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Postfaktisch: Die Lust am Nicht-Wissen-Wollen
Und die Krankheit Charisma

von Jürgen Mick

Die Bundeskanzlerin höchstpersönlich bringt es unters Volk: "Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen."

Ja, die Welt ist F-I-T mit Facebook, Instagram und Twitter-Accounts. Eine Welt der Emotionen und Emoticons, der Hassreden und Lobhudeleien in der jedermann/-frau ungefragt zu Wort kommen. Willkommen im "Zeitalter des Bullshit"! (Eduard Kaeser in der NZZ) Auch wenn der AFD-Vorsitzender von Berlin behauptet "das, was man fühlt ist Realität", wird es nicht richtiger. Was man fühlt, das sind Gefühle und die Realität ist oft eine ganz andere, wie jeder, der schon einmal einen Korb vom Angebeteten bekommen hat, weiß. Gefühle werden meist mit Gefühlen erwidert und lassen sich nur schwerlich widerlegen. So getan auch von der Kanzlerin, hinab gezwungen in die Niederungen der Emotionen, hat die gelernte Physikerin gefühlt, alles, was uns nicht umbringt, macht uns stärker, oder so ähnlich.

Irgendwann in dunkler Vorzeit hat man, - wie auch immer irregeleitet - den Vernunft-Diskurs eingeführt, der alle Gefühle beiseitelässt und mit innerer Distanz geführt werden muss. Den Erfolg der Methode sah man darin, dass jeder Teilnehmer, ohne sein Gesicht zu verlieren, seine Meinung ändern konnte. So droht, so sei nebenbei gewarnt, in der Gefühlsdebatte nur allzu schnell der Gesichtsverlust.

Aber eines ist unumstößlich: Emotionen bannen uns mehr als Fakten. Wir folgen viel lieber spannenden Geschichten und Gerüchten. Die Vernunft abgemeldet, vertrauen wir auf unser archaisches Stammhirn. Im Zeitalter der Echsen hatte derjenige Recht, der das größere Maul hatte. Daher sind wir heute im Zeitalter des Erzählens und des Ansehens angekommen - Prediger und Führer stehen höher im Kurs als Wissenschaftler und Forscher. Es regiert der Mythos von Fame & Glory und lässt unsere Herzen höherschlagen.

Die Anstrengung, dumm bleiben zu wollen, von der Odo Marquardt noch spricht, scheint allemal angenehmer, als der Ballast den Alltag vernünftig bewältigen zu wollen. Wir unternehmen alles, um unsere Lust Nicht-wissen-zu-wollen zu stimulieren. Wir haben die Emotionen wiederentdeckt. Das ist unser Heilmittel für die Entlastung von der Komplexität. Meinung und Vorurteile sind Komplexitätsreduzierer auf die wir nicht verzichten können. Fakten sind so überreichlich abrufbar, dass man sich nicht gerne hinsetzen will, diese zu sichten und zu sortieren. Es genügt das Kommunizieren von vermeintlichen Pseudo-Fakten. Deren Lebensdauer ist allemal von so geringer Zeitspanne, dass es unerheblich scheint, ob sie einer Realität entsprechen oder nicht; es jedenfalls nicht der Mühe lohnen würde, sie verifizieren zu wollen. Man wäre wie auch immer zu spät!

Dabei setzte man in Nachkriegszeiten gerade in gesellschaftlichen Dingen auf Vernunft, weil doch das Glauben (an den Sieg, den Führer, das Reich) nichts geholfen hat: "Man nahm damals weithin an, daß am Krieg, an all dem Sterben, der Brutalität, der Zerstörung, das Führerprinzip die Schuld trüge. Dass die Nationen vernünftig zusammenleben könnten, wenn man nur die Persönlichkeiten durch Abstraktionen der Macht ersetzte und sich der Organisationsformen der großen Konzerne bediente … Eine der teuersten Nachkriegshoffnungen: daß niemals mehr Raum sein würde für eine so furchtbare Krankheit wie Charisma …" (Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel)

Die Auflösung des Ursache -Wirkung-Schemas dürfte eine gelernte Physikerin allerdings nicht unbedingt dazu verleiten den Pfad der Vernunft zu verlassen, führt er doch geradewegs in die Komplexität, einer spezifischen Kernkompetenz der Physik. Mit Verbreitung des Komplexitätsmythos im Common Sense etabliert sich Furchtbares: Statt zu einem gelernten Umgang, kommt es zum Misstrauen gegen die Vernunft! Nieder mit dem Ungeheuer Vernunft! Und dem "Man-kann-nicht-wissen" folgte ad hoc das "Wir-wollen-nicht-wissen" auf dem Fuße. So leben wir nun in einer Welt des Postfaktischen. Was sich so ähnlich anhört, wie das Pipi Langstrumpf Motto: "Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt!" Ebenso infantil und unaufgeklärt ist es auch zu werten, wenn Ablenkung vom Alltag und Selbstbefriedigung unserer narzisstischen Bedürfnisse den Vorrang vor rationalem Denken genießen.

Dabei ließe sich sogar der Abwendung von den Fakten noch etwas Vernünftiges abgewinnen. Es könnte eine erste Form zur Hinwendung zum Pluralistischen bedeuten. Auch wenn es einer irrationalen Überreaktion gleichkommt, deutet sich darin zumindest ein, - wenn auch ignorant wirkender - erster Versuch im "Umgang" mit mehr als einem "Wahren" an. Liegt möglicherweise gerade hier eine Versuchsanordnung pluralistischen Denkens vor? Die Abwendung von vermeintlichen Wahrheiten ist erst einmal geprägt vom Umschlagen ins andere Extrem. Es ist ja wohl so, dass, wenn nichts wahr ist, sich auch die "Pflicht zu Wissen" erübrigt. Soweit die Überreaktion.

Nun sollte man nicht unterwegs abstürzen und den Rösselsprung der Erkenntnis durchziehen und zum Dreisprung vollenden, der da lautet: Wir wollen Wissen in dem Wissen, dass es keine alleinige Wahrheit gibt! Hilfreich dabei könnte die Erkenntnis sein, dass wir schon immer auch in Zeiten größter Rationalitätsparanoia erfolgreich mit Nicht-Wissen hantiert haben und das nicht erst seit Heisenbergs Unschärferelation. Als Unschärfe und temporäre Ungewissheit haben wir dieses als steten Begleiter aus der Tatsache des Nichtwissenkönnens mit uns getragen, wenn auch unachtsam und despektierlich. Gewiss respektlos haben wir Gegebenes, das uns nicht in den Kram passte lange Zeit als Fehler, Anomalie, Ausnahmen diskriminiert und als Vernachlässigbarkeiten in unsere Theorien reintegriert. Prognosen, Pläne und Voraussagen möglichst unbemerkt angepasst. Geschickt haben wir uns bemüht den Monotheismus alleiniger Wahrheit möglichst lange aufrecht zu erhalten und uns verhalten wie das Politbüro für Erkenntnis wenn wir stets Ergebnisse exakter Wissenschaft präsentiert haben.

Dabei sollte jeder schon einmal im Physiklabor der Erfahrung zugeführt worden sein, dass das gelingende Experiment eigentlich die Ausnahme darstellt, wie der Autor seit seiner abituriellen Bemühungen weiß. Es dürfte also zumindest die Kanzlerin von der "Wirklichkeit" nicht wirklich überrascht sein.

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