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Bunter Haufen Europa
von Jürgen Mick

Wir in Europa sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Deshalb liegt es in unserer Natur, sich nur schwer auf etwas zu einigen. Die Vielfalt ist schließlich unsere Basis. Die Migration unsere Leidenschaft.

Seitdem die Römer damit begannen, die "Barbaren" nicht länger auf Abstand zu halten, sondern sie - im Rahmen ihrer aus der Not geborenen "Integrationspolitik" - als brauchbare Söldner zu schätzen, ist kaum mehr Stillstand eingekehrt auf dem stürmisch umkämpften Kontinent. Das auf Römischem Recht konstituierte und nach innen homogenisierte Imperium öffnete einst - zugegebenermaßen mehr widerwillig als willig - seine kostspielig errichteten, hermetischen Grenzzäune. Angesichts einer zahlenmäßig nicht länger zu ignorierenden Schar an Fremden auf der anderen Seite befand man die Annäherung an die sogenannten "Barbaren" als die bestmögliche Zukunftsoption und legte damit den Grundstein für Europa als soziokulturelle Einheit, - wie wir es heute noch verstehen wollen.

Der bunte Haufen umschloss im Laufe der nächsten Tausend Jahre neben der römisch-christlichen Kultur die unterschiedlichsten Ethnien und Kulturen. Der Chronist Isidor Pacensis aus dem 8. Jahrhundert wurde als derjenige identifiziert, der den Begriff "Europäer" als erster benutzt haben soll. Und zwar hielt er ihn für nötig, um die bunt zusammengewürfelten Heerestruppe eines gewissen Karl Martell in der Schlacht bei Tour um 732 n.Chr. beim trefflichsten Namen zu nennen.

Allein es setzte sich der Begriff "Europäer" nicht sogleich durch, sondern für die meisten der Kontinentalbewohner war der Begriff "Christentum" langfristig gesehen plausibler und griffiger in der Anwendung, ließ sich auf diese Weise von der ungeeigneten halbinselförmigen Landmasse abstrahieren und zudem ließ es sich personell eindeutig zuschreiben und nötigenfalls inquisitorisch nachweisen. Das christliche Abendland, konnte sich so wenigstens transzendent eindeutig gegen das islamische Morgenland abgrenzen. Abgrenzung war also wieder hergestellt, wenn auch mit deutlich großzügigerem Selbstverständnis.

Der Vorgang aber zeigt, ein Selbstverständnis bedarf von Zeit zu Zeit einer Erneuerung. Gefolgt von blutigen Jahrhunderten gegenseitiger Verständigungsbemühungen, sollte es ein gutes halbes Jahrtausend dauern, bis man einsah, dass es praktikabler wäre, sich von dem Branding Christentum zu distanzieren und sich der gesinnungsfreien Begrifflichkeit der Europäer wieder zu besinnen. Weil der Bunte Haufen ist doch noch immer ein solcher geblieben. Er mauserte sich ganz ordentlich irgendwann zu einem friedliebenden und streitbaren Haufen mit weltoffenem Horizont. Hier gelten die Menschenrechte.

Die Verbindlichkeit der Menschenrechtscharta unterläuft jegliche Art der Abgrenzung, sondern muss dank ihr, die Menschenrechte auch allen zugestehen. Als man die Unterscheidung Christ zugunsten der Menschheit fallen lässt, wird beispielsweise auch der Moslem zu einem Menschen mit lediglich fremdem Glauben und ist nicht länger ein Ungläubiger. Wir müssen sehen, dass seit der Zeit, als die Römer an ihre Grenzen gestoßen sind, alle Grenzen und Unterscheidungen immer zugunsten Europas fallen. Eine dringend anstehende nächst größere Expansionsstufe lautet neuerdings Globalität.

Immer dann, wenn etwas vollendet ist und sich Neues anbahnt, steigen die Fluktuationen im Innern des vermeintlich Vollendeten. Und ehe die Fluktuationen eines offenen Systems zu groß werden und nichts als Chaos droht, war Europa immer so clever, eine neue Organisationsleistung in auf die Bahn zu bringen. Das heißt, dass es nichts weniger, als völlig neue Ordnungsstrukturen hervorbrachte. So formten wir dereinst aus desolaten Reichsstrukturen und Fürstentümern die Nationalstaaten. An solchen Frevel hätte davor niemand gedacht.

Europa ist nicht nur geografisch nicht abzuschotten. Die Metapher von der "Insel der Seeligen" ist allein deshalb nicht allzu wörtlich zu nehmen. Aber auch deshalb nicht, weil es zu viele Menschenleben kostete, bis dass sich eine Streitkultur wie der Parlamentarismus etablieren konnte. Vielleicht wäre es hilfreich Europa historisch als großangelegtes, soziokulturelles Integrationsunternehmen zu begreifen. Das sich jeweils nach jeder Schockwelle in eine größere Dimension schaukelt. Und dabei jedes Mal von neuem plausibel machen muss, dass Grenzen immer wieder nur temporäre Muster darstellen, die niemals für immer gelten können. Dazu gehört es zu akzeptieren, dass immer, wenn wir gerade im Begriff sind, verstehen zu wollen, was wir sind, die Entwicklung uns zu Neuem drängt.

Weil wir eben ganz gute Erfahrungen damit gemacht haben. Weil uns die Vielfalt retrospektiv niemals geschadet hat. Weil es vielleicht evolutionskulturellem Paradigma entspricht, den soziokulturellen Genpool zu erweitern. Das Zusammenraufen haben wir geübt und letztendlich probiert das traditionelle Köpfe-Einschlagen durch rhetorischen Meinungsaustausch zu ersetzen. Das kommt dem "Seelig-Sein" doch schon ziemlich nah.

In diesem Sinne könnte man Heraklits Merksatz, "der Streit ist der Vater aller Dinge" gelten lassen, wenn man Streitkultur als den Kern demokratischer Lebensformen begreift, in der es immer auch darum geht, die Vielfalt zu pflegen und jeder Monokultur den Kampf anzusagen. Auch wenn sich abzeichnet, dass die Probleme der Gegenwart der Demokratie kaum noch Zeit zur Erörterung lassen und allenfalls ein Reagieren provozieren, so dürfen wir uns jederzeit darauf besinnen, dass wir in Europa in Übung sind, zu wissen, dass Positionen aufgegeben und Meinungen geändert werden und Grenzen fallen dürfen.

Eines darf der Bunte Haufen Europa nie vergessen, dass es ihm nur gut geht, weil er sich stets in der Veränderung beweist, nicht Trotz ihrer. Nur das "Herzstück der Demokratie" - wie es Martin Seel formuliert - steht nicht zur Disposition: "Die Bereitschaft die eigenen Positionen (...) zur Disposition zu stellen ...".

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