Die
Bundeskanzlerin höchstpersönlich bringt es unters Volk:
"Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen
Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich
nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen."
Ja, die Welt ist F-I-T mit Facebook, Instagram und Twitter-Accounts.
Eine Welt der Emotionen und Emoticons, der Hassreden und Lobhudeleien
in der jedermann/-frau ungefragt zu Wort kommen. Willkommen im "Zeitalter
des Bullshit"! (Eduard Kaeser in der NZZ) Auch wenn der AFD-Vorsitzender
von Berlin behauptet "das, was man fühlt ist Realität",
wird es nicht richtiger. Was man fühlt, das sind Gefühle
und die Realität ist oft eine ganz andere, wie jeder, der schon
einmal einen Korb vom Angebeteten bekommen hat, weiß. Gefühle
werden meist mit Gefühlen erwidert und lassen sich nur schwerlich
widerlegen. So getan auch von der Kanzlerin, hinab gezwungen in die
Niederungen der Emotionen, hat die gelernte Physikerin gefühlt,
alles, was uns nicht umbringt, macht uns stärker, oder so ähnlich.
Irgendwann in dunkler Vorzeit hat man, - wie auch immer irregeleitet
- den Vernunft-Diskurs eingeführt, der alle Gefühle beiseitelässt
und mit innerer Distanz geführt werden muss. Den Erfolg der Methode
sah man darin, dass jeder Teilnehmer, ohne sein Gesicht zu verlieren,
seine Meinung ändern konnte. So droht, so sei nebenbei gewarnt,
in der Gefühlsdebatte nur allzu schnell der Gesichtsverlust.
Aber eines ist unumstößlich: Emotionen bannen uns mehr
als Fakten. Wir folgen viel lieber spannenden Geschichten und Gerüchten.
Die Vernunft abgemeldet, vertrauen wir auf unser archaisches Stammhirn.
Im Zeitalter der Echsen hatte derjenige Recht, der das größere
Maul hatte. Daher sind wir heute im Zeitalter des Erzählens und
des Ansehens angekommen - Prediger und Führer stehen höher
im Kurs als Wissenschaftler und Forscher. Es regiert der Mythos von
Fame & Glory und lässt unsere Herzen höherschlagen.
Die Anstrengung, dumm bleiben zu wollen, von der Odo Marquardt noch
spricht, scheint allemal angenehmer, als der Ballast den Alltag vernünftig
bewältigen zu wollen. Wir unternehmen alles, um unsere Lust Nicht-wissen-zu-wollen
zu stimulieren. Wir haben die Emotionen wiederentdeckt. Das ist unser
Heilmittel für die Entlastung von der Komplexität. Meinung
und Vorurteile sind Komplexitätsreduzierer auf die wir nicht
verzichten können. Fakten sind so überreichlich abrufbar,
dass man sich nicht gerne hinsetzen will, diese zu sichten und zu
sortieren. Es genügt das Kommunizieren von vermeintlichen Pseudo-Fakten.
Deren Lebensdauer ist allemal von so geringer Zeitspanne, dass es
unerheblich scheint, ob sie einer Realität entsprechen oder nicht;
es jedenfalls nicht der Mühe lohnen würde, sie verifizieren
zu wollen. Man wäre wie auch immer zu spät!
Dabei setzte man in Nachkriegszeiten gerade in gesellschaftlichen
Dingen auf Vernunft, weil doch das Glauben (an den Sieg, den Führer,
das Reich) nichts geholfen hat: "Man nahm damals weithin an,
daß am Krieg, an all dem Sterben, der Brutalität, der Zerstörung,
das Führerprinzip die Schuld trüge. Dass die Nationen vernünftig
zusammenleben könnten, wenn man nur die Persönlichkeiten
durch Abstraktionen der Macht ersetzte und sich der Organisationsformen
der großen Konzerne bediente
Eine der teuersten Nachkriegshoffnungen:
daß niemals mehr Raum sein würde für eine so furchtbare
Krankheit wie Charisma
" (Thomas Pynchon, Die Enden
der Parabel)
Die Auflösung des Ursache -Wirkung-Schemas dürfte eine gelernte
Physikerin allerdings nicht unbedingt dazu verleiten den Pfad der
Vernunft zu verlassen, führt er doch geradewegs in die Komplexität,
einer spezifischen Kernkompetenz der Physik. Mit Verbreitung des Komplexitätsmythos
im Common Sense etabliert sich Furchtbares: Statt zu einem gelernten
Umgang, kommt es zum Misstrauen gegen die Vernunft! Nieder mit dem
Ungeheuer Vernunft! Und dem "Man-kann-nicht-wissen" folgte
ad hoc das "Wir-wollen-nicht-wissen" auf dem Fuße.
So leben wir nun in einer Welt des Postfaktischen. Was sich so ähnlich
anhört, wie das Pipi Langstrumpf Motto: "Wir machen uns
die Welt, wie sie uns gefällt!" Ebenso infantil und
unaufgeklärt ist es auch zu werten, wenn Ablenkung vom Alltag
und Selbstbefriedigung unserer narzisstischen Bedürfnisse den
Vorrang vor rationalem Denken genießen.
Dabei ließe sich sogar der Abwendung von den Fakten noch etwas
Vernünftiges abgewinnen. Es könnte eine erste Form zur Hinwendung
zum Pluralistischen bedeuten. Auch wenn es einer irrationalen Überreaktion
gleichkommt, deutet sich darin zumindest ein, - wenn auch ignorant
wirkender - erster Versuch im "Umgang" mit mehr als einem
"Wahren" an. Liegt möglicherweise gerade hier eine
Versuchsanordnung pluralistischen Denkens vor? Die Abwendung von vermeintlichen
Wahrheiten ist erst einmal geprägt vom Umschlagen ins andere
Extrem. Es ist ja wohl so, dass, wenn nichts wahr ist, sich auch die
"Pflicht zu Wissen" erübrigt. Soweit die Überreaktion.
Nun sollte man nicht unterwegs abstürzen und den Rösselsprung
der Erkenntnis durchziehen und zum Dreisprung vollenden, der da lautet:
Wir wollen Wissen in dem Wissen, dass es keine alleinige Wahrheit
gibt! Hilfreich dabei könnte die Erkenntnis sein, dass wir schon
immer auch in Zeiten größter Rationalitätsparanoia
erfolgreich mit Nicht-Wissen hantiert haben und das nicht erst seit
Heisenbergs Unschärferelation. Als Unschärfe und temporäre
Ungewissheit haben wir dieses als steten Begleiter aus der Tatsache
des Nichtwissenkönnens mit uns getragen, wenn auch unachtsam
und despektierlich. Gewiss respektlos haben wir Gegebenes, das uns
nicht in den Kram passte lange Zeit als Fehler, Anomalie, Ausnahmen
diskriminiert und als Vernachlässigbarkeiten in unsere Theorien
reintegriert. Prognosen, Pläne und Voraussagen möglichst
unbemerkt angepasst. Geschickt haben wir uns bemüht den Monotheismus
alleiniger Wahrheit möglichst lange aufrecht zu erhalten und
uns verhalten wie das Politbüro für Erkenntnis wenn wir
stets Ergebnisse exakter Wissenschaft präsentiert haben.
Dabei sollte jeder schon einmal im Physiklabor der Erfahrung zugeführt
worden sein, dass das gelingende Experiment eigentlich die Ausnahme
darstellt, wie der Autor seit seiner abituriellen Bemühungen
weiß. Es dürfte also zumindest die Kanzlerin von der "Wirklichkeit"
nicht wirklich überrascht sein.
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