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Die Kolumne
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16.12.16 Allgemeines Glück gesucht
16.11.16 Hitler ruft!
16.10.16 Postfaktisch
16.09.16 Kick Ass
16.06.16 No Future
16.05.16 Rocken bis der Arzt kommt
16.04.16 Dank der Alternative
15.02.16 »Smart« das neue »Spießig«

 

Fifty Shades of Kick Ass
Die selbstverschuldete Lust am Kontrollverlust
von Jürgen Mick

Jetzt ist wieder die Zeit, sich einen Kick zu verschaffen! Den selbsterwählten Arschtritt aus dem Trott der Beliebigkeit. Sich ständig selbst unter Kontrolle zu halten ist nämlich anstrengend. Da übergibt man gern von Zeit zu Zeit einmal die Kontrolle an andere. Die Hauptsache dabei ist, man vergisst für einen Moment die Selbstkontrolle. Ab und an scheint es unumgänglich geworden, sich einen "Kick" zu verschaffen. Einen "Tritt", der üblicherweise von außen kommen muss, einen "fremdgesteuerten" Stoß. Man sieht daran sehr schön: Im Normalfall stößt uns nichts und niemand mehr.

Hatte man sich das nicht immer gewünscht? War man zu Zeiten der Disziplinargesellschaft nicht bemüht jeglichen Druck von außen zum Wohle der individuellen Entfaltung zu eliminieren? Tja, nun ist es mit der Errungenschaft unserer Laissez-faire-Gesellschaft an jedem selbst, sich zu beherrschen, sich zu pushen und schlimmer noch: über sich zu richten.

Da bezahlt man schon mal dafür, dass ein Fremder einen "stößt". Der Personaltrainer, der Psychiater, die Domina oder schlicht "die Natur", im weitesten Sinne. Die Entblößung, die Erniedrigung und der Kontrollverlust sind nicht umsonst zu lukrativen Geschäftsfeldern avanciert. "Sich fallen lassen", "sich verausgaben", "sich spüren" oder gar "zu sich vordringen", lauten die Mantra artigen Formeln unserer Entlastungsindustrie und bevölkern als gängige Metaphern die Palette der Werbebranche.

Alles dreht sich um die Ablenkung von "der Sorge um sich selbst". Sie ist mittlerweile handfester Bestandteil unserer "K&K-Kultur": Unserer Konsum- und Kompensations-Kultur. Immer einfallsreicher und mannigfaltiger spinnt sie ihr Netz der "kontrollierten Ausbrüche": Von TUI bis Jochen Schweizer, bis hin zu "Fifty Shades of Grey"-Entertainment. Das Ziel ist allemal die synaptischen Verbindungen zu entkoppeln, bis der Kontrollverlust eintritt. Der "Fifty Shades of Grey"-Film-Erfolg ist nur ein kalkulierter Fall von Koinzidenz in einer vom Burnout geschüttelten Selbstdisziplinierungs-Kohorte. Unter dem Damokles-Anspruch, jeder Mann und jede Frau habe die prinzipielle Möglichkeit zur Herrschaft, formuliert sich in der Umkehrung die Selbst-Pflicht, es in die Führungsetagen der Gesellschaft zu schaffen. Oder allgemeiner, aus seinem Leben das Optimale herauszuholen, gibt uns letztlich den Sinn unseres Daseins. Versagens-Ängste und Versäumnis-Ängste destillieren sich aus der Erkenntnis, man lebt nur einmal. "Einmal muss man ... schon erlebt haben", lautet der passende Rechtfertigungs-Imperativ. Der Kick soll Erlösung bringen. Ein kurzer Augenblick für die banale Restlebenszeit entschädigen. Wer es nicht schafft, hat schlicht sein Leben verspielt, seine Chance nicht genutzt, wie der Spieler am Pokertisch.

Wenn das eigne Leben nur noch Sinn macht, wenn es zum Einsatz verkommt und degradiert zur Verfügungsmasse einer permanenten Versuchsanordnung gleicht, wundert es nicht, dass sich eine Kultur der Paradoxie etabliert: Entweder ist es der "kalkulierbare Kick" (wie mit Fallschirm und Doppeltem Boden), oder der "routinierte Rausch" (wie beim Alkohol) oder auch die "verabredete Auslieferung" (wie beim Sex). Man will ja nicht Gefahr laufen, alles auf einmal zu verspielen!

Dabei ist, sich das Leben als Perlenschnur von Entlastungszuständen vorzustellen, ein Versäumnis ganz anderer Dimension: Es ist wahrer Verlust; im engeren Sinne Realitätsverlust. Die Frage muss lauten, weshalb es nicht gelingen will, dass wir in einer Wohlstands-Umgebung den Alltag als befreite, ausgeglichene Individuen erleben? Die Antwort Uns fehlt schlichtweg der Mut!

Viel lieber lassen wir leben! Wir bedienen uns der zahlreich angebotenen Stunt-Männer und Stunt-Frauen unseres Lebens. Kaum mutig genug, sich einen Spaß zu erlauben, konsumieren wir ihn als Comedy-Show oder YouTube-Clip. Wir halten mit der eignen Meinung hinterm Berg und legen uns eine "Normcore"-Haltung zu, um nicht in "Awkwardness", der neuen Peinlichkeit zu versinken. Indem wir die Anpassungsschwelle so niedrig als möglich halten, gewährleisten wir Kompatibilität mit allen eventuellen Kontakten, bis nichts mehr an Eigentümlichkeit ablesbar bleibt. (Das erschwert ganz nebenbei nicht zuletzt die Paarfindung bzw. dauerhafte Paarbindung. Mit ersten Auffälligkeiten droht zu zerbrechen, was man sich anders vorgestellt hatte). So bleibt es bei Kontakten ohne Innerlichkeit. Dazu bedürfte es einer Ehrlichkeit zur Unvollkommenheit, der Eigenheit und der eigenen Meinung. Dazu ist man nicht mehr in der Lage. Stattdessen ist man geübt in Nachahmung, dem Befolgen von Mottos und Kleiderordnungen, und geübt im Tragen von Uniformen und Pseudo-Trachten. Dabei werden wir wahre Meister im Rekonstruieren und Kopieren von Verhaltensmustern und plausiblen Erscheinungsformen. Originalität und Macken, Abweichung und Individualität haben dabei nichts verloren. Projektionsfiguren übernehmen stellvertretend Originalität. Bis uns diese Anstrengung die Luft zum Atmen nimmt und wir den Ausbruch buchen. Dann prahlen wir, dass unser neuester Kick der heißeste Scheiß sei, extremst individuell und mega cool, und legen zum Beweis ein Selfie bei. Man spricht bereits vom "Neuen Biedermeyer", - Neo-Rokoko wäre eventuell passender: Nur die Show zählt.

Und der Kick kompensiert. Gern auch - wiederum organisiert - in Massenformaten wie Sportveranstaltungen, Demonstrationen und Massenprotesten. Sinn und Zweck derartiger Veranstaltungen spielen dabei nicht einmal eine Rolle. Es zählt allein die Enthemmung, insbesondere die, die in Gewaltentladung mündet. Nach Aussagen von Protestanten würden Veranstaltungen, wie die anlässlich des Ersten Mai, die einzigartige Möglichkeit bieten, mit Steinen auf Polizisten werfen zu können. Wie auch jeden Samstag vor und nach dem Fußballstadionbesuch hält man, den staatlich subventionierte Kick für die sozial schwächeren bereit.

Trotz Wohlstand und Sicherheit liegen über allem der Schmerz der Selbstoptimierung und die Linderung durch Kicks. In dem Spannungsfeld will/soll einfach keine Gelassenheit einkehren. Wir verursachen mit jedem weiteren Schritt der Selbstunterdrückung die Kosten, die wir uns leisten müssen, um uns wieder zur Räson zu bringen und unserer Rollen gerecht zu werden. Das Gesellschaftliche ist dabei längst zur Spiegelung unserer Narzisstischen Kränkung geworden. Wir haben sehr naiv das Spiegelkabinett der Selbstdomestizierung betreten, ohne bislang einen Schimmer davon zu haben, wo sich der Ausgang befinden könnte.

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