Der
Papst hat gekündigt, der Dalai Lama hat sein eigenes Amt, als
verzichtbar erklärt und weigert sich einen weiteren Nachfolger
zu benennen. Wohin nur ist der Wille zur Mission? Einzig die Front
der Islamisten gibt sich als bekennende Ideologen, auch wenn man ihnen
nachsagt, nichts weiter, als eine ideologisch getarnte Geheimdienstnachgeburt
zu sein, die der üblichen Kränkung Entmachteter erwachsen
ist. Wo sind die Gurus und ihre Jünger? Wo findet man noch verbindlich
gemeinte Lehrmeinung und eine verpflichtende Weltanschauung? Nur noch
Marginalien unserer Tage! Daher scheint es an der Zeit, einmal über
das zu sprechen, was es nicht (mehr) gibt: Dogmen.
Der jüngst verstorbene Odo Marquard publizierte vom "Abschied
des Prinzipiellen", doch wir sind bis heute nicht richtig froh
darüber geworden. Wir beklagen den Mangel an Visionen von einem
besseren Leben und, dass die landläufige Vorstellung von Glück
nicht hinausreicht über Gesundheit, Familie und ein gepolstertes
Bankguthaben. Noch meinen wir etwas zu entbehren, wenn Regierungen
keine harte Position vertreten und Lehrer keine Werte vermitteln.
Dabei ist es - ganz ohne Ironie - ein Fortschritt ohne Gleichen, wenn
der Gedanke der Unverbindlichkeit endlich Raum gewinnt. Ideale waren
gedanklich unhintergehbare Zustände. Man ordnete ihnen das individuelle
Leben unter, richtete das tägliche Handeln danach aus, und man
sah sich gar nicht in der Lage, das eigene Urteil über andere,
nicht maßgeblich daran auszurichten. Das alles geschah, ohne
sich dessen je bewusst zu werden. Ob unter dem Zeichen eines Folterwerkzeugs
oder den Sitten der Väter, die Leitbilder zur Orientierung und
Bändigung der Einzelnen waren stets weltumfassend und metaformativ.
Sie variierten lediglich in ihrer Art von religiös, über
sittlich, hin zu umweltorientiert und wissensbasiert.
Als
um die vorletzte Jahrhundertwende, ausgelöst von einer Rechtfertigungswelle,
in Fluktuationen geriet, was vormals als nicht anders denkbar galt,
breitete sich nervöse Desorientierung aus, die mit dem Misstrauen
gegenüber vorherrschenden Dogmen einherging. Von da an streichen,
um adäquaten Ersatz bemüht, ein Jahrhundert lang Wellen
von Versuchen und Versuchungen übers Land und durch die Städte,
initiiert von Esoterikern, Gurus und Propagandisten. Bis endlich die
Pop-Revolution als letzter globaler Strandläufer die Moden zum
Verebben zwang. Einmal abgesehen von aktuell verwirrten Restposten
Ideologiesüchtiger, die meinen, die große Schlacht erneut
anzetteln zu können, ist die Gesellschaft dabei, sich halbwegs
in stabile Seitenlage zu begeben, wo sie nicht länger mit Werten
und Ideologien operieren muss, weil sie unaufgeregt am besten funktioniert.
Nämlich, wenn alles mit dem "Als Ob" der Ironie betrachtet
wird.
Der
Suchscheinwerfer der Aufmerksamkeit hat sich zerfasert in ein Strahlenbündel,
das Aufmerksamkeit in homöopathischen Dosen auf ausgesuchte "hot
spots" von allenfalls temporärer Orientierungskraft
portioniert. Allein schon die sinkende Halbwertzeit jeder Aufgeregtheit
lässt vermuten, es ist alles nicht so ernst gemeint. Der Philosoph
Richard Rorty ist die liberale Ironikerin erster Stunde. Er
ruft die Fähigkeit zur Ironie als Grundkompetenz auf dem Weg
zur der Selbstbildung aus. Ohne sie kann Selbstbeschreibung nach ausgehendem
Zeitalter des Rationalismus nicht länger gelingen. Die liberale
Ironikerin verabscheut jedes abschließende Vokabular, jede
Dogmatik, die darauf besteht, Inhaberin der letzten Wahrheit zu sein.
Und wie es aussieht, hat diese Erkenntnis offenbar selbst bei Papst
und Dalai Lama durchgeschlagen. Entgegen Richard Rorty, der glaubt,
"dass Ironie von geringem öffentlichen Nutzen ist"
, kann man da den Eindruck gewinnen, dass es nicht schaden würde,
mehr Ironie im öffentlichen Umgang zu pflegen.
*
Dem steht erst einmal die Beobachtung zunehmenden Mangels an Ironiefähigkeit
unter Jugendlichen entgegen. Als relevanter Spiegel neuartiger Kommunikation
liefert das Internet dafür deutliche Indizien. Hier kann in der
bemühten Kommunikation mit Emoticons - deren Notwendigkeit
allein schon den Verlust der Ironiefähigkeit anzeigt - zwischen
Rage und vorbehaltlosem Hype beim besten Willen nichts mehr zwischen
den Zeilen gelesen werden. Das Netz, in dem sich "Fun"
& "Sex" zwei Drittel der Aufmerksamkeit teilen,
ist ein Hort purer Ironielosigkeit. Es herrscht das einfache Schema
von Liken und Dissen, das ein spontanes Bauchgefühl
abfragt, das es - weit jenseits von liberal - gar nicht mehr nötig
hat, im Urteil zu differenzieren. Aber siehe: Von routinierten Usern
wird die vorherrschende Aggressivität anonymer Äußerungen
in sogenannten sozialen Foren unter Gesichtspunkten der freien
Meinungsäußerung kleingeredet und vorab mit Abschlägen
in der Ernsthaftigkeit bedacht. Nichtsdestotrotz scheinen der Shitstorm
und das anonyme Mobbing, wenn nicht Erfindungen des
Netzes, dann zumindest für das Netz zu sein.
Wer
will sich aufregen darüber, außer die Alten? Die Jungen
sehen es mit überzeugender Indifferenz. Die gleichermaßen
im Umgang mit Verbindlichkeiten wie gegenüber Institutionen irritiert.
Macht einerseits die Hingabe wundern, mit der sie sich in die Obhut
von Schule, Lehrern und Vereinen begeben, die - den Trend erkennend
- nichts unversucht lassen, sich als Pseudo-Familie zu gerieren (Im
optimalen Fall wird das Geborgenheitsgefühl in Studium und Beruf
hinübergerettet. Stichwort: Duales Studium), scheint es andererseits
bei ihrem Klientel mit der Verbindlichkeit gegenüber Mitgliedschaften
nicht weit her. Die von Digital Natives gern genommene All
inclusive-Betreuung steht konträr zu den Emanzipationsanstrengungen
ihrer Väter und Mütter, aber sie funktioniert, weil diese
sie nicht als verbindlich vereinnahmend wahrnehmen, sondern um die
Option, jederzeit jede Beziehung wechseln zu können, sehr genau
wissen. Jobhopping, Partnertausch und Freundschaftsannahmen bestimmen
den Alltag, um alles am Ende des Tages mit einem Schulterzucken hinter
sich zu lassen. Am semantischen Wandel des Begriffs des Freundes,
ließe sich sicherlich die Transformation des Verständnisses
von Beziehungsverträgen exemplarisch nachzeichnen. Aber was ist
das anderes, als ganz und gar verinnerlichte Ironie? In Fleisch und
Blut übergegangene Selbstverständlichkeit eines Lebens ohne
Verbindlichkeiten, wie auch ohne Wahrheiten?!
Lebens-Organisation
und alltägliche Rhythmik werden akzeptiert und genossen. Die
vorverlegten Bahnen in die Karriere vermögen zu lenken, wo einst
Ideale doch nur verführten. Der Trend geht - ohne Ironie - hin
zu bodenständig, karriereorientiert und metaphysikresistent.
Bei
derartigem Vollzug des Lebens ist Ironie nicht weiter von Belang,
weil in einem vollkommen von Dogmen befreiten Leben grundsätzlich
alles von begrenzter Haltbarkeit und selbstverständlicher Einschränkung
ist. Ironie ist ein stumpfes Werkzeug, obsolet und aus einem Zeitalter,
als es noch galt Vokabulare auszuhebeln und ihnen Beliebigkeit nachzuweisen.
Das scheint erledigt! Wenn Ironie die Waffe gegen Dogmatik ist, dann
zieht vollzogene Dogmenfreiheit in vollster Konsequenz Ironielosigkeit
nach sich.
Hat
eine ganze Generation mit der sprichwörtlichen Muttermilch aufgesogen,
was die Alten noch reflektieren mussten? Es ist Privileg der Jungen,
den Blinden Fleck der Alten vorbehaltlos zu benennen. Jedenfalls
offenbart sich so die Logik hinter dem Wesen des öffentlichen
Umgangs der Digital Natives und der Kommunikationsgewohnheiten
des Internet. Auch der Seitenblick auf die begleitende Jugendkultur
von Hip Hop und Gangster Rap lässt erkennen: Ironiefreiheit gehört
zum Geschäft! Wer mit rüder Plattheit aufwartet, tut das,
weil die Attitüde pure Inszenierung ist. Authentizität gilt
nur noch etwas für Dogmatiker. - Alles nicht so ernst gemeint,
chill ´mal, Alter!
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