zygmunt Baumann sieht ganz richtig hier die Ursache neuer Grenzziehungen: "… ebendeshalb dienen Grenzen als natürliches Ventil für die große Bandbreite an Ängsten, die ein Leben in Unsicherheit gebiert". (Baumann, 120) Die Unsicherheit der Ankommenden verursacht Ängste zweierlei Art. Bei den global operators ebenso, wie bei denen, die nicht wegkommen, für die die Stadt der Ort ist, an dem sie verdammt sind ihr Leben zu verhandeln. Der Unterscheid zeigt sich also in der Option zur Mobilität. Zwischen den Gebundenen entstehen Rivalitäten, während die Vagabunden den Verpflichtungen dem Ort gegenüber die kalte Schulter zeigen können, weil sie sich den "Luxus einer vornehmen Gleichgültigkeit" (Baumann, 120) leisten und nach Belieben die Stadt wechseln können. So kümmern sich in der Stadt vornehmlich die Sesshaften, diejenigen, die bleiben müssen. Das Kapital flotiert im virtuell globalen Raum und das physische Proletariat müht sich um die Orte. Die Ängste treiben die einen um den Globus und die anderen stehen vor den Toren der Gated Communities. Ganz allgemein versucht man in Sicherheitszonen neue Identitäten verleihen und hinter Grenzlinien, die Distinktion offen ins Feld zu führen. Es geht um Reviermarkierungen, die verheißen wiederzugeben, was immer schon die Fata Morgana der Moderne war: Identität. Orte und Grenzen strukturieren das haltlose Dasein. Sie sind die Pfeiler derer, die sich Sinngehalte des Lebens physisch konzipieren. Wir werden sie immer berücksichtigen müssen, solange nicht alle hinter den Medien der Gesellschaft restlos verschwinden. Allerdings sehen sich die getrennten Lebensweisen in der Stadt aufeinandertreffen. Die Gestalt der Stadt ist geprägt von den Konflikten globaler Operationen. Die Firmensitze der Medien- und Bankenzentralen finden sich allesamt in den Metropolen. Die Mittel und Wege gilt es neu zu justieren, wie die globalen Vagabunden in die Verantwortung genommen werden können. Baumann glaubt die Schwierigkeit liege darin, dass "unsere politischen Institutionen nach wie vor im Wesentlichen an den Grund und Boden gebunden sind;" (Baumann 122) Somit haben sie mit Städten etwas wesentliches gemeinsam. Die politischen Institutionen leiden währenddessen an einer Schwächung, die auf die Rückständigkeit gegenüber allen exterritorialen Operateuren zurückgeht. In Städten wird Handeln durch physische Anwesenheit sichtbar. Als Ursache und Wirkung erlebbar gemacht, vermittelt die Stadt die verbliebene Plattform physischer Aktion, in einer weitestgehend nur mittelbar beinflussbaren, sogenannten globalen (besser wäre: virtuellen) Umwelt. An der Stelle wäre es eventuell hilfreicher die Unterscheidung lokal/global durch die Unterscheidung physisch/virtuell zu ersetzten. Um auf die Gleichzeitigkeit von Umgang mit den Medien der Gesellschaft und nötiger physischer Existenz hinzuweisen. Eine Unterscheidung, die gesellschaftlich einen Unterschied macht. Die Stadt stellt die imposante Kulisse für Handlungen und demonstriert gleichzeitig die Fragilität menschlichen Zusammenlebens auf eindringliche Weise. Hier lässt sich Aufmerksamkeit generieren auf rudimentäre Weise, ebenso wie Präsens gesellschaftlicher Größe generieren. Eindrucksvoll zeigt sich die Wechselwirkung bei Auftreten von gegenseitigen Störungen. Der maximalen Störung eines solchen komplexen Gesellschafts-Kosmos auf archaischste Weise war bislang am 11. September 2001 in New York medial beizuwohnen. Dies verdeutlicht den Zusammenhang von physischer Anwesenheit und virtueller Gesellschaftssysteme. Das bedeutet eben auch für die kleine Familie am Rande der Existenz die Möglichkeit ganz handfest ihren Faden einweben zu können, an gesellschaftliche Zusammenhänge.

Für die Verantwortlichen als jeweils lokale Operateure bestehen Chancen darin, die räumliche Konfrontation zu bewahren. Sie müssen die Diversität an Ort und Stelle abbilden. Konfrontation muss die Gestalt bestimmen, weil nur sie kann alle Grenzbemühungen torpedieren und dadurch nach oben wie unten permeabel halten. Der komplizierte Kommunikationsprozess der Paradigmenverflüssigung bedarf der zahlreichen Möglichkeiten einer im besten Falle undurchschaubaren Versammlung Anderer, um sich realisieren zu lassen. Gerade einer Verflüssigung von Kategorien leiteten die Strömungen der Moderne allesamt vehement Widerstand. Vielleicht bricht sich die Unübersichtlichkeit der Städte deshalb Bahn, weil allein das Unwahrscheinliche sich diesen sinnlos opponierenden Bemühungen entzieht, und sie sich als die Petrischale des Möglichen erweisen kann. Hier sind wir an der Wurzel dessen, was Urbanisierung leisten kann. Den transnationalen Raum für transnationale Identitäten bereit zu stellen. Die "Transcity", möchte ich sie nennen, könnte Modell einer Stadt der Gesellschaft einer funktionsdifferenzierten Moderne sein. Die "Transcity", die an den diffusen "Rändern" nicht hermetisch abschließt, ist ein physischer Raum, in dem der Sprung über den unsichtbaren Spiegelstrich zwischen Drinnen und Draußen als Option in Aussicht steht. Urbanisierung bedeutet heute, mehr denn je, den Eintritt in die moderne Gesellschaft.

15.03.2014

 

 
Baumann, Zygmunt, Flüchtige Zeiten, Hamburg 2008
 
Nassehi, Armin, Geschlossenheit und Offenheit, Frankfurt am Main 2003
 
Sanders, Doug, Arrival City, München 2011
 

Sloterdijk, Peter, Sphären II, Frankfurt am Main 1999

 
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