Jetzt
ist wieder die Zeit, sich einen Kick zu verschaffen! Den selbsterwählten
Arschtritt aus dem Trott der Beliebigkeit. Sich ständig selbst
unter Kontrolle zu halten ist nämlich anstrengend. Da übergibt
man gern von Zeit zu Zeit einmal die Kontrolle an andere. Die Hauptsache
dabei ist, man vergisst für einen Moment die Selbstkontrolle.
Ab und an scheint es unumgänglich geworden, sich einen "Kick"
zu verschaffen. Einen "Tritt", der üblicherweise von
außen kommen muss, einen "fremdgesteuerten" Stoß.
Man sieht daran sehr schön: Im Normalfall stößt uns
nichts und niemand mehr.
Hatte man sich das nicht immer gewünscht? War man zu Zeiten der
Disziplinargesellschaft nicht bemüht jeglichen Druck von außen
zum Wohle der individuellen Entfaltung zu eliminieren? Tja, nun ist
es mit der Errungenschaft unserer Laissez-faire-Gesellschaft an jedem
selbst, sich zu beherrschen, sich zu pushen und schlimmer noch: über
sich zu richten.
Da bezahlt man schon mal dafür, dass ein Fremder einen "stößt".
Der Personaltrainer, der Psychiater, die Domina oder schlicht "die
Natur", im weitesten Sinne. Die Entblößung, die Erniedrigung
und der Kontrollverlust sind nicht umsonst zu lukrativen Geschäftsfeldern
avanciert. "Sich fallen lassen", "sich verausgaben",
"sich spüren" oder gar "zu sich vordringen",
lauten die Mantra artigen Formeln unserer Entlastungsindustrie und
bevölkern als gängige Metaphern die Palette der Werbebranche.
Alles dreht sich um die Ablenkung von "der Sorge um sich selbst".
Sie ist mittlerweile handfester Bestandteil unserer "K&K-Kultur":
Unserer Konsum- und Kompensations-Kultur. Immer einfallsreicher und
mannigfaltiger spinnt sie ihr Netz der "kontrollierten Ausbrüche":
Von TUI bis Jochen Schweizer, bis hin zu "Fifty Shades of
Grey"-Entertainment. Das Ziel ist allemal die synaptischen
Verbindungen zu entkoppeln, bis der Kontrollverlust eintritt. Der
"Fifty Shades of Grey"-Film-Erfolg ist nur ein kalkulierter
Fall von Koinzidenz in einer vom Burnout geschüttelten Selbstdisziplinierungs-Kohorte.
Unter dem Damokles-Anspruch, jeder Mann und jede Frau habe die prinzipielle
Möglichkeit zur Herrschaft, formuliert sich in der Umkehrung
die Selbst-Pflicht, es in die Führungsetagen der Gesellschaft
zu schaffen. Oder allgemeiner, aus seinem Leben das Optimale herauszuholen,
gibt uns letztlich den Sinn unseres Daseins. Versagens-Ängste
und Versäumnis-Ängste destillieren sich aus der Erkenntnis,
man lebt nur einmal. "Einmal muss man ... schon erlebt haben",
lautet der passende Rechtfertigungs-Imperativ. Der Kick soll Erlösung
bringen. Ein kurzer Augenblick für die banale Restlebenszeit
entschädigen. Wer es nicht schafft, hat schlicht sein Leben verspielt,
seine Chance nicht genutzt, wie der Spieler am Pokertisch.
Wenn das eigne Leben nur noch Sinn macht, wenn es zum Einsatz verkommt
und degradiert zur Verfügungsmasse einer permanenten Versuchsanordnung
gleicht, wundert es nicht, dass sich eine Kultur der Paradoxie etabliert:
Entweder ist es der "kalkulierbare Kick" (wie mit Fallschirm
und Doppeltem Boden), oder der "routinierte Rausch" (wie
beim Alkohol) oder auch die "verabredete Auslieferung" (wie
beim Sex). Man will ja nicht Gefahr laufen, alles auf einmal zu verspielen!
Dabei ist, sich das Leben als Perlenschnur von Entlastungszuständen
vorzustellen, ein Versäumnis ganz anderer Dimension: Es ist wahrer
Verlust; im engeren Sinne Realitätsverlust. Die Frage muss lauten,
weshalb es nicht gelingen will, dass wir in einer Wohlstands-Umgebung
den Alltag als befreite, ausgeglichene Individuen erleben? Die Antwort
Uns fehlt schlichtweg der Mut!
Viel lieber lassen wir leben! Wir bedienen uns der zahlreich angebotenen
Stunt-Männer und Stunt-Frauen unseres Lebens. Kaum mutig genug,
sich einen Spaß zu erlauben, konsumieren wir ihn als Comedy-Show
oder YouTube-Clip. Wir halten mit der eignen Meinung hinterm Berg
und legen uns eine "Normcore"-Haltung zu, um nicht
in "Awkwardness", der neuen Peinlichkeit zu versinken.
Indem wir die Anpassungsschwelle so niedrig als möglich halten,
gewährleisten wir Kompatibilität mit allen eventuellen Kontakten,
bis nichts mehr an Eigentümlichkeit ablesbar bleibt. (Das erschwert
ganz nebenbei nicht zuletzt die Paarfindung bzw. dauerhafte Paarbindung.
Mit ersten Auffälligkeiten droht zu zerbrechen, was man sich
anders vorgestellt hatte). So bleibt es bei Kontakten ohne Innerlichkeit.
Dazu bedürfte es einer Ehrlichkeit zur Unvollkommenheit, der
Eigenheit und der eigenen Meinung. Dazu ist man nicht mehr in der
Lage. Stattdessen ist man geübt in Nachahmung, dem Befolgen von
Mottos und Kleiderordnungen, und geübt im Tragen von Uniformen
und Pseudo-Trachten. Dabei werden wir wahre Meister im Rekonstruieren
und Kopieren von Verhaltensmustern und plausiblen Erscheinungsformen.
Originalität und Macken, Abweichung und Individualität haben
dabei nichts verloren. Projektionsfiguren übernehmen stellvertretend
Originalität. Bis uns diese Anstrengung die Luft zum Atmen nimmt
und wir den Ausbruch buchen. Dann prahlen wir, dass unser neuester
Kick der heißeste Scheiß sei, extremst individuell und
mega cool, und legen zum Beweis ein Selfie bei. Man spricht bereits
vom "Neuen Biedermeyer", - Neo-Rokoko wäre eventuell
passender: Nur die Show zählt.
Und der Kick kompensiert. Gern auch - wiederum organisiert - in Massenformaten
wie Sportveranstaltungen, Demonstrationen und Massenprotesten. Sinn
und Zweck derartiger Veranstaltungen spielen dabei nicht einmal eine
Rolle. Es zählt allein die Enthemmung, insbesondere die, die
in Gewaltentladung mündet. Nach Aussagen von Protestanten würden
Veranstaltungen, wie die anlässlich des Ersten Mai, die einzigartige
Möglichkeit bieten, mit Steinen auf Polizisten werfen zu können.
Wie auch jeden Samstag vor und nach dem Fußballstadionbesuch
hält man, den staatlich subventionierte Kick für die sozial
schwächeren bereit.
Trotz Wohlstand und Sicherheit liegen über allem der Schmerz
der Selbstoptimierung und die Linderung durch Kicks. In dem Spannungsfeld
will/soll einfach keine Gelassenheit einkehren. Wir verursachen mit
jedem weiteren Schritt der Selbstunterdrückung die Kosten, die
wir uns leisten müssen, um uns wieder zur Räson zu bringen
und unserer Rollen gerecht zu werden. Das Gesellschaftliche ist dabei
längst zur Spiegelung unserer Narzisstischen Kränkung geworden.
Wir haben sehr naiv das Spiegelkabinett der Selbstdomestizierung betreten,
ohne bislang einen Schimmer davon zu haben, wo sich der Ausgang befinden
könnte.
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